Читать книгу Das Salzfass - Simon Sailer - Страница 5

Оглавление

Grüß Sie, der Herr. Sehen Sie sich ruhig um, lassen Sie sich Zeit.

Er hat es schon im Blick. Schlendert drauflos, beiläufig. Nicht schlecht, es sieht fast echt aus. Aber er will es, er hat mich gegrüßt, er will, dass ich ihm folge. Von selbst kauft er es nicht. Er will überredet werden, ich soll ihm das Fässchen schmackhaft machen. Ein schönes Stück, nicht? Wissen Sie, was das ist? Es ist ein Salzfass. Englisches Silber, Kobaltglas. Da haben Sie den laufenden Löwen, aber den haben Sie sicher schon gesehen. Der Glaseinsatz ist original, das ist selten, oft fehlt er oder wurde ersetzt. Das Schlichte gefällt Ihnen? Oft sind zu viele Ornamente, das stimmt, eine schöne Qualitätsarbeit. 1916, das erkennen Sie an dem Q. Was stellen Sie sich denn vor? Fünfzig? Da werden wir uns nicht einigen. Der Silberwert ist in diesem Fall nicht entscheidend. Das Wichtigste habe ich Ihnen noch gar nicht gesagt: Zu dem Fass gibt es eine Geschichte. Sehen Sie diesen weißlichen Rückstand? Das ist kein Salz, auch kein Schaden. Das ist etwas ganz anderes. Dieses Stück hat für mich sentimentalen Wert. Es war als einziges schon hier, als ich das Geschäft übernommen habe. Händlerin bin ich schon seit über dreißig Jahren, aber das ist mein erster eigener Laden, ich habe ihn erst seit letztem Herbst. Der vorherige Besitzer ist verschwunden, untergetaucht, hat man mir gesagt. War einfach weg, von einem Tag zum anderen. Der war selber ein Händler. Maurice Demel hieß er. Wie die Konditorei, hat aber mit der Konditorei nichts zu tun. Sein Vater handelte auch mit Antiquitäten, von ihm hat er den Betrieb übernommen. Ein junger hübscher Bursche war dieser Maurice. Da oben das Bild, das ist er. Wie er das Haar trägt, daran erkennt man, dass er Wert auf sein Äußeres gelegt hat. Wie Seide glänzt das, nicht? Da haben Sie recht, vielleicht etwas vom Maler geschönt, das mag sein. Hübsch muss er trotzdem gewesen sein. Jedenfalls war hier alles leer geräumt, das Lager leer, der Geschäftsraum ganz leer. Ich habe hier alles selbst eingebaut, die Theke, die Vitrinen, die Regale. Nur dieses Salzfass war hier. Mitten im Lager stand es. Nicht einmal versteckt, ganz so, als hätte er es noch mitnehmen wollen. Natürlich hätte jemand wie er so ein Stück nicht einfach stehen lassen, aber es hat eben so gewirkt. So verloren. Einsam stand es im Raum, man hatte beinahe Mitleid mit dem Ding. Jetzt ist es ja bei mir. Insofern ist es aber eben mein erstes Stück. Erst seit dieser Woche habe ich es über mich gebracht, es in den Verkaufsraum zu stellen, sonst wäre es längst verkauft, versteht sich. So ein besonderes Stück. Ich bekomme auch ständig Angebote, aber Sie begreifen sicher, dass ich daran hänge und es nicht einfach dem Erstbesten für den üblichen Preis gebe. Sicher, als Händlerin darf ich nicht an den Dingen hängen. Es ist auch wirklich eine Ausnahme, und schließlich habe ich mich ja dazu durchgerungen, es zu verkaufen. Trotzdem werden Sie mir preislich noch einiges entgegenkommen müssen, fürchte ich.

Verstehe. Nein wirklich, das verstehe ich: Der ideelle Wert, den das Stück für mich hat, erhöht nicht den, den es für Sie hat. Ich finde aber schon, dass es etwas anderes ist. Stellen Sie sich einmal vor, ich hätte das Salzfass auf E-Bay ersteigert, und es wäre vor einer Woche aus England angekommen. Sagen wir aus Chester, weil das Silber von dort stammt. Natürlich hätte es dann auch eine Geschichte, aber die würden Sie nicht kennen. Sie würden sie auch nie erfahren. Und wenn Sie dann jemand auf das Salzfass anspricht, dann könnten Sie nur sagen: aus England. Das macht doch einen Unterschied, auch für Sie, finden Sie nicht?

Vielleicht muss ich Ihnen noch ein bisschen mehr verraten, damit Sie einsehen, womit Sie es zu tun haben. Die Geschichte endet selbstverständlich nicht damit, dass ich das Fass unter mysteriösen Umständen finde. Das war sozusagen nur der Funke, der die Lunte in Brand gesetzt hat. Wir Händler sind neugierige Leute, wir wollen die Dinge kennen. Verstehen Sie? Nicht nur wissen, was es ist, woraus es gemacht ist, wie es gemacht ist. Wir wollen wissen, was die Dinge erlebt haben. Die Biografie der Dinge wollen wir kennen, wie die eines Menschen. Den Charakter der Dinge verstehen, darum geht es. Ich habe einen Knopf, ein unscheinbares Ding aus dunkler Buche. Der hat etwas erlebt, das können Sie sich nicht vorstellen. Ein widerspenstiges Kerlchen ist der. Ursprünglich gehörte er zu einem Mantel Hugo von Hofmannsthals, aber der wollte ihn nicht mehr, weil er immer abfiel. Zuerst hat er ihn natürlich annähen lassen. Doch der Knopf ist einfach wieder ab, und Hofmannsthal ließ ihn noch mal annähen. Viele Male ging das so, jedes Mal brachte Hofmannsthal den Mantel zur selben Schneiderin. Das weiß ich, weil alles Spuren hinterlässt: Ich habe die Rechnungen, habe ein altes Foto von dem Mantel. Alles ist fein säuberlich dokumentiert. Eines Tages reichte es dem alten Hugo und er wollte einen neuen Knopf. Die Schneiderin versicherte ihm, mit dem Knopf sei alles in Ordnung, wahrscheinlich sei der Mantel verschnitten, sie könne ihn gerne ändern und so weiter. Aber Hofmannsthal schwor, es liege am Knopf selbst und trug ihr auf, den Knopf zu ersetzen und den alten zu verbrennen. Verbrennen hat er gesagt. Woher ich das weiß? Wie gesagt, alles hinterlässt Spuren. Wenn Sie wollen, zeige ich es Ihnen nachher. Es gibt Briefe, nicht gerade über dieses Gespräch, aber Sie können mir ruhig glauben. Jedenfalls tauschte die Schneiderin den Knopf, aber sie verbrannte ihn nicht, sie bewahrte ihn in einer Holzschatulle auf, zusammen mit den Rechnungen und mit einer Fotografie von Hofmannsthal in dem Mantel. Die hat gewusst, was sie da hat. Ein paar Jahre später starb Hofmannsthal, der ist ja nicht so alt geworden, keine sechzig. Und die Schneiderin verkaufte den Knopf an einen Sammler, zusammen mit der ganzen Dokumentation. An dem Knopf hat sie natürlich mehr verdient als an all den Reparaturen zusammen. Das hat sie schlau angestellt. Bei dem Sammler wollte der Knopf allerdings auch nicht bleiben. Vielleicht, weil er so unscheinbar ist. Die Unscheinbaren wollen immer viel. Er ist ja nicht verziert, überhaupt sieht er nach nichts aus. Vier Löcher, rund, wie ein Knopf eben. Etwas gewölbt ist er, so wie viele Knöpfe, damit sie nicht durchrutschen. Dieser Sammler war übrigens nicht irgendwer, der war auch ein Künstler, ein Musiker. Sie wissen es schon: Richard Strauß. Der ist nämlich alt geworden, über achtzig. Wie Sie sich auskennen! Jetzt hatte der Knopf schon zwei Menschen überlebt, aber für ihn war das gewissermaßen erst die Jugend. Sein Leben hatte gerade erst begonnen und auch heute ist er doch eigentlich noch jung. Zumindest der Möglichkeit nach. So ein Knopf stirbt ja nicht. Er kann schon, aber er muss lange nicht. Eventuell geht er verloren, wird bei einem Brand zerstört oder er schimmelt, durch falsche Lagerung. Aber womöglich gibt es ihn noch in tausend Jahren, man kann es nicht wissen.

Ich sehe schon, ich habe mich ein bisschen verstiegen. Weil mir der Knopf eben sympathisch ist, er ist wie ein Freund, ein guter Kerl ist er. Sie verstehen jetzt, was ich mit Charakter meine. Aus dem Leben des Knopfes könnte ich Ihnen noch einiges erzählen. Das Salzfass ist freilich ein anderer Typus. Das Salzfass ist schweigsam und ernst. Man sieht schon an der Weise, wie ich in den Besitz des Fasses gelangt bin, dass es ein Einzelgänger ist. Das hat mich natürlich besonders neugierig gemacht. Ich habe mich gleich gefragt: Wie ist es so geworden? Ein Salzfass ist ja zunächst ein geselliger Gegenstand. Eindeutig, schon der Funktion nach. Es steht am Tisch, dort wo gegessen wird, getrunken und gelacht. Dieses hier war sogar Teil eines Sets. Das kommt recht häufig vor. Aber ich habe es allein gefunden. Was mit seinem Bruder passiert ist? Leider, das muss ich Ihnen gleich sagen, habe ich auf diese Fragen keine Antworten finden können. Noch nicht. Es ist nicht nur einsam, sondern auch verschlossen. Wie meinen? Ja, das geht oft Hand in Hand, Sie sagen es. Jedenfalls, wenn ich auch nicht weiß, warum das Salzfass geworden ist, wie es nun einmal ist, kann ich Ihnen versichern, dass ich zum Zeitpunkt meiner Geschäftsübernahme das Ausmaß seiner Unduldsamkeit gegen jede Konkurrenz, seiner Kompromisslosigkeit und seiner Standhaftigkeit noch nicht einmal annähernd richtig eingeschätzt hatte. Noch hielt ich es für einen Eigenbrötler. Wissen Sie? Für einen alten Mann: griesgrämig, doch im Grunde gutmütig. Nur ist dieses Salzfass eher ein Genie, ein altes Genie, göttlich in der Kunst und im Leben unerträglich. Ein Klischee? Wenn Sie meinen. Ich beschreibe es nur so, wie es mir gegeben ist. Ich bin kein Hofmannsthal. Sie wissen doch, was ich meine. Nicht? Dann lassen Sie es mich anders versuchen. Sie haben Zeit? Nicht ewig? Dann komme ich gleich zur Sache. Sonst hätte ich Ihnen noch vom Vater von Maurice erzählt: August Demel. Es genügt, wenn Sie wissen, dass er ein Händler war, der zu früh gestorben ist. Seinem Sohn hat er bereits im Knabenalter alles beigebracht, was er über Antiquitätenhandel wusste. Er hat ihn auf die Märkte mitgenommen, auf die Auktionen im Dorotheum und sogar in die perserverlegten Wohnungen des Wiener Bürgertums, die noch der Leichengeruch der kürzlich darin Verstorbenen durchwehte.

Das Salzfass

Подняться наверх