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»Wir konnten wieder hin, aber wir hatten nicht das Gefühl, dass wir unsere Heimat wiederbekamen« Gerd und Marielie Seilkopf,
der Bau der Mauer 1961 und eine Flucht im letzten Augenblick

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Das beschauliche Städtchen Aulendorf liegt im Schwäbischen, es ist bei weitem nicht so gut bekannt wie das benachbarte »Spieleparadies« Ravensburg. In Aulendorf sind knapp 10 000 Menschen zu Hause, es lebt sich gut hier, der Bodensee ist nicht einmal eine Autostunde entfernt, an Schönwettertagen geben die gut erkennbaren Alpen dieser Gegend etwas Malerisches. Hier in Aulendorf ist der Osten Deutschlands weit weg, zumindest viel weiter weg als Österreich und die Schweiz. Vom Bau der Mauer hat man hier im August 1961 genauso wenig Notiz genommen wie von ihrem Ende knapp 28 Jahre darauf. Von der Diktatur im Arbeiter-und-Bauern-Staat wissen die Leute hier bestenfalls aus den Geschichtsbüchern. Hier also leben Marie-Elisabeth und Gerd Seilkopf, im Ländle haben sie sich ein Häuschen gebaut. Von ihrer Geschichte wissen in Aulendorf nur gute Freunde und Verwandte des Paares.

Gerd Seilkopf ist promovierter Tierarzt. Mitte der 1960er Jahre bewarb er sich beim Staatlichen Tierärztlichen Untersuchungsamt des Landes Baden-Württemberg in Aulendorf. Dieses Institut wurde 1957 eröffnet, es erwarb sich schnell einen ausgezeichneten Ruf weit über die Grenzen Baden-Württembergs hinaus. Gerd Seilkopfs Bewerbung stieß damals auf Wohlwollen, denn am Institut arbeiteten bereits viele Wissenschaftler aus dem Osten Deutschlands, sie alle waren »Republikflüchtige«. Er fand hier also Menschen, die eine ähnliche Geschichte hatten wie er und seine Frau. Dies ist sie:

Marie-Elisabeth Walter wurde am 1. Mai 1926 in Schwerin geboren, wohlbehütet in ein harmonisches Familienleben hinein, erinnert sie sich. Der Großvater ist Pastor, der Vater Religionslehrer. Marielie, wie sie damals schon gerufen wird, ist die jüngste von drei Töchtern in der Familie. Mecklenburg ist ihre Heimat: die Seen, die Wälder, die Äcker, die nahe Ostsee. Die Familie ist weit verzweigt, viele Onkel und Tanten leben damals in Mecklenburg, seit 1952 gehört der Landstrich zum Bezirk Schwerin, andere Teile zum Bezirk Rostock; im wiedervereinten Deutschland, in der neuen Bundesrepublik, ist aus dieser Gegend der Landkreis Nordwestmecklenburg geworden. Damals, kurz nach dem Krieg, geht die junge Marielie nach Rostock, um sich als Krankengymnastin ausbilden zu lassen. Ab 1948 arbeitet sie in Greifswald. Als einer der Professoren das Angebot bekommt, an die Berliner Charité zu wechseln, fragt er die junge Marie-Elisabeth, ob sie mitwolle. Sie überlegt nicht lange und zieht 1950 in die geteilte Stadt, um in der Krankengymnastik der Chirurgie an der renommierten Charité in Berlin-Mitte, damals im Ostteil der Stadt, zu arbeiten.

Gerd Seilkopf kam am 31. März 1933 in Bernburg als eines von insgesamt sechs Geschwistern zur Welt, zu fünf Jungen gesellte sich ein Mädchen. Die Eltern sind damals Lehrer, die Familie lebt im sachsen-anhaltinischen Güsten ganz in der Nähe von Bernburg. Das Städtchen hat nicht viel zu bieten, eine Siedlung um einen Eisenbahnknotenpunkt, in Güsten wohnen jetzt nicht einmal 4000 Menschen. Heute verbindet Gerd Seilkopf nicht mehr viel mit diesem Ort, einige seiner Brüder leben aber noch dort. 1951 kommt Gerd nach Berlin, er will Tierarzt werden und beginnt, an der Humboldt-Universität zu studieren. Zunächst hat er es auf exotische Tiere abgesehen, erzählt er, Veterinär in einem Zoo, davon habe er damals geträumt. In seiner praktischen Ausbildung führen ihn viele Reisen zwar nicht in die große weite Welt, aber in verschiedene deutsche Tiergärten. Er promoviert über »Fußleiden bei Elefanten«. Tierarzt im Zoo wird er aber nie. Einen Teil seiner Pflichtassistentenzeit verbringt Gerd 1957 in Marielies Heimatstadt Schwerin, ein Vierteljahr lang arbeitet er in der Tierklinik im Stadtteil Neumühle.

Anfang der 1950er Jahre genießt der junge Gerd Seilkopf seine Berliner Zeit: »Wir konnten ja noch ohne große Probleme nach Westberlin rüber, wir gingen ins Kino und verbrachten viel Freizeit dort, das habe ich natürlich voll genutzt.« Von der Diktatur in der DDR habe er damals noch gar nicht so viel mitbekommen, aber bevor er seine Marielie kennenlernt, wird sein Leben von einem einschneidenden Ereignis geprägt: »Der 17. Juni 1953, das war ein umwerfendes Erlebnis«, erinnert er sich über 56 Jahre später, »man war ja die Pflichtdemonstrationen am 1. Mai gewohnt, und an diesem Tag war es mit einem Male so, als würden große Menschenmassen zusammenkommen ohne Befehl und Anordnung. Wir sind raus und sind da mitmarschiert und wir konnten kaum glauben, was geschah. Als dann aber am Nachmittag die Panzer rollten, das war dann eine richtige Erschütterung.« Der Aufstand wird damals niedergeschlagen, Gerd Seilkopf ist das klirrende Geräusch der Panzerketten bis heute unvergesslich, es sitzt fest in seinem Kopf. Seine Enttäuschung über die Unterdrückung der Bewegung vom 17. Juni ist groß, die Kontrolle und Überwachung an Universitäten und öffentlichen Einrichtungen wird in diesen Tagen, Wochen und Monaten deutlich verstärkt.

Er erinnert sich an eine Studentenversammlung an der Humboldt-Universität wenige Tage nach dem 17. Juni. Auffällig viele Männer in Ledermänteln und Trenchcoats seien da aufgelaufen, das klingt wie in einem schlechten Agentenfilm, aber damals ist allen klar: das sind ohne Zweifel Mitarbeiter des noch jungen Ministeriums für Staatssicherheit. Die Atmosphäre sei zum Schneiden gespannt gewesen, nahezu gespenstisch, erzählt er. Es habe zwar keine Massenverhaftungen gegeben, aber die Versammlung sei aufgelöst worden, nachdem sich ein Professor von den Stasi-Männern den Mund nicht habe verbieten lassen. In den Wochen danach normalisiert sich das Leben zwar wieder, aber der politische Druck wächst.


Fotos: Sigurd Müller, Bundespolizeiabteilung Ratzeburg

Im Oktober 1953 treffen sich Marie-Elisabeth und Gerd erstmals in Berlin-Hoppegarten in einem studentischen Reitclub. Marielie wohnt damals in Berlin-Mitte in der Nähe des »Walter-Ulbricht-Stadions«, das später in »Stadion der Weltjugend« umbenannt wird. In der Habersaathstraße hat sie ein Zimmer. Gerd lebt 1953 in der Nähe, und so fahren sie zusammen regelmäßig im Bus von Hoppegarten nach Hause und lernen sich näher kennen. Später wurde der studentische Reitclub in die im August 1952 gegründete »Gesellschaft für Sport- und Technik« (GST), die paramilitärische Ausbildungsorganisation der DDR, eingegliedert. Was einst nur Reitsport war, wird nun politisch. Für das junge Paar ist das der Grund, den Club zu verlassen.

Ihre Freizeit verbringen die beiden fortan lieber auf einem kleinen Paddelboot, das Marielie kaufen kann, weil sie in den 1950er Jahren regelmäßig nach Westberlin geht, um dort schwarz als Krankengymnastin zu arbeiten und ein paar Westmark zu verdienen. Die beiden lieben sich und ihre Augen strahlen auch heute noch, wenn sie sich an die Stunden auf dem kleinen Boot erinnern, an die Paddeltouren auf der Dahme im Südosten Berlins. Gerd Seilkopf schildert jene Wochen und Monate als glückliche Tage. »Es war eine lebenswerte Zeit«, sagt er. Am 23. April 1957 heiraten die beiden, im Jahr darauf bekommen sie eine Wohnung im Stadtteil Prenzlauer Berg zugewiesen. Diese Wohnung gilt als schwer vermietbar, denn in ihr wohnte zuvor ein Paar, das in den Westen geflohen ist, und nach einer solchen Flucht ist den Wohnungsverwaltungen des Arbeiter-und-Bauern-Staates damals nicht klar, wer denn nun für die anfallende Renovierung zuständig ist. Gerd renoviert die Räume selbst und schafft für seine junge Familie ein erstes gemeinsames Zuhause. Das brauchen sie auch, denn im März 1959 bringt Marie-Elisabeth ihren ersten Sohn zur Welt. Sie geben ihm den Namen Sven.

Die glücklichen Berliner Tage vergehen Ende der 1950er Jahre. Gerd Seilkopfs vom Staat vorgegebenes Betätigungsfeld liegt im Nordwesten Berlins, in der brandenburgischen Kleinstadt Kremmen. Dort soll er in der Staatspraxis als Landtierarzt arbeiten, ihm wird in den Ställen der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft (LPG) seine berufliche Perspektive vorgezeichnet. Ein Leben in Kremmen kann Marielie sich nicht vorstellen, Gerd glaubt auch heute noch: Einen Umzug in die Provinz, nach Kremmen, hätte die Ehe gewiss nicht überstanden. Gerd weiß auch, als Landtierarzt im Staatsdienst sei er nicht umhingekommen, der SED beizutreten. Immerhin bekommt er als Landtierarzt einen Dienstwagen, einen blauen Trabant, zugewiesen, so kann er regelmäßig nach Berlin zu seiner Familie pendeln.

In Kremmen gibt es nach der Zwangskollektivierung in der Landwirtschaft eine LPG mit einem großen Rinderbestand. Die Bauern der LPG erfüllen alle Planvorgaben, sie bauen Ställe für hunderte Rinder und setzen alles so um, wie es ihnen staatlich verordnet wird. Abweichungen werden nicht geduldet. Aber die Planung für die Rinderhaltung weist erhebliche Mängel auf, für den großen Tierbestand ist nicht ausreichend Futter vorhanden, die Erhöhung der Futterproduktion wird schlichtweg vergessen oder zumindest vernachlässigt. Im Februar und im März 1961 verenden die Rinder in Kremmen reihenweise. Eine katastrophale Situation, die Gerd Seilkopf so beschreibt: »Die Abdeckereien haben es nicht mehr geschafft, die Kadaver zu verbrennen, man hat schon angefangen, Gruben auszuheben, um die toten Rinder zu verscharren.« Was tun? Die Planvorschriften sind bindend, niemand traut sich, die Fehlentwicklung zu benennen, es sei furchtbar gewesen, die Tiere verenden entkräftet. Der Vorsitzende der LPG wird für die Verluste verantwortlich gemacht und verhaftet. Für Gerd Seilkopf ist klar: Früher oder später wird man auch ihn zur Verantwortung ziehen, als Tierarzt ist er schließlich für diese LPG und die Tiere verantwortlich, auch wenn er angesichts der Fehlplanung nichts ausrichten kann. Täglich rechnet er mit seiner Verhaftung, die Wochen vergehen, nichts passiert. Der junge Tierarzt bleibt erst einmal unbehelligt. Die Seilkopfs erinnern sich an das Frühjahr 1961 als eine Zeit voller Angst. Marielie wird das Gefühl nicht los, beobachtet zu werden. In jenen Tagen ist sie zum zweiten Mal schwanger.

Die Gerüchte über eine bevorstehende Schließung der Grenze wollen damals nicht verstummen. So recht können die beiden sich aber nicht vorstellen, dass es so weit kommen kann. Bis zum 13. August 1961: Um 8 Uhr morgens tritt Gerd Seilkopf auf die Straße, er verlässt die Wohnung mit dem zweijährigen Sven auf den Schultern, um zum Milchgeschäft zu gehen. Am Laden angelangt wundert er sich, dass die Kunden vor dem Geschäft stehen und ziemlich aufgeregt diskutieren. »Was macht ihr denn so ein Gesicht bei so einem schönen Wetter«, witzelt er noch. Die Entgegnung kann überraschender nicht sein: Ob er denn noch nicht mitbekommen hätte, dass Westberlin abgeriegelt worden sei? Er denkt bei sich, dass die doch wohl spinnen würden, aber die Menschen vor dem Geschäft versichern ihm, dass in den Stunden zuvor Stacheldrahtrollen gelegt worden seien.

Zu Hause angelangt, fragt Marielie den entsetzt dreinblickenden Gerd, was denn los sei. Er fordert sie auf, das Radio anzumachen, »die haben Westberlin dichtgemacht«. In Marie-Elisabeth steigt die Angst auf, sie erfasst die Situation sofort. Ihnen wird der mögliche Fluchtweg versperrt. Nur wenige Tage zuvor hat der »Genosse« Tierarzt von einem Kollegen eine Warnung erhalten: die Ermittlungen in Kremmen wären fast am Ende, warum er überhaupt noch da wäre. Nach wie vor suche man für die Verluste in der LPG Schuldige. Über eine Flucht in den Westen haben Gerd und Marielie längst nachgedacht, beim Kaffee an diesem Augustmorgen brauchen die beiden nicht mehr viel sagen. Es ist klar, wenn sie gehen wollen, dann sofort.

Ein glücklicher Umstand aus Gerds Studentenzeiten kommt ihnen nun zugute. Er hat zu dieser Zeit eine Weile in der Nähe des Treptower Parks gewohnt und weiß daher, dass das Haus Mengerzeile 14 genau auf der Sektorengrenze steht. Die eine Seite des Gebäudes steht in Westberlin, die andere im Osten, zu beiden Seiten gibt es Eingänge. Er weiß: Das ist ihre einzige Möglichkeit zur Flucht nach Westberlin, in letzter Minute. Er bindet sich eine Krawatte um und versteckt darin die Negative der vorsorglich abfotografierten Approbations- und Promotionsurkunden, denn um nicht aufzufallen, will er keine Dokumente mitnehmen. Ihm wird in diesem Moment auch klar, dass er die Wohnung am Prenzlauer Berg nie wieder betreten wird. Er nimmt einen Blumenstrauß mit, zusammen fahren er, die schwangere Marielie und der zweijährige Sven im Tierarzt-Trabbi nach Berlin-Treptow. Den patrouillierenden DDR-Sicherheitskräften sagen sie, dass sie zum Geburtstag eingeladen worden seien, dafür hätten sie extra die Blumen mitgebracht, sie werden nicht aufgehalten, alles geht glatt.

Im Treppenhaus in der Mengerzeile angelangt, steigen sie hinauf bis auf den Dachboden, von dort aus kommen sie unentdeckt in den Westteil des Hauses. Im Hausflur warten sie in einer Nische, bis ein Bewohner die Haustür aufschließt. Das dauert nicht lange. Sie verlassen das Haus westwärts, sie haben es nie wieder betreten, bis heute nicht. Auf den letzten Drücker sind sie ohne große Hindernisse in die Freiheit gelangt, aber Freude über die geglückte Flucht will nicht aufkommen. Marielie und Gerd haben ein furchtbar schlechtes Gewissen, weil sie ihre Familien und Freunde zurückgelassen haben. Sie wissen auch, dass es lange dauern wird, bis sie sie wiedersehen dürfen. Das ist ein hoher Preis, doch Marielie sagt, ihr Mann habe damals jederzeit verhaftet werden können, »ich wollte keinen Mann im Gefängnis!« In der ersten Nacht in Westberlin kommen die Seilkopfs 1961 bei Bekannten unter, bereits am Morgen des 14. August ist Gerd schon so weit, wieder in den Osten zurückkehren zu wollen. Er muss um ein Taschentuch bitten. Schlagartig wird ihm bewusst, dass ihm außer seiner schwangeren Frau, seinem Sohn und den Kleidern auf dem Leib nichts geblieben ist. Für Marie-Elisabeth steht aber fest, dass es kein Zurück mehr geben wird.

Die folgenden Wochen sind ein Geduldsspiel, das Flüchtlingslager in Berlin-Marienfelde ist überfüllt, Marielie und der kleine Sven kommen zunächst bei einer Tante unter, Gerd findet eine Schlafmöglichkeit bei einem entfernten Verwandten der Familie ganz in der Nähe des Auffanglagers. So kann er damals täglich die vielen Formalitäten im Aufnahmeverfahren in Angriff nehmen, eine zermürbende Zeit, wie er sich erinnert. Zwölf unterschiedliche Stationen habe er zu durchlaufen gehabt, er habe Wochen gebraucht für die notwendigen Stempel in den Papieren, in endlosen Schlangen habe er gestanden, bis schließlich alle Formalitäten erledigt sind und ein Termin für den Flug nach Westdeutschland benannt werden kann. Marielie ist bereits hochschwanger, und es sei nicht mehr klar gewesen, ob sie zu diesem Zeitpunkt noch fliegen dürfe. Auf gar keinen Fall will sie ihr zweites Kind in der geteilten Stadt zur Welt bringen, in dieser angespannten politischen Situation zwischen Ost und West. Sie hat Glück und wird doch noch für flugtauglich erklärt, so dass Marielie, Gerd und Sven Mitte September 1961 nach Frankfurt am Main fliegen. Nervenzerreißende Wochen liegen da hinter ihnen.

Mutter und Sohn finden zunächst ein Quartier bei einer Freundin in Idar-Oberstein, Gerd fährt nach Bremerhaven, wo er Arbeit bekommen hat, eine Urlaubsvertretung. Geld muss her, nach der Flucht ist die Familie mittellos. Er bewirbt sich damals als Tierarzt in einem Oldenburger Schlachthof. Marielie bringt indes am 9. November 1961 ihren zweiten Sohn Carsten zur Welt, der Junge erkrankt bald nach der Geburt, er wird nur wenige Monate alt. Marielie und Sven folgen Gerd Seilkopf nach Oldenburg. Marielie erinnert sich noch gut daran, dass sie damals im Oldenburgischen nicht gerade mit offenen Armen empfangen werden. Sie sind Flüchtlinge aus dem Osten, nicht unbedingt jedem willkommen, das spürt sie deutlich. Nach dem Tod des zweiten Kindes wird schließlich 1963 der Sohn Matthias geboren, die Familie hat im Westen aber immer noch nicht richtig Fuß gefasst.

Durch einen zufälligen Kontakt erfährt Gerd von einer freien Stelle in Aulendorf. Im Juli 1964 fängt er im Staatlichen Tierärztlichen Untersuchungsamt an, im Januar 1965 kommt Marielie mit den Kindern nach. Sie erinnert sich genau, dass sie zunächst erschüttert darüber war, wie wenig man im schwäbischen Aulendorf von den Ereignissen knapp vier Jahre zuvor im Osten Deutschlands wusste, ihre eigene Geschichte wurde sogar angezweifelt. Deshalb hat das Ehepaar nie viel erzählt über ihr Leben, bis heute nicht.

Die beiden arbeiten energisch für eine neue Zukunft, Marie-Elisabeth führt als gelernte Krankengymnastin in Aulendorf das Kinderturnen ein, so bekommt sie Kontakt zu den Müttern. So erobert sie für ihre Familie eine soziale Stellung in dem konservativ geprägten Städtchen. Letztlich angekommen sind sie, als Marielie Kirchgemeinderätin wird, das verhilft der Familie aus dem Osten zu mehr Akzeptanz. Gerd spezialisiert sich auf die Geflügelhöfe in der Gegend. Die Bauern haben Vertrauen zu dem Mann, der den schwäbischen Dialekt zwar nicht spricht, der sich aber nicht nur um ihre Tiere kümmert, sondern ihnen auch zuhört, wenn es um ihre persönlichen Probleme geht. Dr. Gerd Seilkopf ist in all den Jahren zu einem angesehenen Mitarbeiter geworden, der seiner Familie einen ansehnlichen Wohlstand erarbeitet.

Die Geschwister und Familienangehörigen, die im »Arbeiter-und-Bauern-Staat« zurückgeblieben sind, haben sich lange Zeit enttäuscht von den beiden gezeigt, aber sie distanzierten sich nicht von ihnen. Noch im August 1961 haben Verwandte wichtige Papiere aus der Wohnung am Prenzlauer Berg geholt, die sie später in den Westen schickten. Gerds ältester Bruder wurde von den DDR-Behörden beauftragt, die beiden zurückzulocken, Straffreiheit und Rückgabe der Wohnung wurden versprochen. Aber Gerd und Marielie misstrauten dem System in Ostdeutschland viel zu sehr, als dass sie auch nur eine Sekunde darüber nachgedacht hätten. Die Eltern, Brüder und Schwestern im Osten respektierten die Fluchtentscheidung der beiden zunehmend. Das war sehr wichtig für Marielie und Gerd, denn das sehen sie als Grundlage für den heutigen Familienzusammenhalt. Nachdem am 9. September 1964 ein DDR-Ministerratsbeschluss Rentnern wieder Besuchsreisen in die Bundesrepublik ermöglichte, sah Marielie ihre Eltern endlich wieder. Der Kontakt zu den Verwandten im Osten wurde wieder intensiver, nachdem die Seilkopfs in Aulendorf ansässig geworden waren. Er riss auch nie ab in all den Jahren danach. Gerd verdiente in den 1970er und 1980er Jahren gut; je besser es der Familie ging, umso mehr unterstützten sie ihre Angehörigen in der DDR, das sei ungeheuer wichtig für sie gewesen, sagt Marielie. Unzählige Pakete wurden verschickt, und später, als sie selbst wieder in die DDR fahren konnte, hat sie viel mitgenommen, Kleidung, Haushaltsartikel, Lebensmittel.

Gerd und Marielie dachten im Traum nicht daran, dass sie die Vereinigung Deutschlands noch erleben würden. Die deutsche Wirklichkeit war für sie zweigeteilt, sie hatten zwar eine ostdeutsche Geschichte, aber sie waren in der westdeutschen Realität angekommen. Ihre Söhne wuchsen heran, aber ganz klar westlich orientiert, wie Marielie sagt. Beide Jungen leben mit Frauen aus westdeutschen Familien zusammen, das prägt, meint sie. Das Interesse an der ostdeutschen Verwandtschaft hielt sich bei Sven und Matthias auch eher in Grenzen. Gerd und Marielie selbst nehmen für sich in Anspruch, ihre ostdeutsche Identität nie verloren zu haben. Die historischen Ereignisse haben sie so sehr geprägt, dass die Jahrzehnte in Aulendorf ihnen dieses Bewusstsein nicht nehmen konnten. Die turbulenten Tage und Wochen im Herbst 1989 und die Berichte von den Massendemonstrationen in der DDR verfolgt das Ehepaar mit großer Anteilnahme: »Die Bilder von Leipzig waren für mich ungeheuer beeindruckend«, erinnert sich Marielie an die Montagsdemonstrationen in der DDR. »Wir haben hier gelebt, aber unser Herz ist drüben«, so beschreiben die beiden ihre Gefühle. »Für uns war der Fall der Mauer ein Wunder«, sagen sie, »aber wir waren sehr überrascht, wie wenig Anteil die Menschen hier in Aulendorf daran nahmen.« Im gleichen Atemzug verrät Marielie aber auch, dass sie sich 1989 auch Sorgen gemacht habe, wie es den Deutschen gelingen könnte, wieder zueinanderzukommen. Zu sehr hat sie die Unterschiede am eigenen Leib gespürt, damals schon in den 1960er Jahren, als sie lernen musste, zu verstehen, wie die Schwaben in Aulendorf »ticken«. All das ist wieder hochgekommen, 1989, es habe vor allem auch geschmerzt, dass die Seilkopfs nicht so recht gewusst haben, wohin mit ihren Gefühlen. In Aulendorf haben sie niemanden, mit dem sie über ihre Freude, aber auch über ihre Ängste und Befürchtungen sprechen können, niemanden, der all das verstehen könnte.

Doch bald bekommen die Seilkopfs in Aulendorf Besuch von den vielen Verwandten aus Mecklenburg, aus Berlin, die erkämpfte Freiheit wird im wahrsten Sinne des Wortes gelebt. »Es war wunderschön, als unsere Geschwister kamen mit ihren Kindern und den Angeheirateten. Das Haus war immer voll«, erinnert sich Gerd Seilkopf an diese Zeit. Bald kommt auch der Augenblick, in dem Gerd und seine Marielie ohne Hürden in den Osten Deutschlands fahren können. Sie machen sich auf den Weg, wollen zu ihren Wurzeln zurückkehren. Ihren ersten Eindruck von dieser Reise beschreiben sie heute, gut zwanzig Jahre später, so: »Wir konnten wieder hin, was wunderschön war, aber wir hatten nicht mehr das Gefühl, dass wir unsere Heimat wiederbekamen.« Zurückgehen? Nach beinahe drei Jahrzehnten kommt das nicht mehr infrage. Die Söhne sind im Westen, in Schwaben aufgewachsen, die Enkel wissen kaum etwas über die DDR. Ein bisschen betrübt erzählt Marielie, dass in ihrer Familie nie viel über die Geschichte der Ost- und Westdeutschen gesprochen wird, dafür hat sie nur »ihren« Gerd.

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