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Vorwort Von Erhart Neubert

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In den letzten Jahren ihres Bestehens war die DDR ein isolierter Staat, abgegrenzt gegenüber dem Westen und zunehmend verlassen von ihren sozialistischen »Bruderländern«. Diese kleine, graue und enge Provinz des einst so mächtigen kommunistischen Weltsystems fiel wie ein Kartenhaus zusammen, als sich 1989 die Zungen der Menschen lösten, als sie nach Freiheit riefen und als sie mit ihren Leibern die Mauern um sie herum sprengten. Dafür steht besonders der 9. November 1989. Es gab viele wichtige Tage in der friedlichen Revolution. Aber die Nacht des Mauerfalls ist das Symbol der radikalen Veränderung, die alle Menschen betraf, die jeden Lebenslauf auf neue Bahnen stellte.

Die Diktatur und ihre Zumutungen waren fast schon zur Normalität geworden. So riefen die Leute in der denkwürdigen Nacht »Wahnsinn, Wahnsinn«. Soviel Neues konnte nicht gleich verarbeitet oder verkraftet werden. Abgrenzung und Grenzen waren über Jahrzehnte in die Menschen hineingekrochen. Wer öffentlich redete, hütete seine Zunge oder sprach die falschen Propagandalosungen nach. Misstrauen und Angst hatte die Menschen zum Schweigen gebracht. Allenfalls in den eigenen vier Wänden wurden die Erfahrungen mit dem Regime ausgetauscht. Die Revolution veränderte auch das Sprechen, das Erzählen. Am Anfang riefen die DDR-Bürger Losungen gegen die Gewalt. Bald kamen spöttische und lustige Sprüche auf, die vom neuen Selbstbewusstsein zeugten. Und die Menschen wurden von einem unabweisbaren Bedürfnis nach offenem Sprechen erfasst. In den Kirchen, auf Versammlungen, auf den Marktplätzen ergriffen sie das Wort. Vielerorts hefteten sie ihre Botschaften an Tafeln und Pinnwände.

Bei manchen sprudelten die Worte wie ein Sturzbach, dessen aufgestautes Wasser sich einen Weg sucht. Es musste heraus, all die Demütigungen, die Ungerechtigkeiten und manchmal auch die eigenen Feigheiten wollten weggespült werden. Bei anderen dauerte es viel länger. Sie brauchen bis heute Zeit, ihre Erfahrungen zu erzählen, ihre Verletzungen auszusprechen und neue Perspektiven zu gewinnen.

Der Mauerfall hatte nachhaltige politische Wirkungen. Seine heilenden Kräfte für Deutschland und für Europa wirken bis heute. Noch nie war Europa so friedlich, noch nie so geeint. Aber heilend wirkt er auch auf Menschen. Allerdings nur, wenn sie Gelegenheit haben, öffentlich über ihre Befreiung, die äußere und die innere, zu reden. Solche Gelegenheiten bot dankenswerter Weise der Norddeutsche Rundfunk mit der Aktion »Grenzenlos im Norden – 20 Jahre Mauerfall«. Die hier veröffentlichten beispielhaften Texte des Projektes zeigen das anhaltende Sprechbedürfnis. Der Leser spürt geradezu, wie die Erzähler in der neuen Wirklichkeit ankommen und sich zurechtfinden.

Die Erinnerung an das lebenswendende Ereignis des Mauerfalls hält lebendig, was die Menschen einst bedrückte, ihre Verfolgungs- und Fluchtgeschichten, ihre Erfahrungen mit Trennungen und Versagungen. Vor allem aber schwingt in den Erzählungen auch Genugtuung und manchmal der Stolz mit an, dies überwunden zu haben und neue Wege gehen zu können. Sicher ist, dass ein freies Leben ohne Mauern nicht alle Probleme löst und neue Aufgaben stellt. Aber der Mauerfall hat allen ermöglicht, sich endlich im wahrsten Sinne des Wortes freizusprechen. Dem Buch ist zu wünschen, dass es viele Leser unter der jungen Generation findet, die jetzt ihre Freiheit genießen können. Sie brauchen die Erinnerungen der Zeugen, damit auch sie die Kostbarkeit der Freiheit nacherleben können.

Grenzenlos im Norden

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