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«Wie eine lebendige Urkunde» – Fragestellung

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Ungefähr im Jahr 1895 ereilte den Wirt und Politiker Karl Bürkli am Ägerisee eine Offenbarung. Mehrmals war Bürkli an diesen Ort gereist, ein Pilger mit sozialistischer Gesinnung auf den Spuren der Alten Eidgenossen. An der Schlacht am Morgarten begeisterte den damals 72-jährigen Bürkli die Vorstellung von demokratisch gesinnten Urschweizern und von Verbannten, die dank ihrem entscheidenden Einsatz Gnade erlangen. Doch die Schlachtberichte hatten nicht hergegeben, was er nun im Terrain, einen Doppelmeter in der Hand, in «voller Klarheit» vor sich sah: das Bild der Schlacht – und den einzig richtigen Standort für ein Denkmal. So sehr man die Erkenntnisse aus Bürklis Offenbarung anzweifeln kann, ihr Mittel erfreut sich bis heute ungebrochener Zustimmung: Der Besuch von historischen Orten als huldigende Pilgerfahrt, als kritische Untersuchung vor Ort, als wissenschaftliches Argument und als touristischer Ausflug. «Wie eine lebendige Urkunde», hält Bürkli fest, so könne man aus dem Terrain die Geschichte lesen und die Schlacht sehen.2

Die Schlacht am Morgarten von 1315 hat in der nationalen Geschichtsschreibung und Geschichtskultur der Schweiz eine wichtige Rolle gespielt. Das Reise- und Ausflugsziel «Schlachtfeld» war bis weit ins 20. Jahrhundert hinein stark national und militärisch aufgeladen. Für die Feierlichkeiten zum 700. Jahrestag der Schlacht am Morgarten im Jahr 2015 wurde die Region, die bereits seit über 200 Jahren als Schlachtfeld von Morgarten besucht wurde, mit neuen Besucherangeboten ausgestattet. Welche Motive haben das Schlachtbild geprägt und wie haben sie sich verändert? Wie wurde die Schlacht am Morgarten im 19. und 20. Jahrhundert vor Ort präsentiert und gebraucht? Welche Angebote wurden für Touristen gemacht oder von Touristen genutzt?

In diesem Buch geht es um die Geschichte eines historischen Orts. Bezeichnungen für Orte, an denen historisch bedeutsame Ereignisse stattgefunden oder an denen solcher Ereignisse gedacht wird, waren und sind vielfältig. In der Tourismuswerbung sind gegenwärtig Begriffe wie «Schauplatz der Geschichte», die das visuelle Erlebnis ansprechen, verbreitet. Der Begriff «Schauplatz» ruft ebenso wie der Begriff «Stätte» eine bedeutungsvolle Ereignisgeschichte hervor. Geschichtsdidaktiker wählen hingegen oft die Bezeichnung «historischer Ort», weil diese geografisch weiter gefasst ist als «historische Stätte». Der Begriff «Stätte» wiederum lädt den Ort mit einer sakralen Verehrung auf.3

Das Historische an einem «historischen Ort» ist nicht auf ein Ereignis begrenzt, sondern schliesst auch die Inszenierung von Geschichte an diesem Ort ein.4 Die Bezeichnung «historisch» ist eine Zuschreibung und weist auf einen Geschichtsgebrauch hin, der sich auf den Ort bezieht oder an diesem stattfindet. Wie, von wem und mit welchen Inhalten wurden historische Orte in der Vergangenheit und in der Gegenwart ausgestattet?

Es geht hier auch um das Verhältnis zwischen Tourismus und Geschichte. In einem weit gefassten Verständnis ist Tourismus ein kulturelles Phänomen und eine Dienstleistungsindustrie, die im Kontext ihrer Zeit steht. Der Besuch von historischen Orten kann als eine Form von Tourismus verstanden werden. Die Begriffe «Tourismus» und «Touristen» werden in diesem Buch nicht wertend, sondern beschreibend genutzt. Dienstleistungsangebote, die für Touristen hergestellt werden, werden unter die Lupe genommen: Von Transportmitteln und Unterkünften über Postkarten, Reiseführer, Souvenirs und Erinnerungsbilder bis hin zu Veranstaltungen. Der Tourismus wird hier also über seine Angebote wie auch über seine Praktiken untersucht.

Wer sind Touristen? Die Touristin oder der Tourist sind Rollen, in die man schlüpfen kann.5 Personen schlüpfen in die Rolle von Touristen, indem sie sich in ihrer Freizeit an einen Ort begeben, wobei ihre Nachfrage oder ihr potentielles Interesse bewirkt, dass Akteure eine Infrastruktur für sie aufbauen. Bereits die Möglichkeit, dass Touristen einen Ort besuchen könnten, beeinflusst dessen Gestaltung und Darstellung. Felix Girke und Eva-Maria Knoll nennen dies den «touristischen Schatten»: «Auch wo noch keine Touristen sind, denkt man an sie.»6 Ein imaginatives Einbeziehen von möglicher touristischer Vermarktung sei demnach omnipräsent und wirke auch transformativ nach innen, auf die Wahrnehmung der Akteure.7

In diesem Buch wird Tourismus als Imaginationsraum betrachtet, für den die Geschichte zentrale Inhalte bereitstellt und in welchem mit modernen Mitteln vormoderne Geschichte dargestellt wird. Mit der Einheit des Orts stellen Gestalter und Besucher ein besonderes räumliches Dispositiv her, um Geschichte zu evozieren und zu repräsentieren.

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