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Reiseschriftsteller
ОглавлениеWas in Reiseberichten über die Orte, Landschaften und deren Bewohner geschrieben wird, sagt viel über das Selbstverständnis des jeweiligen Autors und seiner Adressaten aus, im Falle Meiners jenes eines vornehmen Gelehrten. Der Literaturwissenschaftler James Buzard charakterisiert die schreibenden Touristen als eine Art Antitouristen – Touristen, die sich nicht als solche verstehen und sich von den anderen Touristen abheben wollen, indem sie unterwegs schreiben.51 Schreibende Touristen sind von der bereits existierenden Reiseliteratur geprägt, sie sind sich der kulturellen Vorstellungen bewusst, was als sehenswürdig gilt, wie es beschrieben wurde und von ihren Lesern sogleich wiedererkannt wird – sie wissen, was ihrer Leserschaft bekannt ist und was sie vom Autor erwartet.52 Zugleich betonen sie jeweils ihre eigene, von bisherigen Reiseberichten abweichende Sicht und praktizieren somit eine Geste der Selbstausnahme, auch wenn sie bekannten Reiserouten folgen. Buzard nennt diese Schreibhaltung ein rollendistanzierendes Handeln: Die Autoren versuchen, sich aus ihrer Rolle als Touristen und deren Konventionen zu heben oder sogar in eine vermeintlich direkte Beziehung zum beschriebenen Ort zu treten. Das war nicht bloss Werbung für den eigenen Reisebericht, sondern stellte laut Buzard eine Auflehnung gegen die Vorstellung dar, dass der Einzelne von der Kultur bestimmt sein soll – ein Plädoyer für individuelles Erleben.53
Die Literaturwissenschaft beschreibt Reiseberichte als heterogene, gemischte Textform, die vor allem zwischen den zwei Feldern der Autobiografie und der Wissenschaft oszilliere.54 Reiseberichte würden sich stilistisch aber auch bei Memoiren, Journalismus, Briefen, Reiseführern, Bekenntnisschriften und vor allem bei der Literatur bedienen.55 Das Erlebnis der Reise, die Fremderfahrung, werde in einem Schreibprozess geordnet, reflektiert, repräsentiert, übersetzt und umgewandelt.56
Mit zunehmender Zahl bildeten die Reiseberichte ein eigenes Referenzsystem, in welches sich spätere Reisende im Vorfeld ihrer Reisen einlasen.57 In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde es in England und Deutschland Mode, einen Reisebericht zu veröffentlichen. Charles Dickens spottete 1846 in seinem eigenen Italienbericht, dass es wahrscheinlich kein berühmtes Bild und keine Statue in ganz Italien gäbe, die man nicht unter einem Berg von gedrucktem Papier begraben könne, das sich seiner wissenschaftlichen Beschreibung widme.58 Mit einer ähnlichen Pointe machte sich Gottlob Heinrich Heinse 1810 lustig, dass sich mit den Reisebeschreibungen der Schweiz «vielleicht der Rhein dämmen liesse».59 Auch die Reiseberichte über die Schweiz vervielfältigten sich Ende des 18. Jahrhunderts. Einige von ihnen waren aufwändig erstellte Texte, andere schnell zusammengestellte Collagen aus älteren Berichten.60 Als Illustrationen wurden bereits existierende oder eigens angefertigte Landschaftsstiche, Karten oder auch Porträts eingefügt. Aber die Reiseberichte waren nicht nur aufgrund ihrer puren Anzahl eindrücklich. Ihre Inhalte wirkten auf die Vorstellungen ihrer grossen Leserschaft ein – auch auf deren Geschichtsbilder.