Читать книгу Hexenglut. Historischer Kriminalroman. - Simone Dorra - Страница 6

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Was sollt ich machen, wenn im Schlaf mit Grämen

Und blutig, bleich und blass,

Die Geister der Erschlagnen zu mir kämen,

Und vor mir weinten, was?

(Kriegslied, Matthias Claudius)

Todesangst

Vinzenz Stöcklin rannte um sein Leben.

Der Waldboden unter seinen Füßen war tückisch uneben, er war schon mehrmals gestürzt, und jedes Mal war es ihm schwerer gefallen, sich wieder aufzurappeln. Das Pelzfutter seines teuren Wollmantels war längst zerrissen, hängen geblieben an den Zweigen der Fichten und Buchen, die in seiner wilden Fantasie Krallenhände nach ihm ausstreckten und ihn mit starken, hölzernen Fingern festhielten. Die Ledersohlen seiner Stiefel waren durchweicht vom Nachttau, der Wald rings um ihn her schwarz wie das Innere eines Kamins ohne Feuer.

Der Wagen mit den edlen Stoffballen, seinen Vorräten und seiner Geldkassette befand sich weit hinter ihm, zurückgeblieben irgendwo auf dem holprigen Pfad, der meilenweit durch den Schatten der Bäume hindurchführte. Die Wachen, die er für teures Geld angeheuert hatte, um ihn sicher nach Stuttgart zu bringen – zwei davon waren tot, die anderen beiden geflohen, bevor sie dasselbe Schicksal ereilen konnte. Und die Räuberbande, die ihm und seiner Eskorte kurz nach Sonnenuntergang aufgelauert hatte, war jetzt bestimmt hinter ihm her.

Er prallte blind gegen einen Baumstamm und sah in der Finsternis plötzlich Sterne. Ihm schwindelte, er schlotterte vor Angst, und sein Atem war ein schrilles, rasselndes Keuchen. Er versuchte zu lauschen. Waren da Schritte? Hatten sie ihn bald eingeholt?

Und was würden sie ihm dann antun? Vor seinem geistigen Auge sah er sich bereits auf dem Waldboden liegen, all seiner Kleider beraubt, blutüberströmt und erschlagen. Dieses gottlose Gesindel würde zweifellos auch die Münzen finden, die ihm seine Frau als letzten Notgroschen in den Saum seines Wamses eingenäht hatte.

Arme Regula. Ohne ihn würde sie sich nie und nimmer gegen seine Mutter durchsetzen können. Wenn er jetzt und hier starb, dann war sie weiterhin zu einem elenden Schattendasein verdammt. Genau wie Veronika. Sein Kind. Sein wunderschönes Mädchen.

Der Gedanke an die beiden Frauen, die er liebte und die von seinem Schutz abhängig waren, verlieh ihm wieder ein wenig Kraft. Er stieß sich von dem Baum ab und stolperte eine kleine Ewigkeit weiter, ohne etwas zu sehen, die Hände nach vorne ausgestreckt, um sich vor einem weiteren schmerzhaften Aufprall zu schützen.

Da – jetzt hatte er hinter sich doch etwas gehört. Er blieb stehen und lauschte. Ein Wispern, ein Rascheln, ein Ast, der mit einem scharfen Knacken zerbrach, höchstens ein paar Ellen von ihm entfernt. Sie verfolgten ihn wirklich. Und sie hatten ihn fast erreicht. Er gab alle Vorsicht auf, setzte sich in Bewegung und rannte weiter, die Kehle eng in namenloser Furcht. Die Bäume rings um ihn her standen jetzt nicht mehr gar so nahe beieinander. Plötzlich sah er ein gutes Stück voraus ein schwaches Licht – und wo ein Licht brannte, da mussten auch Menschen sein, bei denen er sich in Sicherheit bringen konnte. Belebt von der unverhofften Aussicht auf Rettung steuerte er hastig und blindlings auf den Schein in der Ferne zu.

Ein jäher Windzug traf sein Gesicht, und etwas Weiches streifte seine Wange. Er hielt inne, schnappte nach Luft – und beim nächsten unsicheren Schritt trat sein Fuß ins Leere. Er warf die Arme hoch, stieß einen Schrei des Entsetzens aus und stürzte. Sein Körper rollte einen Steilhang hinab, überschlug sich, krachte mehrfach gegen unsichtbare Hindernisse und blieb endlich reglos liegen.

Hexenglut. Historischer Kriminalroman.

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