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Wie man sein «eigenes» Land richtig bereist

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1796 hielt Bridel vor den versammelten Mitgliedern der Helvetischen Gesellschaft in Aarau den Vortrag «Versuch über die Art und Weise, wie Schweizerjünglinge ihr Vaterland bereisen sollten».89 Bridel empfiehlt darin, die Schweizerreise nicht vor dem 16. Lebensjahr zu machen, weil ein ausgiebiges Studium der Geografie, Geschichte und der politischen Lage für die Reise notwendig sei. Die Methode Conrad Gessners, jedes Jahr einen Monat lang einen Teil der Schweiz zu erkunden, halte er für das Beste, aber im Rahmen des Möglichen sei eine Reise von sechs bis acht Wochen im Sommer zu empfehlen. Das Ziel sei es, «nüzlichere Männer für das liebe, gemeinschaftliche Vaterland zu bilden».90 Zuerst sollen die jungen Schweizer «die grossen Natur-Erscheinungen» besuchen: die Alpen, Gletscher, Wasserfälle und Bergseen, am besten einen Aussichtsgipfel, bei Sonnenaufgang und bei Gewittern, um auch, in Bridels Worten, «Schauderhaftes» zu sehen.

Nach den «Natur-Scenen» solle der junge Schweizer die Orte der «grossen Begebenheiten» aufsuchen: Inschriften, Ruinen der Römer und die Schlachtfelder – Bridel zählt den gängigen Kanon auf: Morgarten an der Spitze – dann Rütli, Brunnen und Melchtal, «in dieser schönen Schule der verflossenen Zeiten, muss er nothwendig zum bessern Bürger gebildet werden».91 Auch die Orte «physischer und moralischer Unglüksfälle» sollen Ziel der Schweizerreise sein: Plurs im Bergell, das 1618 von einem Bergsturz verschüttet worden war, sowie die Orte der Bürgerkriege – Bridel denkt vermutlich an Villmergen und Kappel, nennt aber keine Schlachtnamen. Die dritte Gruppe Sehenswürdigkeiten seien Werke wie Strassen, Brücken, Kanäle, Mühlen, Bäder oder Dämme.92 Viertens solle man die «grossen Männer» der Schweiz besuchen; ein Verzeichnis derselben sei zu weitläufig und beleidige die Bescheidenheit derselben, zieht sich Bridel aus der Affäre.93 Fünftens folgt der angeblich wichtigste Punkt, nämlich die Tätigkeiten der Menschen zu beobachten: die Landwirtschaft, die Manufakturen, die Spitäler und Schulen, die Zeughäuser und Naturalienkabinette, die grossen Bibliotheken, die topografischen Pläne der Schweiz, die «Sitten der Bergbewohner», deren edle Einfachheit Bridel in all seinen Reiseberichten lobte.94 Nachdem der junge Schweizer diese Reiseziele betrachtet habe, dürfe er sich Gedanken über die Politik machen, über unterschiedliche Regierungsformen innerhalb der Schweiz, und werde dabei zur Überzeugung gelangen, dass die beste Regierungsform die bestehende, republikanisch-föderalistische sei.95 Schliesslich solle der junge Reisende noch eine Landsgemeinde, eine Musterung des Militärs und eine Versammlung der Helvetischen Gesellschaft besuchen.

Vor den historischen Stätten sollen junge Schweizer also die «Natur-Scenen» besuchen, gemeint sind vor allem die Alpen. Obwohl Gelehrte aus Zürich und Bern dieses Alpenbild entwarfen und die Eidgenossenschaft des 18. Jahrhunderts von städtischen Regierungen geprägt war, übernimmt Bridel diese Selbstdarstellung einer bäuerlich-alpinen Schweiz, die er in zeitgenössischen Begriffen als «Alpenhirtenland» und «Ideallandschaft» bezeichnet.96 Der Ortsbesuch solle – so das Versprechen – neue Erkenntnisse qua Gefühl und Bildung ermöglichen. An den historischen Orten solle ein «animus loci» den Besucher erfüllen.97 Der frühe Tourismus zu Beginn des 19. Jahrhunderts war auch ein nationalpädagogisches Projekt.

Bridels Idee einer Gebrauchsanweisung, wie junge Schweizer ihr Vaterland bereisen sollten, war nicht neu. Die Helvetische Gesellschaft hatte 30 Jahre zuvor, 1767/68, bereits einmal über den Vorschlag gesprochen, Schweizerreisen zu unterstützen oder sogar mit Söhnen der Mitglieder einen Austausch zu organisieren. Das Geschäft war aber verschoben worden, und zwei Jahre später liess man es bei der Empfehlung bewenden.98 1773 fand dann doch noch eine Reise statt: Der junge Geistliche Hans Rudolf Schinz reiste mit sieben jungen Männern aus Zürich und zwei Bediensteten während zweieinhalb Monaten durch die Schweiz.99

Der Zürcher Pfarrer Johann Caspar Lavater druckte 1775 in seiner Reihe patriotischer Schweizerlieder das Abschiedsliede an einen Schweizer, der auf Reisen geht.100 Im Vorbericht zu diesem Lied schreibt Lavater warnend, dass die wohlhabenden jungen Schweizer nur in Frankreich und Deutschland herumreisen würden, «um Geld zu verthun», weil ihresgleichen dasselbe getan hätten. Diese Reisen seien eine Quelle des Verderbens und er bitte alle Schweizerjünglinge, ihren Kameraden vor der Abreise sein Lied vorzusingen.101 Dieses ruft dazu auf, im «Schweizeralpenland» zu reisen, «wie man reisen soll»:

«Schau die Natur mit Ehrfurcht an;

Steh still im Feld der Schlacht;

was Deine Väter da gethan,

Das, Bruder, das betracht!»102

Lavater lehnte sich mit der Zeile «Steh still im Feld der Schlacht» an die erste Zeile eines Gedichts von Albrecht Haller an, welches dieser 1755 im Auftrag der Berner Regierung für eine Inschrift am Beinhaus von Murten verfasst hatte. Hallers Gedicht leitet die Besucher, auch weithergereiste Besucher, an: «Steh still, Helvetier! hier liegt das kühne Heer / […]»103 Ein Hinweisschild am historischen Ort, für Reisende angebracht, wurde als Vorlage für ein patriotisches Lied genutzt.

Ein Jahr nach Erscheinen von Lavaters Abschiedsliede reichten Zürcher Mitglieder in der Helvetischen Gesellschaft einen Antrag ein, mit welchem sie «das Reisen junger Eidgenossen, innert den Gränzen unsers Vaterlands» anpriesen.104 Eine «Tour de Suisse» durch eine historische Landschaft wird abgesteckt.105 Leonhard Meister schreibt 1782, dass «bey den Zürchern und Bernern […] kleine einheimische Wallfahrten nicht ungewohnte Erholung» seien.106 Bridels Rede von 1796 systematisierte und lobte, was ein grosser Teil der Zuhörer bereits seit längerem kannte: vaterländische Bildungsreisen.

Die Vorstellung, dass patriotische Gefühle und Naturwahrnehmung in einer Bildungsreise zusammenwirken, ist keine schweizerische Eigenheit, wie das Beispiel Schweden zeigt. Den patriotischen Imperativ «Know Your Country» hat der Ethnologe Orvar Löfgren anhand von Quellen aus dem 19. und 20. Jahrhundert für Schweden beschrieben.107 Schwedische Vertreter eines inländischen Tourismus zu patriotischen Zwecken propagierten eine starke Verbindung zwischen Naturtourismus und nationaler Selbstdarstellung. Wandern galt als patriotische Tätigkeit, während der man in der Landschaft sozusagen automatisch die eigene Nation persönlich erfahre und lieben lerne: «[…] the feeling that in certain landscapes the citizien was in communion not only with nature but with the spirit of the nation itself.»108 Nationale Landschaften und Sehenswürdigkeiten könnten am besten von Bürgern des jeweiligen Landes wahrgenommen werden, die dabei das Land und sich selbst kennenlernten, so Löfgren. Know your Country, know yourself, habe das Versprechen der Werbung gelautet.

Aber die Propagierung der Fussreisen erfolgte nicht nur aus patriotischen Gründen. Der Kulturhistoriker Wilhelm Heinrich Riehl verglich 1869 die Notwendigkeit von «Wanderstudien» mit den «Archivstudien» des modernen Historikers.109 In den Wanderstudien und den Schweizerreisen war die aufklärerische und kritische Vorstellung vom Selberdenken enthalten – in den Worten Riehls: «auf eigenen Füssen gehen, um mit eigenen Augen zu sehen, mit eigenen Ohren zu hören».110 Mit den Fussreisen wurden nicht nur Vorstellungen vom Verschmelzen mit der Nation, sondern auch von selbständigem Denken verbunden.

Auch Reisen im Ausland wurde manchmal zugeschrieben, dass sie patriotische Gefühle weckten. Engländer, die im 18. Jahrhundert auf einer Grand Tour den Kontinent bereisten, schrieben, sie seien als «better Englishman» zurückgekehrt – was immer sie damit gemeint haben mögen.111 Ebenso liest man von Reisenden, die patriotische Gefühle im Angesicht einer nicht-eigenen Geschichte verspürt hätten. So findet sich die Vorstellung, dass die mittelalterliche Geschichte am Morgarten und dessen Landschaft gefühlt werden könne, auch in Reiseberichten von Personen, welche die Schlacht am Morgarten nicht als Teil einer patriotischen Herkunftsgeschichte lesen konnten.

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