Читать книгу Morgen wird ein guter Tag - Sir Thomas Moore - Страница 9
Оглавление1
„Es ist wunderbar, welch große Schritte gemacht werden,
wenn dahinter ein bedeutendes Ziel steht.“
Winston Churchill (1874–1965)
„Mach dir keine Sorgen um unseren Tom“, beruhigte meine 81-jährige Großmutter meine Mutter, als ich mit 20 Jahren in den Krieg ziehen musste. „Ich werde vom Himmel aus auf ihn aufpassen.“ Oma Fanny hielt ihr Wort und war innerhalb eines Jahres tot. Ich glaube gerne, dass sie seitdem ihre schützende Hand über mich hält.
Allerdings hätte ich beinahe den Glauben an den Himmel verloren, als ich als junges Bürschchen gespannt einen riesigen Heißluftballon beobachtete, der während der jährlichen Keighley Gala in den Wolken über meiner Heimatstadt verschwand. In den Sommerhimmel starrend, sah ich auf einmal die mutigen Fallschirmspringer, die aus der Gondel gesprungen waren. Wie durch Magie schwebten sie der Erde entgegen. Meine Freude verwandelte sich in Enttäuschung, da die Ballonfahrer nicht in der Lage waren, mir etwas über den Himmel zu berichten, der „da oben“ war, wie man mir immer erzählte. Es war das erste Mal in meinem jungen Leben, dass ich meine Eltern infrage stellte und erkannte, dass man Kindern manchmal eine Menge Lügen auftischt.
Abgesehen von dieser unerwarteten Enthüllung verbrachte ich eine sehr glückliche Kindheit und wuchs an den südlichen Ausläufern von Rombalds Moor in West Yorkshire auf, einer Gegend im Hochland, die allgemein Ilkley Moor genannt wird, was aber nicht ganz korrekt ist.
Bekannt als „Brontë Country“, war es ein Landstrich, zu dem Tausende mit Kutschen und dampflokgetriebenen Zügen pilgerten, um zu sehen, wo die drei Brontë-Schwestern im nahe gelegenen Haworth gelebt hatten.
Traurigerweise wurde keine dieser talentierten jungen Schriftstellerinnen älter als 40, da sie an den Folgen von Tuberkulose dahinschieden. Auch ihre Mutter verstarb schon früh, jedoch an Krebs. In Yorkshire, aber möglicherweise auch anderswo, sagen die Leute, dass das Geheimnis eines hohen Alters in der „Wahl“ der Großeltern und dann der Eltern liegt. Trifft das zu, habe ich es richtig gemacht.
Oma Fanny Burton war eins von acht Kindern, in Keighley geboren und dort aufgewachsen. Im Alter von 26 Jahren heiratete sie den Herrenfriseur John Hird, wonach die beiden in schneller Folge vier Kinder bekamen. Eins davon war meine Mutter Isabella, als Älteste 1886 geboren. Opa John, der schon mit 52 Jahren an Krebs verstarb – also sechs Jahre, bevor ich zur Welt kam –, arbeitete in dem Familienunternehmen, dem Friseur- und Rasier-Salon W. N. Hird’s in der Church Street. Es war ein Gemischtwarenladen mit zwei großen Schaufenstern neben dem mittigen Eingang. Ein Anzeigenblatt aus dieser Zeit beschreibt ihn als Friseursalon, Buchladen, Kiosk und Anbieter von Alltagsgegenständen, der alles von Schreibpapier und Regenschirmen bis hin zu Zigarren und Schiefertafeln für Schulkinder im Programm hatte. Als junges Mädchen, das ihrem Vater im Laden half, seifte Mutter immer die Männer mit Rasierschaum ein.
Mein Vater Wilfred Moore wurden 1885 geboren und war das jüngste von vier Kindern – zwei Jungen und zwei Mädchen. Sein Vater Thomas, der auf einer Schaffarm in Hawes, Wharfedale, auf die Welt kam, konnte weder lesen noch schreiben und ließ seinen Sohn fälschlicherweise als Wilson ins Geburtsregister eintragen. Als er ins Standesamt ging, war Wilson der einzige Name, an den er sich erinnerte. Thomas hatte sich in meine Oma Hannah Whitaker verliebt, die Tochter eines Reisigbesenmachers. Für die, die es nicht wissen: Ein Reisigbesen ist ein aus Ästen gemachter Besen, den man überwiegend draußen benutzt. Hannah arbeitete gerne als Dienstmädchen in einem Haus namens Club Nook Farm in der Nähe von Skipton, aber wohnte mit ihrer Familie in dem kleinen Dörfchen Hubberholme. Da es keine Transportmöglichkeiten gab, ritt Thomas an den Wochenenden auf seinem Pferd die 16 Kilometer hin und zurück, nur um ihr den Hof zu machen.
Nachdem das Paar in der Pfarrkirche von Hubberholme geheiratet hatte, zogen die beiden nach Keighley, wo mein in Bradford als Steinmetz ausgebildeter Großvater die Ausführung von Bauarbeiten übernahm, da er in der Landwirtschaft keine Zukunft für sich sah. Einer seiner ersten Aufträge bestand darin, eine Mauer um das 120 Hektar große Grundstück von Cliffe Castle zu errichten, ein großes Privatanwesen, aus dem man später ein Museum machte. Er benötigte vier Jahre dazu, und man entlohnte ihn mit sechs Pence die Stunde. Als er damit fertig war, beauftragte ihn der lokale Steinbruchbesitzer mit dem Bau von vier Häusern in der Gegend von Parkwood, um seine überschüssigen Steinblöcke loszuwerden. Das führte allerdings zum Bau eines ganz neuen Wohngebiets. Thomas hatte einen guten Ruf und sein Gewerbe florierte, woraufhin der ansässige Baronet Sir Prince Prince-Smith mit der Bitte an ihn herantrat, einige Geschäftsgebäude in der Cavendish Street zu errichten. Danach ging es weiter, und er baute einige der bekanntesten Wahrzeichen des Distrikts, darunter einige Mühlen, die Stadthalle, den Jubilee Tower, das Strong Close Works, Anbauten an der historischen Whinburn Hall, einige Stallungen, drei Schulen, das Star Hotel und verschiedene Gebäude in Bradford.
In Keighley bestimmte die Fertigung von Wolltextilien das Arbeitsleben. Große Firmen konzentrierten sich auf alle nur erdenklichen Aspekte dieses Industriezweigs, was von der vorbereitenden Verarbeitung und dem Spinnen der Wolle bis hin zur Herstellung von Waschmaschinen und ähnlichen Gerätschaften reichte. Daneben existierte ein riesiger Wirtschaftsbereich, in dem bis zu 6000 Beschäftigte die komplexen Maschinen für die Textilindustrie entwarfen, bauten und installierten. Dazu gehörten diverse Werkzeuge, Webstühle und Drehbänke, alles gedacht zur Stoffproduktion.
Dank des Erfolgs meines Großvaters verfügte die Familie über finanzielle Mittel, die Wilfred und seinen drei Geschwistern die Bildung ermöglichte, die dem Familienoberhaupt vorenthalten blieb. Allerdings bezeichnete man sie damals als „Halbzeitschüler“, da sie eine Hälfte des Tages in der Schule verbrachten und in der anderen irgendeiner Beschäftigung nachgingen. Mein Vater verließ die Schule mit 14 Jahren und trat dem Familienunternehmen bei, wo sein älterer Bruder William, auch Billy gerufen, bereits angestellt war. Thomas Moore & Sons führten damals ihr Geschäft von einem Grundstück in der Alice Street aus, von dem aus Shire Horses, muskulöse Arbeitspferde, die schweren Karren zogen. Mein Großvater wünschte sich ein Wohnhaus, das seinen Erfolg zeigte, und errichtete ein großes, frei stehendes Gebäude in der Banks Lane 90 in Riddlesden, damals noch ein am Stadtrand gelegenes Dorf. Er taufte sein neues Heim „Club Nook“ nach der Farm, wo er meiner Großmutter Hannah das erste Mal begegnet war. Nach der Fertigstellung verließ die Familie das alte Haus in der Skipton Road, das den Namen Hazelroyd trug. Sie schauten nie wieder zurück.
Club Nook war ein feines Steingebäude mit einer burgähnlichen Fassade und einem kleinen Mauerturm mit einem Fahnenmast. Es verfügte über einige ungewöhnliche dekorative Merkmale wie Buntglasfenster, Stürze aus massiven Steinen und schwere Eichentüren, alles Bestände von anderen, größeren Anwesen, die Opa im Laufe der Jahre demontiert und renoviert hatte. Er liebte Pferde und besaß viele Jahre lang – bis zur Ankunft der Automobile – privat ein Zugpferd und eine Kutsche. Großvater erwarb für die Bauwagen des Unternehmens die besten Shire Horses und bestand darauf, dass man sie in blitzblank gepflegten Ställen aufs Vorzüglichste behandelte. Ihre Schönheit war so überwältigend, dass man die Tiere für die Gala oder andere Anlässe in der Stadt zur Verfügung stellte. Neben seinem Haus, dem Club Nook, befand sich eine Garage für Opas geliebten De Dion-Bouton, die so penibel wie die Stallungen gebaut worden war. Man setzte dort sogar Buntglasfenster ein! Die Leute tuschelten, dass er das schicke französische Vehikel so gut wie seine Pferde behandelte. Es wurde sorgsam bis auf den kleinsten Zentimeter poliert und durfte nie bei Regen gefahren werden. In der Familie kursierte der Witz, dass man für die Karosse jeden Morgen frisches Wasser und Heu bereitstellen musste und das sie nachts in Stroh gebettet wurde.
Nachdem sich Thomas im Club Nook eingelebt hatte, baute er in nächster Nähe vier weitere Häuser. Onkel Bill und seine Frau Edith (die man Elise rief) wohnten direkt nebenan – in einem auf den Namen Westville getauften Gebäude –, und ein Grundstück weiter befand sich das Haus von Tante Jane und ihrem Mann. Die anderen wurden verkauft, und man versprach meinem Vater Wilfred, immer noch alleinstehend und zu Hause lebend, dass er eines Tages Club Nook erben würde. Seine Schwester Maggie, die Vierte in der Reihe der Geschwister, erhielt überhaupt nichts. Sie war das schwarze Schaf der Familie, da sie gegen den ausdrücklichen Wunsch meines Großvaters „unehrenhaft“ mit einem Mann durchbrannte und dann zu allem Überfluss auch noch um Geld bat, um mit ihm in die USA auszuwandern. Wutentbrannt schrie Opa, dass er ihr die Überfahrt bezahlen würde, aber keine Rückreise. Das machte er auch, doch Maggie kehrte später allein wieder zurück und bekam nie ein Haus. Sie heiratete einen ortsansässigen Schreiner und blieb von der Familie für immer ausgestoßen.
Mein Vater war recht klein und schmächtig, nicht viel größer als 1,50 Meter, aber ein von Natur aus künstlerisch veranlagter Mensch. Er liebte Tiere, Blumen und die Natur, interessierte sich für Geschichte und Handwerk. Schon in frühen Jahren begann er sich mit der Fotografie zu beschäftigen. Er benutzte eine schwere und sperrige Kamera, um Fotos von der Stadt und den Einwohnern und – später – von seinen preisgekrönten Hühnern und Dahlien (für die er viele Trophäen ergatterte) zu schießen. Vater hegte die Hoffnung, eines Tages professioneller Fotograf zu werden, doch mit 21 Jahren infizierte er sich mit einem mysteriösen Virus, durch das er auf beiden Ohren taub wurde.
In einer Ära, in der die Medizin nicht so fortschrittlich war wie heute, konnte ihm niemand die tatsächliche Ursache für die Behinderung erklären. Fest stand: Es gab keine Therapie. Die Nachricht war allein schon niederschmetternd, doch dann wurde ihm klar, dass ihm sein angeschlagener Gesundheitszustand eine Karriere als Fotograf unmöglich machte. Überhaupt stand ihm keine berufliche Laufbahn mehr offen, und so blieb ihm nichts anderes übrig, als im Familienunternehmen zu bleiben, und er war ständig auf die Unterstützung seiner Angehörigen ohne Hörbehinderung angewiesen.
In seiner außergewöhnlich stillen Welt entwickelte er eine gewisse Geschicklichkeit als Lippenleser. Da er sich alles selbst beibrachte, war diese Fähigkeit aber recht primitiv ausgeprägt. Damals gab es noch keine Ausbildungsinstitutionen für Taubstumme und so gut wie gar keine Hilfe aus dem medizinischen Bereich. Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts blickte man auf taube Menschen als „krank“ und „unterlegen“ hinab, sie waren Ausgestoßene der „normalen“ Gesellschaft. Man empfahl ihm sogar, niemals zu heiraten, da die Angst bestand, er könne die Behinderung vererben. Ohne Zugang zur Gebärdensprache, die damals weder gelehrt noch gefördert wurde, konnte er andere nur verstehen, wenn sie ihm in sein Ohr hineinbrüllten. Das machte normale Gespräche unmöglich und versperrte den Zugang zur Musik und zum Gesang der Vögel. Er muss sich sehr isoliert gefühlt haben.
Vaters Behinderung wirkte sich allerdings auch gnadenvoll aus, denn sie schützte ihn vor den Schrecken des Großen Krieges [der Große Krieg ist ein in Großbritannien häufig genutztes Synonym für den Ersten Weltkrieg], die er sonst hätte ertragen müssen. Die kriegerischen Auseinandersetzungen mit den Deutschen in den Jahren 1914–1918 begannen, als er 21 Jahre alt war. Sie entfachten im ganzen Land eine riesige Welle des Patriotismus, und Tausende verpflichteten sich freiwillig für Lord Kitcheners „Bataillone von Freunden“, in denen man Freunde, Nachbarn und Verwandte zum gemeinsamen Militärdienst ermutigte, damit sie sich gegenseitig und andere auf dem Schlachtfeld unterstützen. Sich gemeinsam in Gruppen zur Armee zu melden, war besonders in den Städten des Nordens populär, in denen sich ganze Straßenzüge verpflichteten. Die meisten der Männer fielen zusammen in dem vierjährigen brutalen Gemetzel, das die Leben von zehn Millionen Soldaten forderte. Ganze Nachbarschaftsverbände wurden ausgelöscht, es gab Straßenzüge voller Witwen. Fast 2000 Männer der „Bradford Pals“ und 750 der 900 „Leeds Pals“ – ein Teil des West Yorkshire Regiments – starben in nur einer Stunde an der Somme, da sie direkt in einen Kugelhagel der Deutschen marschierten. In nur einem einzigen Jahr verlor Keighley 269 junge Männer und am Ende des Kriegs waren alle 900 tot. Ihrer wird mit einem imposanten Steindenkmal gedacht, das die Firma meines Großvaters errichtete und das immer noch auf dem Platz vor der Stadthalle steht. Auch den anderen Männern der Familie Moore blieben die Schützengräben erspart. Mein Großvater Thomas hatte mit 36 Jahren das Höchstalter überschritten und mein Onkel Billy, damals 33 Jahre alt, wurde nicht eingezogen. Die Gründe dafür sind mir nicht gewahr. Meine Mutter Isabella zeigte sich mehr als erleichtert, dass mein Vater in Sicherheit war wie auch ihre drei Brüder Arthur, Thomas und Harry. Sie arbeiteten in der Produktion von Rüstungsgütern und Munition, zwei in Luftschiffhangars in der Grafschaft Cumbria und bei Cardington in Bedfordshire und der dritte im Wollwich Arsenal.
Isabella Hird war mit unter 1,50 Meter noch kleiner als mein Vater und arbeitete als Direktorin in einer örtlichen Schule. Sie hatte schon früh ein Auge auf Dad geworfen und war fest entschlossen, ihn zu erobern. Körperlich gesehen, ergaben sie ein gutes Paar, und nach einer kurzen Zeit des Umwerbens kam es zu geschickt inszenierten Begegnungen: Sie kannte seinen Arbeitsweg und wartete immer an der Ecke High Street/Low Street, wo sie hinter dem Fenster eines Geschäfts Ausschau nach ihm hielt und dann plötzlich aus dem Laden schoss, so als sei es Zufall gewesen. Ihre clevere Strategie funktionierte, woraufhin die beiden am 26. April 1916 in der Kirche in Oakworth heirateten. Mit 30 Jahren befand Mutter sich in einem Alter, in dem andere sie zu jener Zeit als „alte Jungfer“ bezeichnet hätten, doch ich fand es einfach nur mutig von ihr, einen tauben Mann zu ehelichen. Ihm „nachzustellen“ erwies sich als richtig, denn sie waren während ihrer neunundvierzigjährigen Ehe stets glücklich.
Die frisch Vermählten zogen in die Cark Road 14 in Keighley, in ein zweistöckiges Reihenhaus mit ausgebautem Dachboden und einem großzügig geschnittenen Keller. Die vordere Fassade war hübsch gestaltet, doch an der Rückseite befand sich ein abschüssiges Gelände in Richtung der Flasby Street mit einer angrenzenden „Ginnel“, ein Wort, das hier im Norden eine Gasse zwischen Gebäuden beschreibt. Neben der Hintertür fand sich ein rundes Loch, durch das man bei der Anlieferung die Kohle schüttete. Meine Schwester Freda wurde 1917 zu Hause geboren, kurz vor der weltweiten Pandemie – der Spanischen Grippe –, durch die Millionen ums Leben kamen, davon allein 220 000 in Großbritannien. Die tödlichste Pandemie der Geschichte wütete in vier verschiedenen Wellen, zwei 1918, eine 1919 und die letzte im Frühjahr 1920. Als Baby war Freda während dieser Zeit natürlich besonders anfällig, und gegen Ende der Pandemie war meine Mutter mit mir in Umständen.
Glücklicherweise war kein Familienmitglied direkt von der Grippe betroffen, doch dem Grauen konnte man nicht ausweichen. Im Kriegsgefangenenlager in Raikeswood, 15 Kilometer von Skipton entfernt, hielten sich 700 deutsche Soldaten auf, und dort verbreitete sich das Virus rasend schnell. Mehrere Wachen starben und Hunderte von Gefangenen infizierten sich. 1919 brachte man 90 von ihnen in das Fever Hospital in Morton Banks im Vorort Riddlesden, wo 47 verstarben. Sie wurden mit allen militärischen Ehren auf dem Friedhof von Morton beigesetzt.
Ich gesellte mich am 30. April 1920 zu meiner Familie, wenige Monate nachdem das Virus endlich abgeebbt war. Es waren circa eineinhalb Jahre seit dem Kriegsende vergangen, und genau an diesem Tag hob die britische Regierung unter Premierminister David Lloyd George die allgemeine Wehrpflicht auf. Wie Freda kam auch ich zu Hause auf die Welt, wobei Oma Fanny half, denn Hebammen mussten bezahlt werden. Außerdem gab es nur wenige und sie wohnten meist weit entfernt. Erst kurze Zeit davor war die Tätigkeit offiziell als Beruf anerkannt worden. Zum Glück aller Beteiligten war meine Geburt nicht besonders beschwerlich. Damals machte ich meiner Mutter keine allzu großen Mühen! In meinem Geburtsjahr saß Georg V. auf dem Thron, Winston Churchill war Kriegsminister, Rupert Bear wurde als Comic-Figur im Daily Express geboren und die Suffragette Sylvia Pankhurst wurde für sechs Monate ins Gefängnis geworfen, da sie für das Frauenwahlrecht demonstriert hatte – ein Recht, dessen Verwirklichung noch acht Jahre auf sich warten ließ. Als ich auf dieser Welt ankam, gehörte ich zu den 1,1 Millionen Geburten im Land, die höchste Rate seit Beginn der Aufzeichnungen. Auch für den Duke of York war es ein wichtiges Jahr, denn er begegnete Elizabeth Bowes-Lyon, einer Lady, aus der die allseits geliebte Queen Mother unseres Landes wurde.
Ich lebte die ersten elf Jahre mit meinen Eltern und Freda in der Cark Road und fühlte mich dort sehr glücklich. Es gab keine Elektrizität, aber wir hatten Kerzen und einige Gas-Leuchtkörper. Der Geruch von Rauch führt mich immer direkt in die Kindheit zurück. In meinem kleinen Zimmerchen hinten im Haus, direkt unter Fredas Dachbodenzimmer, befand sich ein Gasbrenner mit offener Flamme, während wir unten in der Küche die lichtspendenden Gasglühstrümpfe hatten, was für die damalige Zeit recht ungewöhnlich war.
Verglichen mit anderen Gebäuden in der Stadt war unser Haus relativ modern. Es verfügte über eine Wohnküche mit einem großen und durch Kohle befeuerten Kochherd und einem separaten Gasofen vor der Kellertreppe. Wir wuschen die Wäsche im Keller, in einem „Topf“ über dem Gasfeuer. Der schwere gusseiserne Hauptboiler wurde von der Rustless Iron Company (Trico) in Keighley produziert, die ihn millionenfach auf der ganzen Welt verkaufte und darauf sehr stolz war. In dem Boiler wurde das Wasser erhitzt, das dann durch Leitungen ins Badezimmer kam. Wir konnten uns einmal die Woche – und zwar an Freitagabenden – ordentlich mit warmem Wasser waschen! Alle Häuser in unserer Straße verfügten über Toiletten mit Wasserspülung, was auch ungewöhnlich war, da viele der ärmeren Anwohner nahe des Gaswerks immer noch gemeinsame Plumpsklosetts benutzen mussten. Die Anwohner gingen mit dicker Kleidung zu Bett, damit sie nicht froren, wenn sie nachts zum Toilettengang nach draußen mussten.
Wie die meisten Frauen in dieser Zeit führte Mutter ein strenges Regime, und Montag war Waschtag. Wenn es regnete und die Wäsche nicht draußen trocknen konnte, wurde daraus immer ein ausgewachsenes Drama. Mrs. Maskell, unsere Haushaltshilfe, kam montags an, füllte zuerst den „Topf“ und zündete das Gasfeuer darunter an. Dann machte sie sich mit Mutter – manchmal mit der Hilfe von Freda und Tante Jane – ans Waschen. Danach schöpfte man das Schmutzwasser mit einer „Kelle“ ab. Sie ähnelte einem Humpen mit hölzernem Griff. Die Wäsche wurde bei gutem Wetter draußen und bei schlechtem drinnen auf ein Trockengitter gehängt. Es bestand aus einer Reihe von länglichen Rundhölzern, das man mit einem Seilsystem bis zur Decke zog. Wir besaßen zudem eine Mangel mit schweren Holzwalzen, mit denen das Wasser aus der frisch gesäuberten Wäsche gepresst wurde. Eines Tages, ich war gerade nicht zu Hause, kam Freda mit dem Zeigefinger der rechten Hand zwischen die Walzen, was zu einem Splitterbruch führte. Allen Berichten nach brüllte sie wie am Spieß, und es war sicherlich extrem schmerzhaft. Mich als größtenteils nichts verstehenden und dadurch mitleidslosen kleinen Bruder faszinierte eher die Tatsache, dass der Finger so krumm verheilte, dass er für den Rest ihres Lebens einem Papageienschnabel ähnelte.
Dienstag war der Bügeltag, Mittwoch der Markttag, am Donnerstag stand das Backen an erster Stelle und am Freitag putzte man. Wie bei allen Hausfrauen aus Yorkshire wurden die Treppenstufen vor dem Haus akribisch und exzessiv gereinigt, da das als Indiz für eine gute und saubere Frau galt.
Als ich fünf war, unterbrach Mum aufgrund einer Schwangerschaft ihren wöchentlichen Ablauf. Eines Tages ging sie ins Krankenhaus, um das Baby zur Welt zu bringen. Traurigerweise kehrte sie allein zurück. Darüber wurde nicht gesprochen, ich erfuhr nur, dass der Name meiner verstorbenen Schwester Wendy lauten sollte. Erst viel später erkannte ich die Bedeutung dieses Schicksalsschlags und spürte, wie traurig sich meine Eltern gefühlt haben müssen.
Kurz danach war ich mit einem Krankenhausaufenthalt an der Reihe, da ich hohes Fieber bekommen hatte. Unser Hausarzt Dr. Chalmers diagnostizierte Scharlach, und man brachte mich ins Fever Hospital in Morton Banks, wo die deutschen Kriegsgefangenen nach dem Großen Krieg an der Spanischen Grippe verstorben waren. Mein Vater war ein gütiger und liebenswerter Mann, doch man „erlaubte“ Kindern damals keine Krankheit, und so zeigte er sich nicht sonderlich erfreut darüber, dass ich ins Krankenhaus kam. Normalerweise lief das bei uns nämlich so: Wenn wir uns etwas eingefangen hatten, kaufte man ein Fläschchen Medizin in der Drogerie oder ließ sie sich vom Arzt geben und flößte uns das Zeug ein. War die Prozedur vorüber, mussten wir uns besser fühlen – da gab es keine Diskussion. Hatten wir eine Erkältung, wurde uns ein volles Glas der bitteren, klaren „Fennings Fever Mixture“ verabreicht – der „Familienmedizin“ –, die so abscheulich schmeckte, dass wir uns augenblicklich zur Genesung entschieden. Ich schätze mal, das war auch die Absicht.
Scharlach ist eine komplexe bakterielle Infektionskrankheit, gegen die sogar Fennings nichts ausrichten konnte. Sie war hochgradig ansteckend, und auf meiner Station litten noch andere Kinder daran. Als meine Eltern mich besuchten, durften sie mir nur durch ein Glasfenster zuwinken. Ich werde niemals Mutters tapferes und zugleich ermutigendes Lächeln vergessen. Sie hätte sich keine Sorge machen müssen, da die Krankenschwestern sich gut um mich kümmerten, doch ich durfte erst nach Hause, als die Haut wieder glatt und der Schorf meines Ausschlags verschwunden war.
Manchmal versterben Menschen an Scharlach, doch bei mir zeigten sich keine kurz- oder langfristigen Auswirkungen. Schon bald war ich wieder zu Hause und flitzte überall herum. Mrs. Maskell witzelte immer gegenüber meiner Mutter: „Yr Tom tows a sel wi lakin’“, ein Mix aus dem Yorkshire-Dialekt und dem Irischen, was so viel bedeutet wie: „Dein Tom wird sich schon müde spielen.“ Und spielen – das tat ich, und ich erinnere mich nie an irgendeine Müdigkeit. Ich war schon damals aktiv und blieb es mein ganzes Leben lang. Um mich aus der Bahn zu werfen, brauchte es mehr als läppisches Scharlach.