Читать книгу Morgen wird ein guter Tag - Sir Thomas Moore - Страница 11

Оглавление

3

„Wäre das Leben vorhersehbar,

wäre es kein Leben mehr und ohne jeglichen Reiz.“

Eleanor Roosevelt (1884–1962)

Ich glaube nicht, dass ich im materiellen Sinn ein verwöhntes Kind war, doch meine Familie verwöhnte mich mit Liebe – mal abgesehen von der eher kühlen und reservierten Oma Hannah, aber vermutlich liebte auch sie mich, nur auf ihre eigene befremdliche Art.

Ich wusste, dass sich Vater darüber freute, einen Sohn zu haben. Obwohl er ein Kind seiner Zeit war und die damit einhergehenden Regeln hochhielt, behandelte er mich gut und gab mir jede Woche sechs Pence, die ich nach Belieben ausgeben durfte. Meist verschwendete ich sie im Süßwarenladen für La­kritzschlangen, Brause und Gobstoppers mit Anisfüllung. Oder ich verwöhnte mich mit einer gerösteten Kartoffel von Spud Mick, die er aus seinem Karren heraus verkaufte. Er gehörte zu den sogenannten „Charakteren“ in Keighley, die von den Leuten als „Einfältige“ oder „nicht so richtig da oben“ verunglimpft wurden. Ähnliche Personen waren „Emily Matchbox“, die Streichhölzer an den Mann brachte, und „Freddie Gramophone“, der ein aufziehbares Grammophon besaß, das er immer auf der Straße spielen ließ. Diese Menschen mussten sich größtenteils allein durchkämpfen. Ich empfand das Fehlen jeglicher Fürsorge oder auch nur Aufmerksamkeit ihnen gegenüber als schockierend.

Jedem, der auch nur den kleinsten Hinweis auf eine psychische Störung erkennen ließ, drohte die Einlieferung in das örtliche „Irrenhaus“ in Menston nahe Guiseley in Wharfedale. Man musste nur fragen „Willst du nach Menston?“, dann genügte das schon, um anderen eine Höllenangst einzujagen. Menston war unser „Schwarzer Mann“, eins dieser groß angelegten gotischen Gebäude, errichtet Ende der 1880er-Jahre, um die psychisch Kranken wegzusperren und von der Öffentlichkeit fernzuhalten. Zuerst West Riding Pauper Lunatic Asylum genannt, war es ein sich selbst versorgender Komplex mit Land zum Bewirtschaften, Gärten, einer Wasserversorgung und sogar einem eigenen Eisenbahnanschluss. In den Jahren, in denen psychische Krankheiten als unheilbar eingestuft wurden, behandelte man die armen Insassen mit Elektroschocktherapie, oftmals ohne ein Anästhetikum. Spätere Berichte besagten, dass einige sogar gefesselt wurden und eingesperrt in ihren Zimmern lagen, bis der Tod sie ereilte. Ich muss jetzt wohl nicht mehr erwähnen, dass ich mich niemals auch nur in die Nähe der Anstalt traute.

Vater hat sich seine geistige Gesundheit angesichts der Isolation, in der er steckte, wohl durch die Liebe zu Pflanzen und Tieren bewahren können. Vor meiner Geburt kannte man ihn und Onkel Billy überall als die „Messrs Moore Brothers“, Züchter seltener Hühnerrassen wie den preisgekrönten Partridge Wyandottes und Plymouth Rocks, aber auch den Cochins und Buff Orpingtons, von denen einige ein Preisgeld von 30 Pfund erzielten, was den Anschaffungskosten für ein Pferd entsprach.

Die Geflügelzucht, die Pflege und das Zurschaustellen waren im Norden Englands zu Beginn des 20. Jahrhunderts bis zum Großen Krieg ein wichtiger Sport. Es existierten zahlreiche lokale Vereine, und die Keighley News führte jahrelang eine eigene Kolumne über das Hobby, in der sie regelmäßig über Vater und meinen Onkel berichtete. Die größte Ausstellung in unserer Region – sie dauerte eine ganzen Tag – fand in Bingley statt, wo die beiden regelmäßig mit dem Pokal nach Hause zogen, ganz zur Freude von Großvater Thomas, der auch ein begeisterter Geflügel-Freund war. Die zwei reisten im ganzen Land herum, um ihre Vögel auszustellen. In der Ausgabe des Poultry-Magazins 1904 beschrieb man ihre acht Hektar große Geflügelfarm an der Lawkholme Lane als eine „berühmte Ausstellungsfarm“. In dem vierseitigen Artikel stand:

Die Messrs Moore Brothers waren in unserem Hobby bis vor drei Jahren kaum bekannt, doch heute ist ihr Name berühmt und höchst respektiert, wo auch immer sich die Freunde der Geflügelzucht auf unseren Inseln treffen, in Amerika, in den Kolonien oder auf dem Kontinent. Will und Wilfred Moore sind die Söhne von Mr. Thomas Moore, einem bekannten und respektierten Bürger von Keighley. Die Brüder geben schnell und bereitwillig zu, dass die Ratschläge und die Ermutigung ihres Vaters maßgeblich zu ihrem eigenen Erfolg beigetragen haben, denn Mr. Moore senior war sein ganzes Leben lang ein Liebhaber der Geflügelzucht und lässt […] als Vizepräsident des Partridge-Wyandotte-­Clubs ein großes Interesse an dem Hof erkennen.

Ungefähr 1909 gaben die Brüder die Geflügelzucht auf und besuchten keine Ausstellungen mehr. Beide hatten geheiratet, und der Krieg zog schon am Horizont auf, weshalb der Druck, der auf dem Unternehmen lastete, möglicherweise den Sinneswandel verursachte. Mein Vater hing aber noch an der alten Geflügelfarm und reservierte sich eine Ecke, um dort einen Obstgarten mit Apfel-, Birnen- und Pflaumenbäumen zu bewirtschaften. Dort hegte und pflegte er auch seine mit Preisen ausgezeichneten Dahlien. Jedoch pflanzte er niemals Gemüse an, auch nicht im Zweiten Weltkrieg, als der altehrwürdige Victoria Park im Rahmen der landesweiten „Dig for Victory“-Kampagne für den Anbau von Tomaten umgepflügt wurde. Manchmal ging ich mit ihm zu seinem geliebten Fleckchen Erde, doch ich war niemals ein geduldiger Gärtner, und die Pflanzen wuchsen mir nie schnell genug.

Das Geheimnis seiner Dahlien lag in der guten Düngung. Als ich noch ein Knabe war, besaßen Thomas Moore & Sons ein Paar wunderbare Shire Horses namens Prince und Duke. Vater nahm mich an den Wochenenden immer zur Fütterung zu den Ställen mit, während er einen ganzen Sack Pferdeäpfel einsammelte. Auf Anweisung meines Opas wurden die Ställe peinlichst sauber gehalten, und es gab viel frisches Heu und Stroh, womit die Pferde das beste Futter hatten. Prince war dunkelbraun und Duke ein Mix aus Schwarz und Braun. Sie müssen riesengroß gewesen sein, denn ihre Köpfe ragten weit über der halb geöffneten Stalltür auf. Oft stupsten sie mir die Kappe vom Kopf, ganz begierig darauf, eine Handvoll Haferkörner zu bekommen. Ich war sehr traurig, als sich die Firma modernisierte und den ersten Ford Model T anschaffte und danach einen Leyland-Kipplader, um die Arbeiter und das Material zu befördern.

Die gut erzogenen Pferde, die man zum Grasen in glückliche Pension geschickt hatte, schienen mir weniger Schwierigkeiten zu bereiten, denn man zog nur kurz an den Zügeln und schon ging es los. Bei den Automobilen mussten die Arbeiter zum Start des Motors kraftvoll eine Kurbel bedienen – es war noch in der Zeit vor der Hydraulik – und auch die Ladefläche des Kippers selbst hoch- und runterkurbeln. Diese Veränderung signalisierte das Ende einer weiteren Ära.

Jede Industriestadt hatte einmal im Jahr eine ganze Woche lang Urlaub, auch bekannt als „die Totenwache“, damit die verschiedenen Mühlen und Fabriken die restliche Zeit ohne Unterbrechung produzieren konnten. Bei uns war es die letzte Woche im Juli, die Keighley Feast Week und gleichzeitig die sieben Tage des Jahres, die Freda und ich am dringlichsten herbeisehnten, da wir dann in den Urlaub fuhren.

Vater und Mutter luden in den Wagen, was gebraucht wurde, und schon ging es für ganze fünf Tage freudig aufgeregt nach Whitby. Dort wohnten wir in einer kleinen Pension mit Ausblick auf den Rangierhof für Dampfmaschinen, und ich hatte das Gefühl, in meinem eigenen mechanischen Paradies zu leben, das nur wenige andere zu schätzen wussten. In Whitby fing ich auch meinen ersten Fisch vom Ende des Piers aus. Dabei benutzte ich eine Leine, die an einem selbst geschnitzten hölzernen Gestell hing. Der Fisch – eine unbekannte Art – war ungefähr 20 Zentimeter lang. Ich nahm ihn in unsere Pension mit und bat die Vermieterin, ihn zum Frühstück zu braten, wonach ich bekannt gab, den wohl köstlichsten Fisch aller Zeiten gegessen zu haben.

Manchmal fuhren wir zur Abwechslung nach Bridlington oder Morecambe. Bei einem erinnerungswürdigen Ausflug nach Southport Sands steckte mir Mum fünf Schillinge für einen Flug zu. Ich saß hinter dem Piloten eines Doppeldeckers aus dem Großen Krieg und sauste über die Küste. Das war sehr aufregend, und ich konnte mein Glück gar nicht fassen. Ich beobachtete zuerst, wie der Flieger mit zahlenden Gästen hin- und herflog, und wusste, dass da nichts zu befürchten war. Als man mich jedoch hinter dem Piloten festschnallte, umklammerte ich ihn fest mit beiden Armen. Der Motor startete mit einem unglaublichen Lärm, und dann hoben wir schon von der Sandpiste ab und direkt auf den Himmel zu. Als die Maschine über die Bucht flog, sah plötzlich alles wie eine Miniaturstadt aus mit kleinen, winkenden Bewohnern. Für mich war das ein ganz besonderer Augenblick, denn ich saß zum ersten Mal in einem Flugzeug. Ich würde mich gerne daran erinnern, was für ein Model es war – möglicherweise eine Sopwith –, aber der Typ ist im Laufe der Zeit in meinen Gehirnwindungen verschwunden. Das einzige Traurige an dem Tag war das frühzeitige Ende des Flugs. Ein Teil von mir wünschte sich insgeheim, dass Mutter die zusätzlichen zwei Schillinge und sechs Pence bezahlt hätte, um noch länger zu fliegen und höher in den Himmel aufzusteigen. Als wir zu einem Halt rollten, kippte die Maschine auf eine Flügelseite. Blitzschnell kam ein Mann angerannt, der sie wieder anhob, damit wir sicher aussteigen konnten. Ich rannte mit vor Aufregung geröteten Wangen zurück zu meinen Eltern, vom Wind zerzaust, mit großen Augen und unendlich dankbar.

Zu Weihnachten besuchten wir immer das Theatre Royal in Leeds oder das Alhambra in Bradford, um uns die Festtagspantomime anzusehen, die auch Vater genoss, obwohl er die Rufe „Oh, nein, er ist es nicht!“ nicht hören konnte, die wir alle freudig von uns gaben. Am Pfingstwochenende, das auf dem siebten Sonntag nach Ostern fiel, fuhren wir zum Blackpool Tower Circus, das beeindruckendste Spektakel in meinem jungen Leben mit all den wilden Tieren, den Akrobaten und Clowns. Am liebsten mochte ich die weißen Pferde mit den großen prächtigen Federn, die man am Zaumzeug befestigt hatte. Sie wurden von hübschen Mädchen in knappen Kostümen geritten, die mutig auf- und absprangen, während die Pferde durch die Manege galoppierten. Sogar in so einem jungen Alter beeindruckten mich die Mädchen, und der verführerische Duft ihres Parfüms, der sich mit dem Geruch von Fettschminke und Pferdeschweiß vermengte. Diese Erinnerung ist stark haften geblieben.

Einige der Mädchen traten später noch auf einem Hochseil auf oder baumelten gefährlich an einem Trapez. Wir hielten alle die Luft an, als eine von ihnen beinahe stürzte (etwas, das sie fast jedes Jahr machte). Im Zirkus traten außerdem ein Schlangenmensch und eine Truppe kleiner Menschen auf, die als Zwerge vorgestellt wurden und urkomische Vorstellungen gaben. Einer der dramatischsten Auftritte war eine Tiernummer mit Elefanten, Löwen und Tigern, die Tricks vorführten. Das ist heute zu Recht verboten, da es weder natürlich noch fair ist, einen Elefanten auf einem Bein stehen zu lassen oder einen Tiger dazu zu bringen, durch einen brennenden Reifen zu springen, während der Dompteur die Peitsche knallen lässt. In jenen Zeiten einer unschuldigen Naivität fanden wir das alle atemberaubend und waren – als leidenschaftliche Tierliebhaber – zufrieden, dass sie gepflegt und gut gefüttert wirkten.

Bei der Vorstellung wurde auch ein Swimmingpool benutzt, der wie von Magie unterhalb der Manege erschien. Dort führten uns dieselben Pferdemädchen (in noch knapperen Badeanzügen) synchrone Übungen vor. Eine von ihnen verschwand immer durch einen geheimen Ausstieg, weshalb jeder befürchtete, sie sei ertrunken. Dann gab es noch die Seelöwen, die Bälle auf ihren schnurrbärtigen Nasen balancierten und die Menge mit ihren Flossen nass spritzen, während sich ein starker Fischgeruch ausbreitete. Für einen jungen Burschen aus Keighley war das magisch, bezaubernd und vollkommen vereinnahmend.

Ich glaube, wir alle mochten den Zirkus – einfach da zu sitzen und Vanilleeis aus kleinen Bechern mit Holzlöffeln zu essen –, doch den meisten Spaß hatte vermutlich mein Vater, der besonders die Clowns liebte. Opa Thomas hatte ihn schon als kleinen Jungen mit zum selben Zirkus genommen und somit kannte er alle Abläufe, die er in seiner Kindheit noch hatte hören können – die Show mit den Eimern voller Wasser und denen mit Papierschnipseln, die auf eine kreischende und quiekende Menge geschüttet wurden. Auch erinnerte er sich an die Pointen und den Schrei „Hinter dir!“, während die Clowns sich von hinten an den mürrischen Zirkusdirektor anschlichen. Vater begann schon zu lachen, bevor die Clowns den Gag zu Ende gespielt hatten, da er ja genau wusste, was passieren und was sie sagen würden. Doodles war bei Weitem sein Lieblingsclown, ein Schotte mit einem Zylinder, nur 1,40 Meter groß, der mit geschlagenen 30 Arbeitsjahren der am längsten in Blackpool auftretende Künstler war. Wir alle liebten ihn am innigsten. Als er dann starb und sein Sohn in die übergroßen Schuhe stieg, war es nicht mehr dasselbe.

Der wohl größte Spaß der Feast Week fand am zweiten Wochenende statt, denn dann wurde die Keighley Gala ausgerichtet. Mehr als 30 000 Menschen drängten sich zu der Veranstaltung, dem wichtigsten Ereignis im örtlichen Kalender. Es begann mit einem eine Meile langen Umzug mit Historienspielen, Quadrille-Tanzgruppen und liebevoll dekorierten Wagen, die sich ihren Weg durch die Stadt zum Victoria Park bahnten. Dort fand man jede nur erdenkliche Art der Unterhaltung – sportliche Wettkämpfe, Musik und Tanzgruppen, die in exotischen Kostümen auftraten und aus aller Welt angereist waren. Auf dem berühmten „Flying Pigs“-Karussell hatte man Schweinefiguren statt Pferde montiert, und die spektakulären Aufstiege der Heißluftballons bewiesen mir, dass es keinen Himmel gab.

Die Ballons, vor Ort hergestellt und von Firmen aus Yorkshire gesponsert, wurden oft mit Stadtgas gefüllt, das man sich clever von einer konventionellen Gaslampe abzapfte. Es war ein lebensgefährliches Verfahren, das einen ganzen Tag dauerte. Nachdem sie gefüllt worden waren – man hielt die Ballons mit Netzen am Boden – installierte man eine „Gondel“ oder einen Korb, der den Ballonfahrer beförderte und mindestens einen Fallschirmspringer, der sich aus einer Höhe von 600 bis 900 Metern in die Tiefe stürzte. Zu diesen furchtlosen Männern und Frauen gehörte die lokale Motorradfahrerlegende Alec Jackson, der eine Werkstatt nebst Geschäft in der East Parade in Keighley unterhielt. Alec hatte als Pilot beim Royal Flying Corps gedient und sich beim legendären „Tourist Trophy“-Rennen („TT“) auf der Isle of Man im Wettstreit bewiesen. Ich starrte atemlos auf diesen Mann – der bereits ein Held für mich war –, während er sicher zur Erde schwebte.

Walter Mitchell, mein engster Freund und ein Bursche, der über die Straße und zwei Türen weiter wohnte, schaute sich das alles zusammen mit mir an. Walter und ich tauchten überall gemeinsam auf. Wir gingen zu Fuß, fuhren mit dem Fahrrad durch die Gegend und spielten Fußball auf dem Platz. Unser Lieblingsspiel war jedoch „Dosenfußball“. Dazu brauchte man nur eine alte Dose, die platt gedrückt wurde, und schon begann die Kickerei mitten auf der Straße. Wir rannten dann immer zu der Stelle, an der die Büchse landete, und wer als Erster ankam, schoss erneut. Es war ein Spiel, dass damals auf den Straßen recht sicher war, denn abgesehen von vereinzelten Lastern wurden die meisten Lieferungen noch mit Pferdewagen zugestellt. Die einzige „Gefahrenquelle“ waren die von den Pferden hinterlassenen „Tretminen“, die aber schnell als Gartendünger eingesammelt oder vom örtlichen Straßenfeger entfernt wurden, zu dessen Job die Reinigung gehörte und im Winter das Schneeräumen.

Auch meine Schwester Freda hatte eine Freundin in unserer Straße und diese hatte eine sehr hübsche jüngere Schwester mit dem Namen Nancy Barraclough. Schöne Mädchen haben mich das ganze Leben lang angezogen. Nancy wurde meine erste Schwärmerei und ich war richtig verknallt. Wir spielten in den Gärten unserer Häuser, noch zu jung, um mehr zu unternehmen als herumzutoben und Murmeln zu werfen, die wir „Glass Ollies“ nannten. Sie besaß als Spielzeug nur Puppen, während meine Spielsachen aus Holz waren wie zum Beispiel ein Kipplaster, auf dessen Ladefläche ich Haferflocken oder Mehl füllte, bevor ich das wieder abkippte. Als ich noch recht klein war, gab mir mein Vater ein Stück Holz, einige Nägel und einen Hammer. Ich schlug die Nägel also in das Holz – klopfte und klopfte so vor mich hin –, bis ich lernte, dass es schmerzt, wenn man sich auf den Daumen haut. Das vermied ich danach tunlichst. Später spielte ich mit Puzzles und konstruierte mit meinen Meccano-Baukästen Laster oder etwas anders mit Rädern. Auch sammelte ich eine Weile Zigarettenbildchen und tauschte sie mit Freunden, wonach Briefmarken von der Versandfirma Stanley Gibbons auf der Tagesordnung standen. Am Ende verschenkte ich sie alle, da ich nie die Marken aus weit entfernten Ländern bekam, die mich wirklich interessierten, mit Bildern von Vögeln und Bergen – Orte, von denen ich hoffte, sie eines Tages mit eigenen Augen zu sehen.

Als Kind, das seine Heimatstadt nur selten verließ, wusste ich nichts von der Welt und der Politik, obwohl ich spitzkriegte, dass wir offensichtlich fast jedes Jahr einen neuen Premierminister hatten. (Allein zwischen den Jahren 1920 und 1929 fanden fünf Wechsel statt.) Ich hatte auch schon etwas über den Großen Krieg gehört. Als ich noch klein war, enthüllte man das von Opa Thomas gebaute Kriegsdenkmal vor 25 000 Zuschauern, unter denen ich mich befand. In den unmittelbar nach dem Krieg folgenden Jahren sahen wir häufig Männer, die mit ihren grauen Militärmänteln umherzogen und manchmal auch Eltern, die mit ihren traumatisierten Söhnen spazieren gingen, die nach dem Grabenkrieg nur noch stammelnden Wracks glichen. Ich erinnere mich an einen Veteranen, der als Prothese ein rundes, hölzernes Bein trug, und einen anderen, der gar keine Beine mehr hatte und sich mit den Händen abstoßend auf einem kleinen Wägelchen durch die Gegend rollte. Opa stellte verschiedene Männer ein, die in den Gräben von Senfgas versehrt worden waren. Alle litten unter trockenem und bellendem Husten. Man kannte Opa immer als exzellenten Arbeitgeber. Wenn Zahltag war – jeden Samstagmittag –, bestand er drauf, dass auch die Frauen kamen, um sich einen Teil des Geldes zu sichern, das die Männer sonst möglicherweise in Alkohol umgesetzt hätten. Eins machten diese Arbeiter jedoch immer mit ihrem hart verdienten Geld: Sie rannten zu Uncle Chadwick’s, einem Pfandhaus, um sich die Sonntagsanzüge auszuleihen, die sie für die Kirche benötigten oder für öffentliche Veranstaltungen. Das geschah nach dem wöchentlichen Bad in den frei stehenden Wannen, die man noch aus der viktorianischen Zeit kannte und die in den Keighley Public Baths und den Wash Houses in der Albert Street bereitstanden. Die Sonntagsanzüge wurden in der folgenden Woche wieder zurückgebracht, um ein wenig Extra auf der Tasche zu haben, das zweifellos in einem der Hunderte von Pubs und Clubs der Stadt verprasst wurde oder in einer der sechzig nicht-lizenzierten Kaschemmen.

Keiner der Männer in unserer Verwandtschaft trank viel, und das Rauchen war verpönt. Meine Eltern gönnten sich jedes Weihnachten einen kleinen Sherry oder mein Vater genehmigte sich einen kleinen Drink mit einem Kunden, aber es brauchte nicht viel, um ihn in eine kleine glückliche Seele zu verwandeln, mit einem permanenten Grinsen im Gesicht. Die Moore-Männer waren auch keine Fans konventioneller Sportarten wie zum Beispiel Fußball. Vater nahm mich nur zu den Rugby-Spielen mit, weil einer seiner jungen Arbeiter als Gedrängehalb im Keighley-Team kämpfte, doch eigentlich mochte er lieber Kricket. Da er die über das Röhrenradio verbreiteten Spiele nicht mitverfolgen konnte, fuhren wir immer nach Headingley in Leeds, um live dabei zu sein. Sein Held war W. G. Grace, der legendäre Kricketspieler mit dem großen, buschigen Bart, der in 22 Nationalspielen überzeugt hatte und fünf Jahre vor meiner Geburt verstarb. Schon Opa Thomas zählte zu seinen großen Fans und nahm seine Söhne mit, um „W. G.“ in Aktion zu sehen.

Ich weiß nicht mehr viel über meinen Großvater, bis auf die Tatsache, dass ich Respekt für ihn empfand. Er war die Art eines patenten Menschen, den jeder respektierte, obwohl er weder schreiben noch lesen konnte. Besonders freute ich mich über seine Güte, wenn er mir zu Weihnachten eine goldene Zwanzigschillingmünze überreichte, was damals viel Geld war, mit einem heutigen Gegenwert von ungefähr 50 Pfund. Ich legte sie zu den Half Crowns, die Dad mir zum Geburtstag schenkte, um das Geld für etwas Besonderes zu sparen. Verschwendung war noch nie meine Sache. Großvater und seine Frau Hannah kamen von ganz unten. Ein gemeinsames Merkmal der beiden war ihre Sauberkeit, woraufhin auch ich in einer sehr sauberen Familie aufwuchs. Mein Vater war sauber, und das traf auch auf Onkel Billy zu. Das erwartete man einfach. Oma Hannah war ganz besonders reinlich, immer bestens gekleidet und nach Lavendel duftend. Sie trug hochgeschlossene Blusen und hatte ihr weißes Haar hochgesteckt, ähnlich Queen Mary, nach deren Vorbild sie sich wohl richtete.

Während Opa nie seine Wurzeln vergaß, sich mühelos unter die ganz normalen Leute mischte und jeden Besuch in Blackpool genoss, um über die „Golden Mile“ zu schlendern, begleitete ihn Oma nur ein einziges Mal und weigerte sich dann. „Blackpool ist schrecklich! Es stinkt nach Fish and Chips und Käsefüßen.“ Sie mag wohl recht gehabt haben, doch das störte keinen von uns. Nach dem Ausflug kam sie niemals mehr mit in die Stadt, eine regelrechte Schande, da sie freudige Familienausflüge verpasste. Ich stellte mir manchmal die Frage, warum sie ihre Herkunft vergessen konnte und sich so eindeutig der oberen Mittelschicht zuordnete. Aber wie ich heute erkenne, lag dies exakt an den miserablen Verhältnissen zu Beginn ihres Lebens, denn sie schien sich geschworen zu haben, daraus zu entfliehen. Aufgrund der Armut in der Kindheit litt sie ihr ganzes Leben lang an Bronchitis und war häufig an das Haus gebunden. Wenn sie aus ihrem Zimmer auftauchte, stand bei ihr die viktorianische Maxime an erster Stelle, dass man Kinder zwar anschaut, ihnen aber nicht zuhört. Als ich neun Jahre alt war, verstarb sie an einer Lungenkrankheit. Ich konnte allerdings nicht um einen Menschen trauern, den ich gar nicht kannte, der niemals wahres Interesse an uns erkennen ließ oder uns um sich versammelte und liebevoll an die Brust drückte wie unsere Omi Fanny.

Onkel Arthur war hingegen einer der Verwandten, der sich für uns interessierte. Mutter mochte ihn ganz besonders. Er arbeitete im Werk von Short Brothers Airship und fertigte während des Großen Kriegs Luftschiffe mit stabilen Metallrahmen für die Admiralität als direkte Antwort auf die Zeppeline und U-Boote der Deutschen. Daraufhin zog er nach Birkenhead nahe Liverpool, wo er in den Schiffswerften angestellt war und als treibende Kraft bei der New Ferry and Birkenhead Operatic Society auf den Brettern stand, die die Welt bedeuten. Als er 1923 nach Keighley kam, wurde er bei dem führenden Süßwarenhändler John Hammond & Co. in der North Street zuerst Manager und dann leitender Chefkonditor. Sie führten damals einen äußerst beliebten Teesalon in der obersten Etage. Arthur war für seine delikaten Süßwaren und Hochzeitstorten bekannt. Jedes Jahr zu Weihnachten backte er für uns einen wunderschön dekorierten Schokoladen-Weihnachtsbaumstamm.

Er heiratete nie und hatte keine Kinder. 1936 verlieh ihm die Theatergruppe Keighley Amateur Operatic and Dramatic Association eine Medaille für jahrelanges Engagement. Man kannte ihn dort für seine Liebe zu den Werken von Gilbert and Sullivan. Auch ernannte man Onkel Arthur zum lebenslangen Mitglied der Keighley Theatre Group. Er nahm seinen einzigen Urlaub immer zusammen mit John Hammond, dem Besitzer des Süßwarengeschäfts. Erst später im Leben dämmerte mir die Vermutung, dass die beiden möglicherweise homosexuell waren. Als John Hammond verstarb, wechselte das Geschäft den Besitzer, woraufhin Arthur eine neue Arbeit in der Gemeindeverwaltung fand, eine Tätigkeit, die er bis zu seiner Rente ausübte.

Ich kann nur schwerlich glauben, dass er in dem langweiligen Bürojob glücklich war, denn ich stellte ihn mir als einen lebhaften Charakter vor, fest dazu entschlossen, das Leben in vollen Zügen zu genießen. Als ich elf war, nahm er Mutter und mich zum ersten Mal mit nach London. Wir wohnten im Strand Palace Hotel, und ich genoss den Besuch immens, obwohl alles viel zu groß für einen Yorkshire-Jungen erschien und die Straßenbahnen und zahlreichen Menschen mich beinahe überwältigten. Wir gingen überall hin und suchten die bekannten Touristen-Attraktionen auf wie das Madame Tussaud’s, den Buckingham Palace und Big Ben. Ich glaube, wir fuhren sogar mit der U-Bahn. Arthur verwöhnte uns nach allen Regeln der Kunst. Ich sah ihn all die Jahre zwar nicht so häufig, wie ich es eigentlich gewollt hätte, doch er war eins meiner ersten männlichen Vorbilder.

Innerhalb eines Jahres nach dieser Kurzreise veränderte sich das Familienleben grundlegend, da Opa Thomas im August 1931 verstarb, zwei Jahre nach dem Tod meiner Oma. Ich fühlte mich traurig und niedergeschlagen, denn er hatte mich stets mit Güte und Respekt behandelt. Ich wusste, dass er ein guter und anständiger Mann gewesen war, der sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf gezogen und aus dem Schlamassel befreit hatte. Obwohl er sich hart gegenüber seiner Tochter Maggie verhielt – die ja mit einem Mann durchgebrannt war –, gab er sich gegenüber den anderen Kindern großzügig und unterstützte auch meinen Vater. Seine Arbeiter bewunderten ihn und die Bürger der Stadt schätzten ihn. Es überraschte niemanden, dass sich viele zu seiner Beerdigung einfanden. Der Nachruf in der Keighley News beschrieb ihn als den ältesten Bauunternehmer und einen Mann, der eine große Rolle in der städtischen Entwicklung gespielt hatte. „Er führte sein Unternehmen circa 54 Jahre in Eigenverantwortung … und genoss einen hohen Ruf als Bauherr“, hieß es weiter. „In Keighley sind zahlreiche Beispiele seiner exzellenten Arbeit zu bewundern. Sein Tod beraubt uns einer wichtigen und interessanten Persönlichkeit.“

Nach Opas Tod erbte mein Vater wie versprochen Club Nook, woraufhin wir 1932 das Zuhause verließen, das mir vertraut war, und in das viel größere und pompösere Gebäude in Riddlesden zogen, das ich bisher nur von Familienbesuchen kannte. Unser neues Heim stellte eine eindeutige Verbesserung dar. Ich bekam sogar ein größeres Zimmer, doch zeigte ich mich nicht sonderlich von der Elektrizität beeindruckt, dem Telefon, der Garage, dem Garten und der abgetrennten Waschküche. Dagegen begeisterte mich die Tatsache, dass Onkel Billy direkt nebenan wohnte und hinter dem Haus ein riesiges Feld lag, mit einem Tor und einem direkten Pfad zu den Mooren bei Silsden, Rivock und auch weiter entfernt. Für einen jungen Burschen und seinen Hund war das die Dämmerung eines neuen Zeitalters.

Morgen wird ein guter Tag

Подняться наверх