Читать книгу Morgen wird ein guter Tag - Sir Thomas Moore - Страница 10
Оглавление2
„Ich vermeide es, nach vorne oder nach hinten zu blicken,
sondern versuche immer, nach oben zu schauen.“
Charlotte Brontë (1816–1855)
Im Sommer 1925 wurde ich Zeuge eines monumentalen Geschehnisses, denn Vater erstand sein erstes Automobil, einen kastanienbraunen Rover 8. Es war ein in Birmingham gebauter Viersitzer mit acht PS, einer einzigen Tür und einem Verdeck. Die Kosten beliefen sich auf 130 Pfund, das heutige Äquivalent zu einigen tausend Pfund, doch mir erschien das Automobil unbezahlbar.
Die Tür befand sich wegen des Reserverads auf der Beifahrerseite, und der Scheibenwischer musste noch von Hand bedient werden. Hinten gab es keine Fenster, doch meine Schwester und ich hatten kleine Vorhänge zur Abdeckung, falls es zu windig werden sollte. Meine Eltern achteten bei der Erziehung immer auf Bescheidenheit, doch insgeheim fühlte ich mich ein wenig stolz – eigentlich sehr stolz –, dass wir das erste Auto in unserer Straße besaßen. Unser Nachbar hatte ein Motorrad mit einem zweisitzigen Beiwagen für Frau und Tochter.
Mein Vater brachte meiner Mutter sogar das Fahren bei, zu einer Zeit, in der die generelle Meinung von Frauen am Steuer nichts wissen wollte. Ungewöhnlich! Sie stellte sich sogar als bessere Fahrerin als er selbst heraus. Wenn wir während der schrecklichen Winternebel – in denen der Kohlenstaub aus den Fabriken die Sicht zusätzlich beeinträchtigte – die Hand vor Augen nicht mehr sehen konnten, musste Mum aussteigen und langsam vor dem Wagen hergehen. Fairerweise muss ich hinzufügen, dass Mum den nennenswerten Vorteil hatte, dass sie ein sich näherndes Vehikel klar und deutlich hörte!
Nachdem Vater den Wagen angeschafft hatte, wandelte sich unser Leben zum Besseren. Statt sich in der unmittelbaren Gegend aufzuhalten oder so weit zu kommen, wie es zu Fuß oder mit dem Fahrrad möglich war, reisten wir über den eng gesteckten Radius hinaus. Wir unternahmen Tagesausflüge zu den Mooren, nach Haworth und Bolton Abbey, und fuhren an den meisten Sonntagen nach Whitby an der Ostküste – eine Reise von jeweils 145 Kilometern pro Strecke in einer Karosse mit einer Höchstgeschwindigkeit von 65 Kilometern in der Stunde.
Am Anfang jedes Ausflugs überreichte mir Vater die Landkarte und bat mich um die Navigation, was zu einer nervenzermürbenden Tortur wurde, bis ich es endlich kapiert hatte. Er oder Mutter fuhren nur nach meinen Anweisungen (ich musste Dad bei der Fahrt immer ins Ohr brüllen), und er stellte mir oder Freda ständig Fragen wie: „Welchen Fluss überqueren wir gerade? Wie heißt der Berg dort?“ Wusste ich die Antwort nicht, steckte ich in Schwierigkeiten. Er wollte jedoch nur sichergehen, dass ich Sicherheit im Umgang mit einer Landkarte bekam. Die Fähigkeit, sich geografisch zurechtzufinden, war damals eher unüblich, da sich nur wenige weit von ihrem Haus entfernten und noch weniger Autos besaßen. Was ich auf diese Weise beigebracht bekam, verlernte ich nie, und es sollte sich für mich noch als lebenswichtig herausstellen.
Meist hielten wir mitten auf der Strecke an und picknickten bei Sutton Bank, einem Teil der Hambleton Hills. Von dort aus genossen wir eine spektakuläre Aussicht über das Vale of York bis hin zum White Horse bei Kilburn, einer riesigen Figur, die von einem Lehrer und einem Freiwilligenteam in den 50er-Jahren des 19. Jahrhunderts aus dem Sandstein gemeißelt worden war. Mit einem Steigungswinkel von bis zu 25 Prozent war Sutton Bank so steil, dass viele Automobile den Aufstieg nicht schafften oder höchstens im Rückwärtsgang hochfuhren. Manchmal mussten Mama, meine Schwester und ich aussteigen und die Strecke zu Fuß zurücklegen, aber die Kraxelei lohnte sich immer. Nachdem wir anschließend die Küste erreicht hatten, machten wir uns direkt zum Strand in Sandsend auf, wo Vater Strandstühle für den Tag mietete. Er und Mutter setzten sich dann hin, eine Thermoskanne mit Tee in den Händen und eine Decke über den Beinen.
Freda und ich zogen uns die gehäkelten (!) Badeanzüge an, um zu schwimmen und herumzualbern oder den ganzen Nachmittag zu spielen. Ein Wort an die Weisen: Wenn wollene Badeanzüge nass werden, saugen sie sich voll, werden schwer und ziehen den Schwimmer nach unten. War es sehr heiß, krempelte sich Vater die Hosen hoch, um barfuß im flachen Wasser zu spazieren. Vorher öffnete er noch in einem geradezu zeremoniellen Akt den Kragenknopf des Hemdes, etwas, was er nur in der Freizeit machte. Auch Mum ging ans Wasser, aber die beiden schwammen niemals. Stattdessen sahen sie beim fröhlichen Spielen ihrer Kinder zu und versorgten uns mit Eiscreme. Freda und ich waren sehr gern dort. Wenn wir nicht schwammen, jagten wir Krebse oder kleine Fische in den seichten Wasserpfützen am Strand. Unsere größte Freude bestand jedoch in der Suche nach dem lokalen schwarzen Edelstein namens Lignit, eher bekannt als Jet. Wir nahmen die gefundenen Steine mit nach Hause und polierten sie. Ja, das waren die unschuldigen und glücklichen Tage.
All die Gedanken an Strände, Schwimmen und Jet waren schnell vergessen, als ich im Alter von fünf Jahren auf die Drake-and-Tonson-Grundschule ging, wofür mein Vater Schulgeld entrichten musste. Sie lag in der Temple Street in Keighley, und ich musste die zweieinhalb Klometer mit dem Fahrrad zurücklegen, um hinter meinem kleinen hölzernen Tisch Platz zu nehmen. Als kleiner Junge, der lesen und schreiben lernte – dabei benutzte man schon angespitzte HB-Bleistifte und Papier und keine Schiefertafeln mehr –, benahm ich mich immer gut und wurde nie zu der schottischen Direktorin Mrs. Kirk zitiert. In meiner Klasse mit 20 Mitschülern machte ich stets das, was mir aufgetragen wurde, hauptsächlich wegen meiner liebenswerten Lehrerin Miss Ruth Moffitt, die in ihren Zwanzigern war und Ringellocken hatte. Es existieren einige Fotos von mir bei den Schul-Historienspielen, wo ich eine Trommel schlug oder Trompete spielte. Obwohl ich darauf ein bisschen traurig wirke, erinnere ich mich an eine glückliche Zeit.
Freda besuchte dieselbe Schule, war aber in der Klasse über mir, zusammen mit einem Jungen namens Denis Healey, der mit seiner Familie in die Gegend gezogen war. Er wurde später Schatzmeister und dann ein Lord. Healey schien ganz nett zu sein. Sein Vater war der Rektor der technischen Hochschule im Ort, und seine Mutter war eine der nettesten Damen, die man sich vorstellen konnte. Für uns war sie einfach ein Schatz. Sie lud Mutter und uns oft zum Nachmittagstee in ihr Haus ein. Das war zu der Zeit höchst ungewöhnlich.
Die Schule war prima, aber das Mittagsessen kam überhaupt nicht an Mums Kochkünste heran, und so radelte ich mittags meist nach Hause. Mutter war eine sehr gute Köchin und backte exzellent. Sie lehrte mich alles, was ich über die Küche weiß. Ihr Victoria-Biskuitkuchen mundete unvergleichlich, und der saftige Ingwer-Lebkuchen war das wohlschmeckendste Gebäck, das ich je gekostet habe. Später, nach Ausbruch des Krieges, wurden die Nahrungsmittel rationiert, doch wir mussten nie hungern. Obwohl Mum für ihre Zeit fortschrittlich dachte und daran glaubte, dass jeder Frau ihr gerechter Anteil an allem zustand, erwartete man immer noch von ihr, dass sie täglich drei Mahlzeiten auf den Tisch brachte. Sie hatte zwar spät geheiratet, aber dafür den perfekten Mann gefunden. Zwischen den beiden fiel kein einziges böses Wort. Ich hatte niemals das Gefühl, dass sie sich über ihre Rolle ärgerte oder ihren Beruf als Klassenlehrerin vermisste. Und sie sorgte gut für uns.
Zum Frühstück gab es Haferbrei und Brot, danach zur Mittagszeit – exakt um 12 Uhr – eine Mahlzeit mit Fleisch und Kartoffeln. Das Essen musste dann schon auf dem Tisch stehen, denn mein Vater unterbrach seine Arbeit pünktlich und kam stets zu Fuß nach Hause. Am Abend stand eine warme Suppe auf dem Speiseplan und an jedem Wochenende Rinder- oder Lammbraten. Oft brachte uns Mutter zum eine Meile entfernt liegenden Haus meiner Oma in der Queen’s Road im Ortsteil Ingrow. Wir fuhren dann mit der Straßenbahn, die bei uns ironisch „Fährtenleser“ hieß und die für Fabrikarbeiter vor 8 Uhr am Morgen einen ermäßigten Fahrpreis anbot. Mir waren die lauten und wackeligen Wagons egal, denn mich faszinierte der Straßenbahnfahrer mit seiner Schirmmütze und der schnittigen Uniform, einer Ledertasche für die Tickets und einem Geldwechsler, der an einem Gurt hing. Am Ende der Strecke stieg er aus, nahm einen langen Stab mit einem Haken, löste das obere Straßenbahnrad von dem Oberleitungskabel und hängte es in das daneben verlaufende ein, damit die Bahn wieder nach Keighley zurückfahren konnte. Das war eine heikle und gefährliche Aufgabe, aber da alle Passagiere zusahen, stand er so unter Druck, dass er es niemals verfehlte.
Oma Fannys Haus war nicht mehr als ein Zweizimmergebäude – eine winzige Immobilie, in der in regelmäßigen Abständen auch Alfred, der Lieblingsonkel meiner Mutter, wohnte. Das Haus hatte keinen Garten, jedoch ein außen stehendes Plumpsklosett. Ich liebte die Besuche, da Omi Fanny eine so gütige und warmherzige Frau war, dass sie immer das Gute in den anderen sah, egal, wie schlecht sie auch mit ihr umgingen. Sie war sicherlich die gläubigste Christin, der ich jemals begegnet bin, und eine andächtige Kirchgängerin. Sie besuchte die damals sogenannte „primitive“ Methodistenkirche, wie es auch ihr bereits verstorbener Mann gemacht hatte. Oma hatte keine Süßigkeiten, doch dafür gab sie mir Würfelzuckerstücke, etwas, wofür man heute die Augenbrauen hochziehen würde. Auch sie war eine leidenschaftliche Köchin und brauchte dafür – das muss man unterstreichen – keine Waage. Sie machte den besten Reispudding, den sie immer in einer großen Emailleschale servierte, derselben, die sie auch für den traditionellen Yorkshire Pudding benutzte.
Fanny schrieb all ihre Rezepte in Schönschrift von Hand in ein kleines Büchlein, das meine Mutter erbte und das ich noch besitze. Neben meinem Lieblingsgebäck, den Haferkeksen1, die ich dank ihrer Anleitung wie ein Profi zubereitete, enthielt das Buch Gerichte wie geröstete Ochsenzunge und gekochte Kutteln, Hasenpfeffer oder Kaninchenpastete.
Zur damaligen Zeit aßen die Leute alles von einem Tier, auch die Lungen, das Gehirn, die Leber, die Nieren und das Herz. Es existierte sogar ein Rezept für eine sogenannte französische Suppe, bei der man einen kompletten Schafskopf kochen musste. Wir haben das niemals zubereitet, doch ich bin mir sicher, dass es mir nicht geschmeckt hätte, denn ich mag keine Innereien. In dem Buch standen auch Rezepturen für Lotionen oder Heilsäfte, die bei Beschwerden von Hexenschuss bis Gicht helfen sollten, da die Leute selbst auf ihre Gesundheit achten mussten. Eine allgemeine Gesundheitsversorgung stand damals noch in den Sternen, und wenn man einen Doktor aufsuchte oder rief, musste man dafür bezahlen.
Ich erinnere mich an eine Fahrradfahrt in Bingley, bei der ich mit einem Rad in die Straßenbahnschienen kam. Ich fiel und riss mir die Wange auf. Jemand half mir wieder aufs Fahrrad, und ich sauste die 6,5 Kilometer blutend nach Hause. Mutter brachte mich zu Dr. Chambers, der die Wunde dann nähte. Ich kann mich nicht erinnern, wie viel das gekostet hat, doch es war möglicherweise ein Pfund. Ich hatte Glück, dass wir uns die Behandlung leisten konnten, denn viele Menschen waren dazu nicht in der Lage und mussten sich selbst zusammenflicken oder irgendwo ein Armenhaus finden, das von einer Krankenschwester geleitet wurde, die dann eine notdürftige Versorgung vornahm.
Wenn ich nicht zur Schule musste und Ferien hatte, war mein Lieblingstag der Markttag. In Keighley fand dieser jeden Mittwochmorgen in der High Street statt, wobei Freda und ich unserer Mutter voller Freude bei den Einkäufen halfen. Da die Menschen oft von weither kamen – zu Fuß, mit dem Fahrrad oder mit einem Ponywagen –, herrschte dort eine lebendige Atmosphäre und man hörte überall Stimmen und Geräusche. Die Händler riefen die Preise für ihre Waren aus, die auf von Fässern gestützten Brettern lagen, und die Frauen von Keighley – alle mit Hüten – schritten zwischen den Stoffüberdachungen auf und ab. Sie wählten dann ihren Obst- oder Käsehändler aus, bei dem sie etwas kaufen wollten, während sie mit Freunden und Nachbarn plauderten. Die ganze Zeit über – an den Rändern des Marktgeschehens – standen die ärmeren Kinder der Stadt, die mit ausgehöhlten Augen begierig darauf warteten, dass ein Apfel aus einem Korb fiel oder vielleicht ein kleines Brot.
Ich war immer scharf auf Butter, die man in runden, isolierten Bottichen mit einer Höhe von 50 Zentimetern aufbewahrte. Da verschiedene Sorten zur Wahl standen, durfte man Proben auf hölzernen Stöckchen kosten – gesalzen, ungesalzen, Farmbutter oder „ausländische“. Nachdem Mum sich für eine Sorte entschieden hatte, holte die Händlerin einen Block aus dem Gefäß und schnitt ihn mit hölzernen Buttermessern in kleine Rechtecke, wonach sie in fettabweisende Papierfolie gelegt wurden. Diese Stücke verschwanden dann in Mutters Korb. Mehl, Zucker und alle Sorten von getrockneten Hülsenfrüchten lagerten in großen Säcken. Man füllte diese Lebensmittel in Papiertaschen, deren Böden – wenn es nass wurde – auf dem Nachhauseweg ausrissen. (Freda war immer die Erste, die lachte, wenn mir das passierte.) Die braunen Erbsen, die Mutter für den Eintopf nahm, waren in festeren, länglichen Pappkartons zu haben, die ich natürlich lieber trug. Auch gab es Sago und Tapioka, Enten- und Hühnereier und eine Vielzahl frischen Gemüses, aber das nur jahreszeitenbedingt und aus lokalem Anbau. Wir hatten damals noch nie etwas von Bananen oder Pasta gehört! Fleisch und Fisch wurden nur beim Metzger und Fischhändler erworben. An Marktständen gab es beides nicht, da man damals noch nicht die Möglichkeit der ausreichenden Kühlung hatte. Mein Lieblingsgeschäft war das Home and Colonial, das Tee anbot und allgemein Lebensmittel und einem heutigen Warenhaus entfernt ähnelte. Ich mochte auch den Eisenwarenhandel Gott & Butterfield, bei dem man alles von einem Kamin bis hin zu Streichhölzern bekam.
Zu besonderen Anlässen und nur an Samstagen setzte Mutter sich ihren besten Hut auf und nahm uns mit zu Lingard’s an der Ecke Kirkgate und Westgate in Bradford, dem größten Geschäft, das ich damals gesehen hatte. Das wohl Faszinierendste daran war ein an der Decke installiertes Geldbeförderungssystem, bei dem der oberste Kassierer der Einzelkassen – der in einer zentralen Kabine saß – Geld in einen Blechkanister legte und an einer Kordel zog. Dann schoss der Kanister zur Decke, wo er mit einer Reihe von Wägelchen weiterbefördert wurde. Er wurde von einem Angestellten „ganz oben“ – sprichwörtlich, aber auch physisch gesehen – angenommen, der das Geld zählte und das angeforderte Kleingeld zurückschickte. Andere Geschäfte verfügten über ein ähnlich funktionierendes Vakuum-System, doch mich begeisterte schon immer alles Mechanische, und ich hätte den ganzen Tag mit der kleinen Geld-Eisenbahn spielen können.
Seit ich acht Jahre alt war, hatte ich fast immer einen Hund als Spielkameraden. Der erste hieß Pat und war ein junger Golden Cocker, den niemand haben wollte, da er eine verkrüppelte Pfote hatte und dadurch humpelte. Vaters Bruder, mein Onkel Billy, hörte von diesem kleinen, kümmerlichen Racker und brachte ihn mir als Geschenk mit. Billy meinte: „Jeder Junge sollte einen Hund haben.“ Pat war zu der Zeit noch sehr klein und schmächtig und so konnte ich nicht viel mit ihm unternehmen. Freda nahm ihn eines Tages mit nach draußen und er flitzte unten an der Barr Lane vor einen Laster und wurde totgefahren. Sie war noch aufgeregter und trauriger als ich und gab sich die Schuld dafür, „unseren Toms Hund“ getötet zu haben.
Als Onkel Billy hörte, was geschehen war, brachte er mir einen älteren Cocker vom selben Züchter, ein weiteres Tier, das niemand haben wollte. Ich taufte ihn Billy und er war ein toller Hund, der in der Küche schlief und mit mir stundenlang durch die Moore strolchte, bei Regen und bei Sonne. Nachdem ich meine Schüssel Haferflocken gegessen hatte, verschwand ich mit ihm und kam erst wieder zum Tee zurück. Damals sorgte sich noch niemand um Kinder. Bei einem normalen Streifzug sah ich bis auf wenige Unermüdliche keinen einzigen Menschen, und so liefen und schlenderten Billy und ich allein durch die Gegend, wobei wir jeden Wildbach oder Spalt in den Steinen erkundeten, in jede Scheune hineinblinzelten und durch jedes verfallene Farmhaus stöberten. Er saß geduldig neben mir, wenn ich Stichlinge oder Kaulquappen in einem Marmeladenglas fing, um dessen Hals ich eine kleine Schnur befestigt hatte. Ich kann nicht behaupten, dass sich Mutter über unsere Mitbringsel freute, doch sie fand sich damit ab.
Die hügelige, sich weit dahinziehende Landschaft hatte Romane wie Sturmhöhen und Die Herrin von Wildfell Hall inspiriert und war für einen kleinen Jungen und seinen Hund ein aufregender Zeitvertreib, nicht zuletzt, weil sie sich während der Jahreszeiten ständig veränderte. Im Winter lag immer hoher Schnee, und auf den Flüssen Tarn oder Aire bildete sich eine dicke Eisschicht. Dann schnallte ich mir die Schlittschuhe aus Holz an die Füße und machte mich mit Freda und einem Dutzend anderer Kinder auf, eine Runde auf dem Eis zu drehen (wobei ich meist stolperte und mich langlegte). Der Frühling in den Dales schenkte uns Schlüsselblumen, blaue Wiesenglockenblumen, Sumpfdotterblumen, Butterblumen und Osterglocken. Ich pflückte immer emsig die blauen Wiesenglockenblumen, um sie Mum mitzubringen. Freda und ich gingen oft mit ihr los, um Körbe von Osterglocken zu pflücken, die wir in die Vasen des Hauses stellten, wo sie ihren einzigartigen Duft verbreiteten. Im Sommer sah man überall Heidekraut leuchten und Stechginster. Auf dem Fluss fuhren Ruderboote, und wir schwammen meist in einem Kanal. Im Herbst lag ein dicker Teppich aus gefallenen Blättern auf dem Boden, Adlerfarn und Flechten wuchsen, bevor wieder der Winter begann mit seinen Wirbelstürmen und dichten Nebeln, durch die Hunderte Menschen an Bronchitis verstarben.
Ich kannte mich in der Gegend sehr gut aus, verlief mich nie oder hatte nie Ärger. Seit der Kindheit lernte ich, wie man eine Landschaft liest und deutet, das Wetter einschätzt oder sich Erkennungszeichen einprägt. Als Junge vom Land musste ich nur ein einziges Mal eine Landschaft durchkreuzen und konnte sie mir für alle Zeiten merken. Die erlernte Geschicklichkeit zahlte sich mein ganzes Leben lang aus und war so natürlich für mich, dass ich andere nie verstand, die nicht über diese Fähigkeit verfügten. In der Nacht fand ich den Norden mithilfe des Polarsterns und am Tag sah ich nach, auf welcher Seite der Bäume das Moos wuchs, wissend, dass sie in südlicher Richtung glatt waren. Ich roch Regen und Schnee in der Luft und spürte am Wechsel des Windes, ob der Niederschlag in meine Richtung zog. Oftmals trug ich ein Fernglas bei mir und hielt Ausschau nach Brachvögeln und anderen Wildtieren. Sogar im schneidenden Wind und strömenden Regen zog Billy mit mir weiter durch die Gegend, und ich holte mir niemals eine Erkältung. Schlechtes Wetter schreckte mich nicht ab. Auch Billy schien die Witterung egal zu sein, denn er war zufrieden und freute sich über meine Gesellschaft.
Er hatte jedoch eine Marotte: Er knurrte jeden an – sogar mich –, nachdem man ihn seinen Napf mit dem Fressen hingestellt hatte. Niemand konnte ihm das austreiben und er fletschte schon die Zähne, wenn jemand auch nur in seine Nähe kam. Abgesehen von der Macke war er mein bester Freund. Ich hatte nie das Gefühl, dass ich bis auf ihn und meine Familie einen anderen Menschen bräuchte. Mutter fand wohl, dass ich zu eigenbrötlerisch war, und so bestand sie darauf, dass ich dem Chor der St. Peter’s Church in der Halifax Road beitrat, deren Leiter Freda das Klavierspiel beibrachte. Für meine Eltern, die der Church of England angehörten, war die Kirche der Bezugspunkt, wohingegen Oma Fanny die Andacht in der Methodist Chapel in der Alice Street feierte. Um allen gerecht zu werden, ging ich in beide Kirchen und freute mich, beide Welten kennenzulernen. Der Chorleiter von St. Peter’s teilte mir mit, dass ich für ihn bis zum Stimmbruch singen durfte, was ich schließlich auch machte. Ich war vermutlich gar nicht so schlecht, denn ich skandierte sogar einige Solopassagen, und er schrieb mich bei einem Gesangswettbewerb ein, bei dem ich aber nicht zum Zuge kam.
Meine Schwester Freda und ich kamen die meiste Zeit über gut miteinander aus, doch sie hatte ihre Freundinnen und Puppen zum Spielen, und ich war wahrscheinlich der nervtötende jüngere Bruder, der im Weg stand. Wir harmonierten besser, wenn es nach draußen ging oder Ferien waren, spielten mit Tieren am Fluss, wobei niemals ein böses Wort fiel. Es existiert ein hübsches Foto von uns – Vater nahm es auf –, auf dem wir im Sommer 1926 in Coxwold nahe Thirsk eine angebundene Ziege füttern. Sein geliebter Rover steht dabei im Hintergrund. Ich trage einen Strohhut und Freda ihren Schulhut sowie die helle Sommeruniform, auf der ihre Initialen aufgestickt sind. Hier zeigten wir uns von unserer besten Seite. Wenn wir im Haus bleiben mussten, war das manchmal anders. Sie zog mich auf und trieb mich dabei bis zur Weißglut, oder ich musste langweilige Hausarbeit erledigen, schwere Sachen für sie oder Mutter tragen, Erbsen enthülsen, den Kamin reinigen, die Kohlen hochholen oder Feuer machen – alles Tätigkeiten, vor denen ich mich gerne drückte. Der einzige offene Kamin des Hauses befand sich im Wohnzimmer, das nur bei Besuch benutzt wurde. In diesem Raum standen die besten Möbel mit weißen Schutzdecken, die man über die Rückenlehne der Stühle gelegt hatte, um das Polster vor dem Makassar-Öl zu schützen, das Männer allgemein als Pomade benutzten. Heute weiß niemand mehr, was das war, da es von Brylcreem abgelöst wurde. Zu Weihnachten schmückten wir das Wohnzimmer mit einem kleinen Baum und Papiergirlanden. Vater spielte dann Klavier, während alle um ihn herumstanden und sangen. Obwohl er die Musik nicht hören konnte, spürte er die Schwingungen. Mich erstaunte es immer wieder, was für ein guter „Klimperer“ er doch war. Er las die Noten, wie man es ihm als Kind beigebracht hatte, und spielte dann sein Lieblingsstück „In The Garden With Angeline“. Erst wenn die Musik verstummte, wurde es für ihn schwieriger, denn die Teilnahme an normalen Gesprächen war ihm ja nicht möglich. Einer von uns musste sich zum Übersetzen immer an seine Seite hocken. Oftmals war ich es, denn Mum übernahm die Rolle der Gastgeberin und Freda hatte viel damit zu tun, die Lady zu spielen oder mich mit etwas zu ärgern.
Wann immer ich mich bei Mutter über Freda beschwerte, gab sie dieselbe Antwort: „Ist doch egal. Deine Zeit wird kommen.“ Dabei drückte sie eins kristallklar aus: Niemand würde mir zu Hilfe eilen! Sie und Freda pflegten eine enge Beziehung in der Art, wie es bei Müttern und Töchtern häufig der Fall war, da sie die Hausarbeit immer gemeinsam erledigten. Ich stand meiner Mutter aber auch sehr nahe, da sie eine gütige und liebenswerte Lady war und jemand, mit dem ich mich gut unterhalten konnte. Die Beziehung zu meinem Vater war hingegen anders. Ich liebte ihn innig, denn er war ein großartiger Kerl und mir immer ein guter Freund, aber wegen seiner Taubheit konnte ich nie mit ihm Gespräche führen wie die meisten Jungs mit ihren Vätern. Oft sah ich die anderen Kinder, die einfach so mit ihren Vätern plauderten, und dachte: „Ihr habt ja so viel Glück.“ Die Tatsache, dass mir das verwehrt blieb, stimmt mich heute noch traurig. Es war so frustrierend und ermüdend, da er mich nur verstand, wenn ich ihm direkt ins Ohr brüllte. Das bedeutete, dass sich alle Gespräche auf das Nötigste beschränkten und er natürlich so wenig wie möglich antwortete, denn dann hätte ich ja etwas erwidern müssen. Meine Mutter, eine blitzgescheite Frau, plapperte die ganze Zeit mit Dad, als könne er jedes Wort verstehen, aber ich glaube, dass er als Antwort nur nickte und lächelte so wie auch bei Familienzusammenkünften.
Seine Taubheit verhinderte gleichzeitig den Besuch ganz normaler Veranstaltungen. Trotzdem gingen die beiden immer zu den Aufführungen von Onkel Arthur, wenn er in einer seiner vielen „Gilbert and Sullivan“-Produktionen auftrat, die Dad wegen des ganzen Spektakels genoss. Trotz all der Schwierigkeiten führten meine Eltern eine wahre Liebesbeziehung. Er konnte von Glück reden, sie als Frau und Mutter seiner Kinder gehabt zu haben. Die beiden liebten die Gartenarbeit und verbrachten viel gemeinsame Zeit an der frischen Luft, wobei sie sich häufig gegenseitig neckten. Eins sagte er oft über Mutter, und das brachte ihn immer zum Kichern: Sie war seiner Ansicht nach so klein, dass sie einen guten Jockey abgegeben hätte.
Mein Vater arbeitete Vollzeit und bezog mich sooft es ging in seine Tätigkeit mit ein. Er nahm mich immer als „seine Ohren“ zu Auktionen mit, die er besuchte, um Ersatzteile oder Nutzfahrzeuge zu ersteigern. Ich spitzte die Ohren, hörte die Preise und platzierte sein Gebot, wenn er mitbieten wollte. Zur Belohnung nahm er mich – nicht Freda – zum Lichtspielhaus mit, etwas ganz Besonderes nur für uns beide. Ich liebte es, dort mit ihm zu sitzen, und hätte mir alles angeschaut, nur um in seiner Nähe zu sein. Ich wusste jedoch, dass Stummfilme wie ein Gottesgeschenk für ihn waren, da sie über Untertitel verfügten. Er war beim Anbruch des Tonfilms überhaupt nicht glücklich, und ich mochte sie zuerst auch nicht, denn der Ton klang in den frühen Tagen kratzig und muffig. Einige der Stars, die ich mir mit tiefen, maskulinen Stimmen vorgestellt hatte, sprachen nun mit einem hohen, mädchenhaften Tonfall oder mit unerwarteten Akzenten, was so gar nicht meiner Fantasie entsprach. Aus exakt diesem Grund symbolisierte der Tonfilm für viele Schauspieler das Läuten der Totenglocke.
In Keighley gab es fünf Kinos, und wir gingen manchmal ins Picture House oder ins Regent, doch die Cosy Corner gefiel uns am besten. Das Kino war eigentlich unterste Schublade. Ganz vorne standen harte, hölzerne Pritschen, auch „Penny-Seats“ genannt, und wenn sich die Türen öffneten, rannten die Leute so schnell wie möglich dorthin. Dieser „Penny-Rausch“ ähnelte dem Durchgehen einer wilden Pferdeherde. Dad und ich setzen uns immer auf die besseren, aber dennoch recht primitiven Stühle. Die Western mit den heldenhaften Cowboys, gespielt von Buck Jones und Tom Mix, gehörten zu unseren Lieblingsfilmen. Sie kämpften gegen die Indianer, während eine leidenschaftliche Pianistin ganz vorne dazu auf den Tasten klimperte. Bei den Kampfszenen spielte sie besonders aufwühlende Musik. Oft hatte Vater ganz schön Glück, dass er das nicht über sich ergehen lassen musste!
Immer, wenn die Lage für den Helden aussichtslos erschien, hielt der Film an, und die von uns gehassten Worte tauchten auf der Leinwand auf: „Fortsetzung folgt nächste Woche!“
Das war ganz schön nervenaufreibend, denn wir mussten eine lange Zeit warten – die sich scheinbar bis in die Unendlichkeit erstreckte –, um herauszufinden, ob der Böse gewonnen hatte. In jenen Tagen gab es in einem Lichtspielhaus weder etwas zu essen oder zu trinken, noch nicht mal Eiscreme. Wollten wir Eis, kauften wir es in der Stadt von einem Italiener, der mit einem zweirädrigen Handwagen durch die Gegend zog. Allerdings gab es nur eine Sorte, nämlich Vanille, die man in einer Waffel oder einem Hörnchen je nach Größe für zwei oder vier Pence servierte. Hatte der Straßenhändler alles verkauft, musste er wieder nach Hause, um neues Eis anzusetzen.
Wenn ich mit Vater unterwegs war, merkten die Leute natürlich, dass ich in sein Ohr brüllte, um ihm das Gesagte zu übersetzen. Der Großteil der Menschen war mitfühlend oder geduldig oder sie zeigten – was ich immer am besten fand – überhaupt keine Reaktion. Trotzdem gab es einige wenige Typen aus der untersten Schicht, die entweder kicherten oder direkt „tauber, alter Narr“ riefen. Das stimmte mich sehr traurig und ich reagierte anfänglich mit Verbitterung. Nach einer Weile wurde mir klar, dass Dad sie nie hörte. Hätte ich auf irgendeine Art reagiert, hätte er herausgefunden, was gesagt worden war. Es passierte zwar nicht oft, aber wenn, dann biss ich mir auf die Zunge und tat, als hätte ich die Beleidigungen nicht gehört.
Oma Fanny zitierte oft das alte Sprichwort: „Stöcke und Steine mögen meine Knochen brechen, doch Worte werden mich nie verletzen.“ In solchen Momenten versuchte ich mich immer daran zu erinnern. Man hatte mich zur Freundlichkeit und zum Mitgefühl erzogen, und ich trainierte mir an, nur noch Mitleid für diese armen Seelen zu empfinden, die nichts Besseres zu tun hatten, als Behinderte zu ärgern.
1 Haferkekse
170 g Haferflocken
170 g Weizenmehl
113 g Zucker
85 g Schweineschmalz
2 Teelöffel Backpulver
1 Ei
¼ Teelöffel Backsoda
Eine Prise Salz
Kneten Sie die Ingredienzien zu einem Teig, den Sie dann dünn ausrollen. Danach in kleine Stücke schneiden. 15 Minuten lang in einem Ofen bei 180 Grad backen. Man kann statt Schweineschmalz auch Butter benutzen.