Читать книгу Morgen wird ein guter Tag - Sir Thomas Moore - Страница 8
ОглавлениеProlog
Ich hörte sie schon lange, bevor ich sie sah. Das satte Dröhnen ihrer Motoren aus dem Zweiten Weltkrieg hallte in den Hörgeräten wider, während ich am Morgen meines 100. Geburtstags draußen im Garten saß. Mit einer Decke um die Schultern zum Schutz vor der kühlen Aprilluft schaute ich hoch in den Himmel. Ich entdeckte zuerst die schnittige Hurricane, die in einer Kurve von Westen kam, um mich an dem großen Tag zu ehren, indem sie über mein Haus flog. Kurz danach sah ich die Spitfire, dieses kleine, kraftvolle Flugzeug, das die Herzen der Nation eroberte und für den britischen Geist stand.
Als die beiden Maschinen im Tiefflug über meinen Garten hinwegsausten, „wippten“ die beiden Piloten von der Royal-Air-Force-Einheit Battle of Britain Memorial Flight netterweise mit den Flügeln, bevor sie sich wieder auf den Rückweg zu ihrem Flugplatz in Coningsby machten. Ich erhob eine geballte Faust, boxte in die Luft und jubelte mit den anderen, begeistert von dieser hinreißenden Geste, die uns alle daran erinnert, was dieses Land so großartig macht. Es ist die Kraft – symbolisiert durch die Flugzeuge –, die uns auch durch die Zeit der Coronapandemie bringen wird. Da war ich mir inmitten aller Zwänge des Lockdowns sicher.
Vor 80 Jahren sah ich meine erste Hawker Hurricane, die in einer Dreierstaffel über unser Tal in Yorkshire schoss, an dem Tag der Kriegserklärung. Ich war 19 Jahre alt und erinnere mich, dass ich damals dachte: „So, das also bedeutet Krieg.“ Als Soldat in der Ausbildung sah ich später in Cornwall noch mehr Hurricanes und Spitfires, die in der Luftschlacht um England tapfer deutsche Messerschmitts abwehrten. Und es waren wieder Spitfire, die uns im 8000 Kilometer entfernten Burma dabei unterstützten, die Japaner zu besiegen, während wir sie mit unseren Panzern angriffen.
Als die Reliquien dieser dunklen Zeiten hinter den Wolken verschwanden und der Überflug zu meinem Geburtstag vorüber war, drehte ich mich zu den Filmteams hinten im Garten um und sagte: „Ich kann nicht glauben, dass dieser ganze Wirbel mir gilt – nur weil ich ein bisschen spazieren gegangen bin.“ Tatsächlich übertrafen die Ereignisse der letzten 25 Tage meine Vorstellungskraft, denn alles, was geschah, ging zurück auf einen kleinen Witz in der Familie, während ich mich von einem Hüftbruch erholte. Die Idee für den Spenden-„Lauf“, der mein Leben auf den Kopf stellte, kam wenige Wochen nach der routinemäßigen Nachuntersuchung in der örtlichen chirurgischen Ambulanz auf. Wie üblich, hatte ich der Belegschaft ein wenig Schokolade mitgebracht, um sie aufzumuntern und ein bisschen zu unterstützen.
„Du bist wirklich ein Vorbild, Tom“, schwärmte Clare, eine meiner Lieblingskrankenschwestern, nachdem ich ihr verraten hatte, dass ich über die Anschaffung eines Laufbands nachdachte. „Ich kann mir wirklich keinen 99-Jährigen vorstellen, der sich so einen Fitness-Trainer zulegen möchte!“
„Ihr seid es doch, die mir Mut machen“, entgegnete ich. „Ihr habt in den letzten 18 Monaten so viel Geduld und Einfühlungsvermögen bewiesen. Ärzte retteten das Leben meines Schwiegersohns. Und dann waren da noch die Pflegerinnen, die sich um meine verstorbene Frau Pamela kümmerten. Ich wünschte mir nur, mehr für euch tun zu können.“
Als ich mich in der Praxis verabschiedete, beschwor mich Clare, beweglich zu bleiben, und gab mir damit den Impuls für meinen kleinen „Lauf“ zu einer Zeit, in der das gesamte Land in den Lockdown musste. Es war Sonntag, der 5. April 2020, der erste durchgehend sonnige Tag des Jahres, an dem sich meine Tochter Hannah und ihre Familie, mit denen ich in Bedfordshire lebte, zu einem Barbecue in den Garten setzten. Statt die Übungen in meinem Zimmer zu absolvieren, entschied ich mich erstmals, mit dem Rollator nach draußen zu gehen und einige Runden auf der 25 Meter langen Einfahrt zu drehen. Die anderen machten ihre Witzchen und begannen mich aufzuziehen.
„Mach weiter, Opa“, heizte mich Benjie an, während er die Burger umdrehte. Die elfjährige Georgia deckte gerade den Tisch und Hannah sagte beiläufig: „Mal sehen, wie viel du schaffst.“ Ihr Mann Colin ergänzte: „Wir geben dir ein Pfund für jede Runde. Schauen wir mal, ob dir 100 Runden bis zu deinem 100. Geburtstag gelingen.“ Das sollte natürlich ein Scherz sein, denn in den anderthalb Jahren nach meiner Hüftoperation war ich noch nie so weit gegangen. Doch als ich mich aufmachte, einen Schritt nach dem anderen, dachte ich darüber nach, was sie gesagt hatten. Was wäre, wenn ich ein wenig Geld sammeln könnte, um es den Krankenschwestern und den anderen Pflegekräften zukommen zu lassen, die sich schon so viele Jahre um uns kümmerten? Und wie viele Runden würde ich vor meinem
100. Geburtstag schaffen, um ihnen beim Kampf gegen Covid-19 zu helfen? Vielleicht gelänge es Hannah, genügend Leute zum Spenden zu bringen? Mit dem Geld könnte man die kleine Armee der Pflegenden, die an vorderster Front kämpft, durch einen kleinen Beitrag unterstützen. Doch zuerst musste ich eine Runde schaffen.
Zwei Jahre früher wären mir problemlos tausend Runden oder sogar noch mehr gelungen, doch nach einem unglücklichen Sturz in der Küche, bei dem ich mir die Hüfte brach und sich eine gebrochene Rippe in meine Lunge bohrte, wäre es für mich beinahe aus gewesen. Ich muss zugeben, dass die darauf folgende Beweglichkeitseinschränkung mein Selbstvertrauen minderte und die Unabhängigkeit stark beeinträchtigte. Vor dem Ereignis war ich fit und wohlauf gewesen – ich fuhr Auto, mähte den Rasen und erledigte auch den Großteil der Gartenarbeit, wobei ich sogar mit einer Kettensäge hantierte. Mit über neunzig reiste ich noch allein nach Nepal und Burma, weil ich den Mount Everest sehen wollte. Ich flog über den Gipfel des Berges und schickte einige Postkarten nach Hause. Das Leben sollte gelebt werden, und ich habe immer daran geglaubt, dass das Alter kein Hindernis darstellt.
Nachdem ich an diesem Sonntag die erste Runde geschafft hatte, wendete ich vorsichtig den Rollator und versuchte eine zweite. „Na, siehst du“, lachte Hannah ermutigend. „Du wirst dir noch einen Fünfer verdienen!“ Insgeheim fragte ich mich, ob mir überhaupt die zweite Runde gelingen würde, doch mit der frotzelnden Familie im Nacken gab es nur einen Weg – nach vorn. Sie kannten mich gut genug, um zu wissen, dass ich mein Bestes geben würde. Das Wort eines Mannes aus Yorkshire wird zu seiner Pflicht! Bevor ich mich versah, hatten sie für mich eine Spendenseite im Internet eingerichtet mit dem Ziel, dass tausend Pfund zusammenkommen sollten. Danach nahmen sie Kontakt mit den lokalen Medien auf und trommelten dafür, mich zu unterstützen. Sie nannten es „Walk with Tom“ und überließen mir den Rest.
Die darauf folgenden Ereignisse sind schwer vorstellbar, sogar jetzt noch. Ich machte mich zu einem klitzekleinen „Lauf“ auf, doch die Aktion schien einen Nerv zu treffen. Als ich langsam und vorsichtig meine Runden zog, Schritt für Schritt, Tag für Tag, ging die kleine Spendenaktion „viral“, und mein Ziel war schon innerhalb von 24 Stunden mehr als erreicht. Blitzschnell standen Journalisten am Tor, Fernsehteams warteten im Garten, und ich trat im Frühstücksfernsehen auf. Während die Spenden unaufhaltsam eintrudelten, ging ich unbeirrt weiter. Das ganze Abenteuer wurde so surreal und aufregend, meine Beweglichkeit verbesserte sich und ich genoss jede Sekunde. Niemals hätte ich mir in meinen beinahe 100 Jahren auf dieser Welt vorstellen können, wie viel wir schließlich einnehmen würden.
Ich empfinde Demut und Dankbarkeit für all die Liebe, die mir von nah und fern zuteilwurde, und mich beeindruckt die Großzügigkeit und Güte der wunderbaren Menschen, die dazu beitrugen. Und das begann alles als ein ganz kleiner Versuch eines alten Mannes, etwas zu tun. Die Spendenaktion hat meine kühnsten Träume bei Weitem überstiegen. Ich möchte mich bei allen aus tiefstem Herzen bedanken – nicht nur für die Spende an den National Health Service, sondern auch für den wundervollen, erhebenden Aufschwung, den meine Familie und ich dadurch erlebten.
Bevor das alles geschah, war ich ein ruhiger, kleiner Mensch, der seine Tage friedvoll verlebte und auf sein Leben zurückblickte, ein Leben mit einer langen und glücklichen Ehe, zwei reizenden Töchtern und vier tollen Enkeln. Ich bereitete mich auf den VE Day [Sieg in Europa] vor und den darauf folgenden VJ Day [Sieg gegen Japan], um den 75. Jahrestag des Weltkriegsendes feierlich zu begehen. Es war ein Krieg, in dem ich in Indien und Burma in der „vergessenen Armee“ gedient hatte. Und natürlich freute ich mich auf meinen
100. Geburtstag, der mit einer kleinen Party für Familie und Freunde gefeiert werden sollte, bevor ich mich wieder in mein bescheidenes Zimmer zurückzog.
Nach dem „Lauf“ schien nicht nur jeder meinen Namen zu kennen, sondern alle wollten mehr über mich erfahren. Nun kennt man mich auf der ganzen Welt als „Captain Tom“. Ich bin zutiefst bewegt, dass ich so viele Menschen zu ihren eigenen Spendenaktionen anregte, besonders die jüngere Generation, denn sie steht für die Zukunft. Alle sagen, dass meine Leistung bemerkenswert gewesen sei, doch vor allem war es bemerkenswert, was die Menschen für mich und vor allem für das ganze Land leisteten. Das hat mir sicherlich neuen Auftrieb gegeben.
Mit dem Angebot, diese Memoiren zu verfassen, das ich erstaunlicherweise in meinem hohen Alter erhielt, habe ich zugleich die Chance bekommen, noch mehr Spenden für die Wohltätigkeitsorganisation zu sammeln, die nun unter meinem Namen gegründet wurde. Die Ziele liegen meinem Herzen am nächsten und die Mission lautet, die Einsamkeit zu bekämpfen, Hospize zu unterstützen und denen zu helfen, die einen Todesfall verarbeiten müssen – alles im Kontext einer noch nie zuvor da gewesenen Krise, in der wir alle stecken. Ich fühle mich zutiefst geehrt, eine weitere Möglichkeit erhalten zu haben, dem Land zu dienen, auf das ich so stolz bin.
Dies – nun – ist meine Geschichte.
Tom