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Prolog: Ortstermine Morgarten, 2015

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24. Januar 2015. Das Gedenkjahr zum 700-sten Jahrestag der Schlacht am Morgarten wird mit einer Fachtagung des Historischen Vereins der Zentralschweiz in Goldau eröffnet. Der Saal ist bis auf den letzten Platz besetzt – ungefähr 250 Personen hören den Aufruf des Eröffnungsredners, sich vor vermeintlichen Wahrheiten über Morgarten zu hüten. Aus Zeitgründen können keine Fragen gestellt werden. Ich überlege mir, was in den Köpfen des Publikums vor sich geht. Der ältere Herr neben mir mustert mich misstrauisch: «Sind Sie von der Presse?»

18. Juni 2015. Die Boulevardzeitung Blick erscheint mit einem grossen Aufmacher: «Die Schlacht am Morgarten ist bewiesen». Sondengänger hätten bereits im Frühjahr im Auftrag der Kantone Schwyz und Zug im Gebiet Schornen mit Metalldetektoren nach Überbleibseln der Schlacht am Morgarten gesucht und dabei zwei Dolche und zwei Pfeilspitzen gefunden, die aus der Zeit um 1315 stammen. Der Blick präsentiert die Funde als «Sensation». Ein Online-Kommentar zum Artikel klagt, Historiker seien elitäre «Nestbeschmutzer», die die Archäologie vernachlässigen würden – 1383 Likes.

19. Juni 2015. Die ehrenamtliche Helferin am «Volksfest für alle», bei der ich mein Eintrittsticket bezahle, trägt ein weisses Hirtenhemd, bestickt mit dem Festlogo und mit Sponsorenschriftzügen. 50 000 Personen besuchen an diesem regnerisch-kühlen Wochenende das dreitägige Volksfest im Ägerital. Ein Mittelaltermarkt bietet Handwerkskunst, Bogenschiessen, Geissen und Met-Ausschank. Am Eingang zum Festgelände stecken Holzhellebarden im Gras, von Schülern farbig bemalt. Darüber donnern F/A-18 Kampfflugzeuge in Schauformation. Die Armee ist auch zu Boden präsent: Im Ausstellungszelt der Armee, wo diese ihre Berufe und Lehrstellen vorstellt, klettern Kinder auf Panzern herum. In der Mitte des Festgeländes sind grosse Holzfiguren dreier bärtiger Männer aufgestellt. Diese «Helden von Morgarten» seien, wie ein Schild zu ihren Füssen verkündet, an den Meistbietenden zu verkaufen.

19. Juni 2015, nachmittags. Im Weiler Schornen wird das «älteste Holzhaus Europas», 2001 in Schwyz abgerissen, als Zeuge des 14. Jahrhunderts neu aufgebaut. Es ermögliche, ins Mittelalter einzutauchen, lese ich auf der Schautafel. Machen das «Schwyzerhaus» und das neue «Informationszentrum Morgarten» das Schlachtgelände, das bisher ohne materielle Überreste auskommen musste, zum Original-Schauplatz, auf dem sie sozusagen die «Möblierung» darstellen?


Abb. 1: Das Gedenkjahr erhöht die Nachfrage nach Überresten und nach wissenschaftlichen Untersuchungen. Die Fotografie zeigt eine Auswahl aus den Fundstücken, die 2015 im Gebiet Schornen archäologisch ausgegraben und dem Mittelalter zugeordnet wurden (von links oben): ein Kästchenbeschlag mit Rosette, zwölf Silberpfennige aus dem 13. Jahrhundert, der Radsporn eines Reiters, zwei Pfeilspitzen, ein Ortband, zwei Dolche, ein Messer, eine Gürtelschnalle und ein Mondsichelhufeisen.1


Abb. 2: Einer der drei «Helden von Morgarten» aus Holz, die am Volksfest im Juni 2015 in der Mitte des Festgeländes in Oberägeri standen.


Abb. 3: Mit Hellebarde, Hirtenhemd und ernster Miene vor der Kulisse des Ägerisees – der «Festführer» zum Volksfest vom Juni 2015.

20. Juni 2015. Am Informationsstand des Volksfests liegt der Festführer zum Mitnehmen auf, eine umfangreiche Broschüre mit grossem Inseratenteil. Die Fotografie auf der Titelseite zeigt einen ernst blickenden Mann mittleren Alters, der beim Ägerital, etwas oberhalb der Ortschaft Morgarten, steht. Er trägt ein weisses Hirtenhemd und hält eine über die Schulter gelegte Hellebarde. Im Hintergrund färbt ein leichtes Abendrot graue Wolken ein. In der Broschüre erläutern Politiker die «Besinnung auf unsere Schweizer Wurzeln» (ein Bundesrat), «Geschichte zum Erleben» (zwei Regierungsräte) oder das «historische Ereignis» (ein Gemeindepräsident), und es wird ein «Zusammenstehen und Zusammenhalten» beschworen (ein zweiter Gemeindepräsident). Wir könnten aus unserer Geschichte lernen, heisst es weiter, nämlich wer wir seien und wie wir unsere Zukunft zu gestalten hätten.

21. Juni 2015. Während ich am Dorfrand von Oberägeri bei kühlem Wetter den Umzug anschaue, von dem mir vor allem die alten Traktoren in Erinnerung bleiben werden, geht mir die Aussage des Historikers Bruno Meier durch den Kopf. Meier weist in der NZZ am Sonntag vom 21. Juni 2015 auf eine Ambivalenz beim neu gebauten Morgarten (im Weiler Schornen) hin. Zwar würde die neue Besucherinfrastruktur den neusten Forschungsstand vermitteln, und beim neuen Ensemble seien auch nicht, wie beim Rütli und der Hohlen Gasse, patriotische Aufwallungen gestaltgebend. Morgarten werde aber eher nach touristischen Gesichtspunkten aufgerüstet, so Meier, und die neugebaute Landschaft zementiere damit die traditionellen Vorstellungen. Stimmt es, dass das neue Ensemble Geschichtsbilder bestätigt, obwohl das Informationszentrum diese in Frage stellt? Und wie verändert die touristische im Gegensatz zu einer patriotisch-politischen Ausrichtung die Gestaltung der Denkmaltopografie Morgarten?

15. November 2015. Bei obligat kühl-regnerischem Novemberwetter findet der Schlachtfeiertag mit den üblichen Festelementen statt: einem Marsch von Sattel zur Schlachtkapelle, einem Gottesdienst in der Schornen – es spricht der Armeechef – und dem «Morgartenschiessen» beim Denkmal. Auf dem Umzug zwischen Sattel und Schornen spricht mich ein Herr mittleren Alters an: «Sind Sie von der Presse?» Ich falle als Frau ohne Begleitung an Morgartenanlässen auf. Wir spazieren nebeneinander zur Schlachtkapelle und unterhalten uns über neue Bücher zur Schweizer Geschichte.

Januar 2016. Die Archäologen des Kantons Zug veröffentlichen ihren Forschungsbericht über die Fundstücke. Sie ordnen die Funde als aufschlussreich, aber ohne zwingenden Zusammenhang mit der Schlacht ein. Die Medien berichten in kleinen Artikeln. Das Gedenkjahr ist vorbei.

Wahrscheinlich wird man nie belegen können, wo genau die Schlacht am Morgarten stattgefunden hat. Den historischen Ort Morgarten gibt es dennoch. Es gibt sogar mehrere historische Orte Morgarten. Sie werden von vielen Akteuren gestaltet, verändert und werden gerade auf diese Weise zu echten historischen Orten – indem sie genutzt, abgebildet und Teil von persönlichen Erlebnissen werden.

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