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»Dann haben wir uns umarmt und geweint« Siegfried Mitschard
und das erste DDR-Sportboot auf Westkurs

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Sitzt man in Timmendorf an der Ostsee, sieht man bei klarer Sicht die Lichter der Badeorte an der Lübecker Bucht: Scharbeutz und Grömitz. Gemeint ist nicht das westdeutsche Timmendorf sondern das ostdeutsche Timmendorf auf der Insel Poel vor Wismar. »Wie oft habe ich dort nachts an der Mole gesessen«, erzählt Siegfried Mitschard, »habe die Lichter von Grömitz gesehen und gedacht: Was mag da bloß los sein? Warum darfst du da nicht hin? Ja, und mit einem Mal war es möglich!«

Wenn sich Siegfried Mitschard an 1989 erinnert, dann kann er an nichts anderes denken als an die Öffnung der Grenze. »Da komme ich nicht dran vorbei«, sagt er. Er spricht von seinem »Lebens-Erlebnis«, und wenn er spricht, dann in breitem Norddeutsch, ab und an snackt er op Platt. Die Geschichte von seiner persönlichen Grenzüberwindung ist untrennbar verbunden mit der Geschichte der Latovia. Ein Schiff ist die Latovia, sein Schiff, zehn Meter lang, Marke Eigenbau, Heimathafen ist der Jachtclub in Wismar-Wendorf. Sein »Wochenendhaus«, sagt er liebevoll, sei das Motorboot jahrelang gewesen.

Es gibt alte Fotos von der Latovia, einem Schiff aus Eichenholz. Auf einem weißen angeschraubten Schild steht der Name in geschwungenen blauen Lettern. Siegfried Mitschard ist auf einem der Fotos zusammen mit seiner Frau und seiner Tochter zu sehen, lässig hat er den linken Fuß auf der Reling abgestellt, der Himmel über der Ostsee ist strahlend blau. Gekauft hat er die Latovia Anfang der 1980er Jahre von einem Wismarer Zimmermann, der das Schiff in seinem Garten selbst gebaut hat. Die Latovia wurde dann völlig umgebaut, besonders die Kabine hat er komplett neu verkleidet. Ganz nach seinen Vorstellungen, erzählt er nicht ganz ohne Stolz, zu einer »richtig schicken Jacht« habe er das Schiff gemacht. Nun ja ..., er muss selbst ein wenig schmunzeln, genau genommen sehe man vieles nach heutigen Maßstäben natürlich etwas anders, aber damals, ja damals sei die Latovia richtig schick gewesen.

Viel Arbeit sei das gewesen mit so einem Holzboot, erinnert er sich, da sei immer etwas zu tun gewesen. Vor allem sei es stets um die Frage gegangen: Woher nehmen? Woher die Farbe bekommen? Woher dies, woher das? Die Materialbeschaffung in der sozialistischen Mangelwirtschaft habe so funktioniert: Als gelernter Schlosser arbeitet er damals als Meister bei der Technikabteilung des VEB Kraftverkehr Wismar: Wenn ein Lkw verschrottet wird, sichert er sich, was noch zu gebrauchen ist. Lichtschalter, Zündschlösser, alles, was nicht niet- und nagelfest ist, wandert in die Kiste von Siegfried Mitschard. Und dann, erzählt er, dann gibt es immer so einen Kreis von Leuten, die sich sympathisch sind, im Verein, auf der Arbeitsstelle. Und da habe er einfach dazugehört, man habe sich gegenseitig geholfen. Wenn damals einer zu ihm kommt, weil er für seinen Scheibenwischer einen Schalter braucht, kramt er in seiner Kiste und kann aushelfen. Im Gegenzug bekommt er jede Menge feine Sachen für seine Latovia, besonders von den Arbeitern der Mathias-Thesen-Werft in Wismar. »Ganz edle Sachen«, erinnert er sich, »beispielsweise Messingschrauben, die es nirgends zu kaufen gab.« Damals ist er Mitglied und zeitweilig auch Vorsitzender im Betriebs-Anglerverband Ostseetrans. Ohne eine entsprechende Mitgliedschaft habe es gar keine Liegeerlaubnis für ein Boot gegeben. Das »gesellschaftliche Engagement« bringt zugleich Punkte beim sozialistischen Wettbewerb im Betrieb. Deshalb nimmt er auf der Latovia des öfteren Angler aus dem Betrieb mit. »Das zählte«, sagt er, »dafür gab es Punkte. Und Vergünstigungen.« Zum Beispiel darf er an der Tankstelle 200 Liter Diesel für sein Schiff abzwacken, für die nächste Angeltour mit Kollegen.

Seit er stolzer Sportbootbesitzer ist, dient das Boot gewissermaßen als Datsche der Familie. Meist verbringen die Mitschards ihren Urlaub auf der Latovia, dann liegen sie in der Wismarer Bucht vor Anker, eine Woche lang, und lassen es sich gut gehen. »Als wir schon nachts draußen ankern durften«, fügt er hinzu. Schließlich habe es auch eine Zeit gegeben, als man nach Sonnenuntergang im Hafen sein musste. Irgendwann seien die Vorschriften gelockert worden, dann durften die Boote auch über Nacht vor Anker liegen. Nur Angeln durfte man nachts nicht, erinnert er sich. Er hat trotzdem geangelt, »und dann immer mit einem Auge geguckt, ob die Polizei nicht kommt«.

Mit Angeltouren verdient Siegfried Mitschard sich auch ein wenig Geld dazu. Ab und an fährt er mit einem Trupp Angler am Wochenende raus. Für 10 Personen ist die Latovia damals zugelassen, jeder zahlt 5 Mark, und schon ist wieder genug Geld beisammen für eine Dose Lack fürs Schiff. Es gibt damals regelrecht Stammgäste auf der Latovia. Eine Angeltour muss beantragt und lange im Voraus geplant werden. Siegfried Mitschard ahnt nicht, dass eine für den 11. November 1989 geplante Fahrt zwei Tage nach der Erstürmung der Mauer in Berlin stattfinden wird.

Zwanzig Jahre nach der Grenzöffnung von 1989 hat Siegfried Mitschard sein »Lebens-Erlebnis« aufgeschrieben. Sein Bericht beginnt so: »Am 11.11.1989 meldete ich mich mit meinem Motorboot bei der Passkontrolleinheit in Timmendorf-Poel zur Einreise in die Grenzgewässer der DDR ab. Mein Schiff musste die Registriernummer C-1–1009 beiderseits am Vorschiff tragen.« An Bord sind an diesem Tag sieben angelnde Arbeiter aus dem Plastmaschinenwerk in Schwerin. Die Latovia steuert die damalige Wracktonne in der Wismarer Bucht an. Dorsch wollen die Männer an den Haken bekommen. Sie angeln und angeln, nichts beißt an. Nebenbei hören die Männer Bordradio, nicht Radio DDR, sondern Radio Schleswig-Holstein.


Fotos: Peter Matera / Bundespolizeiakademie Lübeck

Die Männer auf See hören, was an Land los ist. »Die ganze DDR war ja unterwegs«, erinnert sich Siegfried Mitschard, da sei ihm so ein Gedanke gekommen: »Mensch, hier beißt doch nichts, wir können auch rüberfahren. Was wollen die uns eigentlich? Die Grenzen sind schließlich auf.« Und so, erzählt er, ging das dann los. Und doch ist er bei aller Spontaneität umsichtig. Er versammelt die zufällig zusammengewürfelte Crew im Fahrstand der Latovia und hält eine kleine Ansprache, er habe Lust, rüberzufahren, soundso, die Tour in den Westen sei aber nicht an einem Tag zu schaffen. Sie müssten über Nacht bleiben, ob irgendeiner Lust habe, mit ihm zu kommen. Er weiß, er würde sich mächtig Ärger einhandeln, wenn er einen seiner Fahrgäste gegen dessen Willen über die Grenze bringt. Alle sind begeistert von der Idee, bis auf einen, der anfangs etwas zögerlich ist, zu guter Letzt aber in den Plan einwilligt.

Und so steuert Siegfried Mitschard die Latovia an diesem 11. 11. 1989 in unbekanntes Gewässer, er hat keine Ahnung, wo genau es langgeht, er hat keine Seekarte, er orientiert sich einfach an der Küste und hält den Kompass in der Hand, denn die Himmelsrichtung ist ja klar – es geht immer gen Westen! Mit Hilfe des einzigen Fernglases an Bord halten die acht Angler abwechselnd Ausschau nach den Grenztonnen, die irgendwo auftauchen müssen. Gesehen hat Mitschard so eine Grenztonne schon einmal im Westfernsehen.

Es dauert. Über drei Stunden tuckert die Latovia mit nur vier Seemeilen in Richtung Westen, da erkennen die Mitfahrer etwas, was sie für eine Grenztonne halten. Mitschard blickt durch das Fernglas. Was er sieht, beunruhigt ihn. Einen sogenannten »Paradieswächter« sieht er, ein großes DDR-Kriegsschiff, das sich am Horizont mit der Bugspitze genau in den Kurs der Latovia gelegt hat. Kurz überlegt er, ob er entwischen kann, mit einem gewagten Kurswechsel in Richtung Küste. Aber er weiß, dass die »Paradieswächter« schnelle Schlauchboote an Bord haben. Er hat keine andere Wahl, er schippert direkt auf das Kriegsschiff zu, in der vagen Hoffnung, dass es schon klappen wird. Als die Anglergruppe sich nähert, wird ihr mit einer schwarz-weiß karierten Flagge signalisiert, dass die Latovia längsseits beidrehen soll. Mitschard sieht die Besatzungsmitglieder des Kriegsschiffes an Bord, sie tragen alle Uniform und sind bewaffnet. »Und oben auf der Brücke, da waren Offiziere. Und da war so ein großer, kräftiger, der fragte: Wer ist der Bootsführer? Ich habe mich gemeldet: Ich. Er fragte dann: Wo wollen Sie hin? Ich sagte: Nach’m Westen. Dann hat er gesagt, das war fast entschuldigend, ich sollte mal ein bisschen warten, er müsste sich erst erkundigen, und es könnte vielleicht so zehn Minuten dauern. Na ja, sagte ich leise: Wir haben ja Zeit.«

Siegfried Mitschard geht, wie man so schön sagt, der Arsch auf Grundeis. Nach ein paar Minuten kehrt der Offizier zurück; sehr viel zuvorkommender als vorher entschuldigt er sich geradezu höflich für die Wartezeit, leider würde er keine Verbindung zu höheren Stellen bekommen, die Funkverbindung sei überlastet. Der Offizier verschwindet, und als er wieder herauskommt, traut Siegfried Mitschard seinen Ohren nicht. »Okay«, sagt der Offizier. Russisch hätte der sprechen müssen, sagt er Jahre später kopfschüttelnd, choroscho, also gut, in Ordnung, auf Russisch hätte der das sagen dürfen, stattdessen sagt der Offizier, »okay. Okay, sie können passieren.« Er erinnert sich ganz genau, Punkt 11.01 Uhr sei es da gewesen. Und dann, sagt er, dann kam das, was ihm auch zwanzig Jahre später noch eine Gänsehaut verursacht: »Wir acht Männer haben alle geheult. Wir haben uns umarmt und haben geheult.« Im Erzählen wird seine Stimme plötzlich brüchig, er kämpft mit den Tränen, als er weiterspricht und schnell seine Fassung wiedergewinnt. »Und ich bin denn losgefahren und habe zu den Jungs gesagt: Hört mal zu, da unten links, da ist eine neue DDR-Fahne drin, eine Flagge fürs Schiff hinten, die alte ist schon so verfranst, macht da mal eine neue Flagge ran. Und vorne rechts, sagte ich, da steht was zu trinken. Und dann haben wir ein Bier und einen Schnaps getrunken, auf unsere Freiheit. Und um 11 Uhr 11 haben wir noch einen getrunken auf den 11.11.« Als sich alle wieder gesammelt haben, verhängt Mitschard ein Alkoholverbot an Bord. Schließlich will die Truppe im Westen nicht sternhagelvoll eintreffen und einen schlechten Eindruck hinterlassen.

Die Latovia tuckert weiter Richtung Westen, immer dem Kompass nach. Als der Kapitän bereits befürchtet, die Orientierung verloren zu haben, taucht ein Schiff auf, ein Segelschiff denken die Angler zunächst, denn es ist weiß und hat zwei Masten. Es ist aber ein Fischerboot. »Ich kannte ja überhaupt kein weißes Fischerboot, bei uns in der DDR waren alle Fischerboote grau«, erzählt Siegfried Mitschard. Auch die Besatzung des westdeutschen Fischerbootes staunt nicht schlecht, als sie die DDR-Flagge der Latovia sieht. »So einen Lappen haben wir ja noch nie gesehen«, heißt es, und das deutsch-deutsche Zusammentreffen auf der Ostsee soll erst einmal begossen werden. Aber der Kapitän der Latovia winkt dankend ab und fragt lieber nach dem Weg. Welcher Weg? Zu irgendeinem schönen Hafen in der Lübecker Bucht. Neustadt in Holstein schlagen die Fischer vor und erklären die Route, steuerbord vorbei am Wetterturm, vorbei an der Untiefentonne von Perlzerhaken, und schon sei das Neustädter Fahrwasser nicht weit. Die Wegbeschreibung ist hilfreich.

Kurz vor Neustadt braust eine Motorjacht heran, »so richtig mit weißer Bugwelle«, erinnert er sich, »der wollte vorbei und hat dann unsere DDR-Flagge gesehen, hat ausgekuppelt und plumpste so richtig ins Wasser.« Ob die Flagge dahinten richtig sei, will der verdutzte Bootsführer der Jacht wissen. Erfreut wird ein Tablett mit Sektgläsern gereicht. Alkoholverbot hin, Alkoholverbot her, da müssen Siegfried Mitschard und seine Angler mit anstoßen. Die Motorjacht begleitet das DDR-Boot bis nach Neustadt, vielmehr: Das westdeutsche Schiff schleppt das etwas altersschwache ostdeutsche Schiff bis kurz vor die Hafeneinfahrt. Dann wirft der Bootsführer die Leine zu Mitschard hinüber und sagt: »Hier kannst du alleine reinfahren, den Triumph gönne ich dir!« Die DDR-Bootsleute sind nicht darauf gefasst, dass sie in Neustadt bereits erwartet werden. Links und rechts der Hafeneinfahrt stehen und rennen Menschen und winken mit ihren Jacken und Mützen. Bis heute weiß niemand, wer vielleicht über Funk die Ankunft des »Ostbootes« angekündigt hat.

Beim Festmachen der Latovia spendet die Menge Applaus. Noch zwanzig Jahre später wirkt Siegfried Mitschard etwas verlegen, als er sagt: »Und dann ging das wieder los. Das Geheule und das Umarmen. Wir haben das gar nicht erwartet, dass wir so herzlich empfangen werden. Jedem haben sie ein bisschen Geld zugestopft und Sachen gesagt wie: Macht es gut Jungs. Mensch, schön, dass das endlich alles vorbei ist. Endlich ist der Spuk vorbei. So wurde viel diskutiert und viel gesprochen. Viele Tränen liefen.« Den ganze Tag, erinnert er sich, seien sie in Neustadt »durchgereicht« worden. Die ostdeutschen Angler sind die Sensation. Auch die Polizei schaut vorbei und ermahnt die Besatzung, ja nicht zu vergessen, das Begrüßungsgeld abzuholen. Am Abend sind alle völlig erledigt. Weit nach Mitternacht legen sie sich auf der Latovia schlafen.

Am nächsten Morgen kommt Gerd Bollmann vom Neustädter Seglerverein vorbei und lädt die Besatzung zum Frühstück in die Gaststätte ein. Den Kaffee, erinnert er sich, spendiert damals die Wirtin. Ein Lübecker Architekt will die Ostdeutschen unbedingt mit seinem Motorboot in die DDR begleiten, er möchte Wismar sehen. Der Bootsführer klärt den Mann auf. Er könne nicht einfach mitfahren, die würden ihn in der DDR einsperren. Die Sportbootsfreunde greifen in die Trickkiste, sie würden einfach erzählen, die Latovia habe einen Getriebeschaden und müsse bis Wismar geschleppt werden. Eine vorsichtige Anfrage über UKW-Seefunk bei den DDR-Behörden ergibt immerhin, dass der Lübecker die Latovia bis zur Grenze schleppen darf, dort würde das Schiff übernommen werden. Als beide Sportboote die Grenztonne zwischen Ost und West erreichen, ist weit und breit kein DDR-Schiff zu sehen. Siegfried Mitschard meint, sie sollten lieber kein Risiko eingehen, er würde allein weiterfahren und bei Nachfragen einfach erzählen, der Schaden hätte behoben werden können.

Gesagt, getan, man verabschiedet sich und schippert weiter bis zum Ausgangspunkt der Reise, bis zur Wracktonne in der Wismarer Bucht. Dort wird die Latovia bereits erwartet, von einem Schiff der Grenzbrigade Küste und einem sogenannten »grauen Wolf«, einem Boot der Wasserschutzpolizei Wismar. Der Latovia wird ein Zeichen zum Beidrehen gegeben. Siegfried Mitschard zögert, mit den Grenzern, sagt er, sei ja nie »gut Kirschenkosten« gewesen. Letztendlich steuert er auf das Polizeiboot zu und hofft, vielleicht auf bekannte Polizisten zu treffen. Er hat Glück. Er kennt den Bootsführer. Nachdem er festgemacht hat, sagt der zu ihm, »na, dann komm mal rauf«. »Dann bin ich rauf auf die Brücke, und er sagt zu mir: Du, ich soll dich nach Wismar bringen. Ich sage: Loggi, was wollt ihr von mir? Dann hau ich lieber gleich wieder ab. Ich konnte mit denen so reden, vorausgesetzt, man kannte sie, dann waren die gar nicht solche Bullen, wie manche immer gedacht haben. Mensch, sagt er, Siggi, ich muss dich hinbringen. Und dann sagt einer von den Polizisten: Was sollen sie dir schon anhaben? Ganz Deutschland ist drüben im Westen!«

Siegfried Mitschard protestiert trotzdem und hat allerhand Argumente vorzuweisen: Fahrten in der Dunkelheit seien ihm verboten, geschleppt werden will er auch nicht, ohnehin fühle er sich wie festgenommen, auch wenn die Polizisten beteuern, dass dies nicht der Fall sei. Man einigt sich schlussendlich. Das Polizeiboot geleitet die Latovia nach Wismar, und zwar in gebührendem Abstand, so dass das Ganze nicht nach einer Festnahme aussieht. Die Fahrtzeit wird von der Besatzung weidlich genutzt. Bevor der Zoll das Schiff im Alten Hafen von Wismar auseinandernimmt, müssen allerhand Mitbringsel aus dem Westen verschwinden. Eher unproblematisch sind Blumen, zwei Säcke voller Kleidung und jede Menge Getränke, Bier, Cola, Rum. Aber da sind dann noch die Geschenke, von denen die Männer ziemlich sicher annehmen müssen, dass sie ihnen sofort weggenommen werden: Pornohefte, Pornofilme, Männerkrams eben. Vorsichtig wird in der Achterkabine eine Deckenplatte abgeschraubt, dahinter wird die wertvolle und verbotene Fracht versteckt.

In Wismar angekommen geht zunächst eine Passkontrolleinheit an Bord. Es wird durchgezählt, die Ausweise werden kontrolliert, das Ergebnis: alle sind wieder da. Der Beamte lässt seinen Blick über die nicht versteckte Westware streifen, »Mensch«, entfährt es ihm, »wo waren Sie denn?« Als Siegfried Mitschard vom Ausflug nach Neustadt erzählt, murmelt der Mann: »Find ich gut, find ich richtig gut.« Siegfried Mitschard ermuntert ihn, sich etwas zu trinken zu nehmen, ein Bier könne er gut und gerne auch in der Hosentasche mitnehmen, der Beamte bleibt standhaft. Ein junger Zöllner, der an Bord kommt, ist ebenfalls beeindruckt. »Oh«, ist sein Kommentar mit Blick auf den Getränkevorrat, »sie hätten es ja noch ein paar Tage länger ausgehalten.« Er erkundigt sich genau, wie die Fahrt war, ob es weit bis nach Neustadt sei.

Am nächsten Tag darf Siegfried Mitschard mit seiner Latovia weiter nach Timmendorf fahren. Ein kleines Nachspiel hat der Ausflug in den Westen dann doch noch. Auf seiner Arbeitsstelle bekommt er Bescheid, er möge sich mit seinem Bordbuch bei der Wasserschutzpolizei einfinden. Siedend heiß fällt ihm ein, dass die Latovia keine Genehmigung für Küstenfahrten besitzt. Im Bordbuch ist nur ein Stempel für die Angelgebiete vor Wismar. Er ist sauer, denn er ist überzeugt, »der Chef von der Wasserschutzpolizei, der wollte mir da ein Ding drehen«. Zu diesem Zeitpunkt hat er längst einen zweiten Ausflug nach Neustadt geplant, zusammen mit Bekannten aus dem Segelverein. Daraus wird nichts, wenn es nun Ärger mit dem Bordbuch gibt. Das Problem wird kurzerhand gelöst. Der Vorsitzende des Segelvereins ist damals auch in der Kommission zur Abnahme von Schiffen, und der drückt ihm einfach nachträglich einen Stempel für Küstenfahrten in sein Bordbuch.

Zwanzig Jahre später ist sich Siegfried Mitschard ziemlich sicher, dass die Latovia das erste Sportboot der DDR war, das nach der Grenzöffnung in den Westen schipperte. Vermutlich hat er mit dieser Annahme recht.

Erst am 12. November 1989 ist bei den Bezirksleitungen der SED gegen 16.00 Uhr ein Fernschreiben eingegangen. Ab 18.00 Uhr desselben Tages soll die 5-Kilometer-Sperrzone aufgehoben sein, alle Kontrollen entfallen und die Ostsee sei entlang der Küste der DDR in einer Zone von zwölf Seemeilen für den Sportbootverkehr freigegeben. Diese Entscheidung wird allerdings erst am 14. November 1989 in den Zeitungen offiziell bekannt gegeben.1

Im Schallarchiv des Norddeutschen Rundfunks ist aus diesen Tagen auf einem alten Tonband ein Interview mit DDR-Offizieren eines Grenzkontrollbootes erhalten. Darauf berichten die Offiziere bürokratisch verbrämt und immer noch ein wenig überrascht, wie plötzlich aus Richtung Wismar jede Menge Sportboote »um die Ecke kamen«. »Auf eigenen Entschluss« habe man die Boote zunächst gestoppt. Einige Bootsleute hätten in ihren Pässen einen Visumstempel vorzuweisen gehabt. Den habe einer der Offiziere zufällig am Vortag in der »Aktuellen Kamera« gesehen, daher weiß er, dass der Stempel, der zur Ausreise berechtigt, so oder so ähnlich aussieht. »Die haben sich gefreut wie die Schneekönige«, ergänzt sein Kollege.

Die Seegrenze an der Ostseeküste war jahrzehntelang die »unsichtbare Grenze«. Keine Mauer, kein Zaun schränkte die Sicht auf den Horizont ein. Und dennoch war der 602 Kilometer lange Küstenstreifen streng bewacht, in einer 5 Kilometer breiten Grenzzone entlang der Ostseeküste galten besondere Sicherheitsvorschriften. Die 6. Grenzbrigade Küste verfügte über 70 Beobachtungsposten und sorgte sowohl an Land als auch auf See dafür, dass Flüchtlinge nicht über die Ostsee entkommen konnten. Schätzungsweise 6500 Menschen versuchten bis 1989 über die Ostsee zu fliehen. Davon gelang etwa 900 Menschen die Flucht. Mindestens 189 Menschen kamen bei einem Fluchtversuch ums Leben.2

Zwanzig Jahre nach seinem »Lebens-Erlebnis« ist Siegfried Mitschard im Ruhestand. Die sieben Angler aus Schwerin, mit denen er am 11. November 1989 nach Neustadt in Holstein fuhr, hat er danach nie wieder gesehen. Mit der Latovia hat er noch einige Touren in den Westen unternommen, auch nach Hamburg, durch den Elbe-Lübeck-Kanal. Wenn es sie noch gibt, dann schippert sie vermutlich über den Rhein. Denn gut ein Jahr nach seiner Neustadt-Fahrt hat er das Schiff an einen jungen Mann in Köln verkauft. Schließlich konnte er ja fortan fahren, wohin und so weit er wollte. Er hat sich ein neues, schnelleres Boot mit Mast und Segel zugelegt.

Zusammen mit Gerd Bollmann aus Neustadt hat er das erste deutsch-deutsche Segeltreffen organisiert. Sie sind noch heute befreundet. Die Freundschaft der Wismarer und Neustädter Segler hat zwanzig Jahre überdauert. Jedes Jahr trifft man sich, das ist längst Tradition. Nach all den Jahren muss Siegfried Mitschard dennoch schlucken, als er davon erzählt, dass in Neustadt, in der Clubgaststätte des Seglervereins, bis heute ein Bild in gewölbtem Rahmen hängt, Größe ungefähr DIN A4. Immer, wenn er vor diesem Bild steht, erzählt er, überkommt ihn so eine Art Prickeln. »Da ist Stacheldraht drin von der Grenze, von der innerdeutschen Grenze, Stacheldraht mit einem Plasteschild ›Zur Erinnerung an den Fall des Eisernen Vorhanges 1989‹. Der Werner Innecken, der Eisenwarenhändler aus Wismar, der hat, als wir damals das zweite Mal nach Neustadt gefahren sind, da hat er eine große Eisenschere mitgenommen und hat sie dem Vorsitzenden des Neustädter Seglervereins überreicht und dazu gesagt: »Wir trauen dem Frieden hier noch nicht ganz, aber wenn irgendjemand die Grenze noch mal dichtmacht, dann müsst ihr mit dieser Schere den Zaun von eurer Seite aus wegschneiden.«

Grenzenlos im Norden

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