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»Wir hatten uns wieder, das war unglaublich!« Jürgen Schröder,
seine Familie und ein unverhofftes Wiedersehen auf dem Hamburger Fischmarkt

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Noch heute habe ich im Gedächtnis, wie meine Frau versuchte, die Hand meiner Tochter bei der Anfahrt des Zuges bis zum letzten Augenblick in ihrer zu behalten.« Diesen Satz schreibt der Schweriner Jürgen Schröder fast zwanzig Jahre später auf. Am 5. Oktober 1989 sind seine Tochter Christiane und ihr Mann Stephan in das Volkspolizeikreisamt einbestellt worden, ihr Ausreiseantrag sei genehmigt, mit sofortiger Wirkung sei das junge Paar ausgebürgert. Bis 18.00 Uhr desselben Tages habe es die DDR zu verlassen. Auf dem Schweriner Hauptbahnhof trennt die Familie sich an diesem Oktobertag und muss 1989 annehmen, dass Jürgen Schröder, seine Frau Helga und ihr Sohn Axel die Tochter Christiane ewig nicht wiedersehen dürfen, mindestens 10 Jahre lang nicht, glauben sie damals. Dass sie an diesem Abend nicht allein auf dem Bahnsteig sind, dass sie beobachtet werden von der Staatssicherheit, so meint Jürgen Schröder heute, das sei allen klar gewesen. Sie hätten versucht, in dieser Situation, »neudeutsch würde man heute sagen, cool zu bleiben«, aber so recht sei das keinem gelungen. Damals, als die Familie sich auf ungewisse Zeit trennt im Oktober 1989, kann niemand ahnen, dass die Trennung nur 37 Tage währen wird.

Bis zur Ausreise an diesem Oktobertag im Jahr 1989 ist allerhand passiert. 1988 studiert die Tochter Christiane Schröder in Aschersleben am Institut zur Ausbildung von Ökonompädagogen. Sie will damals Berufspädagoge für die berufspraktische Ausbildung von Lehrlingen werden. In Aschersleben trifft sie Stephan Ausborn und verliebt sich. Stephan jedoch sagt ihr, für die Zeit nach seinem Abschluss habe er andere Pläne, denn als Berufspädagoge in der DDR zu arbeiten. Zwanzig Jahre später schmunzelt sie, über diese Art von Plänen konnte man damals nicht überall sprechen. Erst auf einem Spaziergang im Freien fühlt Stephan sich unbeobachtet genug, ihr seine Pläne näherzubringen. Abhauen will er, in den Westen, nicht ausreisen, richtig abhauen. Er will nicht jahrelang auf die Genehmigung eines Ausreiseantrages warten und in der Zwischenzeit alle erdenklichen Schikanen über sich ergehen lassen. Christiane Schröder ist verliebt, für sie steht sofort fest: Ich komme mit. Sie muss damals an eine Familiengeschichte denken, an die Geschichte ihrer Großmutter. Die habe ihr sehr viel erzählt, viel von ihrer Kindheit im Hunsrück. Aus Liebe hatte es sie 1936 in den Norden, nach Hagenow in Mecklenburg, verschlagen. Als dann ihr Vater, Christianes Urgroßvater, gestorben war, durfte sie nicht zur Beerdigung in die Bundesrepublik fahren. Ungeheuer gelitten habe die Großmutter darunter. Diese Geschichte hat sie nicht losgelassen.

Christianes Vater erinnert sich, sein Schwiegersohn in spe habe ihn schon bald in einem Vieraugen-Gespräch in die Pläne des Paares eingeweiht. Zunächst heißt es, die beiden wollten versuchen, im Harz die Grenze zu überwinden. »Das hat meine Frau und mich hochgradig beunruhigt«, erzählt er, »das habe ich ihm auch klipp und klar gesagt, dass das geradezu abenteuerlich ist und tödlich enden kann!« Auch seine Frau Helga erinnert sich, »das war kein gutes Gefühl«, sagt sie, »weil ich ja wusste, wenn die beiden gehen, dann haben wir unsere Tochter verloren.« Die Eltern können aber verstehen, dass die Tochter raus will aus der DDR.

Jürgen Schröder erinnert sich an die Situation im Jahr 1987. Damals erlebt er in einem privaten und vertraulichen Rahmen einen nichtöffentlichen Vortrag eines Professors der Akademie der Wissenschaften über den technischen Entwicklungsstand in der DDR, einen Vortrag, der niederschmetternd gewesen sei und der einen bleibenden Eindruck bei ihm hinterlässt. »Der sagte, wenn wir keine Kinder hätten, dann könnten wir im Grunde genommen unsere Bücher schließen und uns dem Suff ergeben, denn jedwede Entwicklung in den Forschungs- und Entwicklungsbereichen wird oben stranguliert. Die Mikroelektronik ist ein einziger Flopp, und unsere großen Leistungen im Schwermaschinenbau werden von den Japanern so beurteilt, dass sie zwar wirklich schwere Maschinen seien, für den Weltmarkt aber nicht innovativ genug. Was Carl Zeiss Jena angeht, unser Aushängeschild der DDR, da seien die Japaner sehr, sehr viel weiter als wir, und auf den Leipziger Messen würden die Geschäftsverträge mit DDR-Firmen rückläufig sein, extrem rückläufig.« So steht es damals natürlich nicht in den Zeitungen. Aber dass das Land wirtschaftlich am Rande des Niederganges steht, das ist ab Herbst 1987 für jeden spürbar.

Helga Schröder arbeitet damals als Verkäuferin in einer Fleischerei. Es habe Kunden gegeben, die haben im Jahr vielleicht einmal Rouladen abgekriegt, die haben sich schon morgens um fünf Uhr, meist vergeblich, angestellt, um wenigstens einmal ein Stück Filet zu ergattern. Andere Kunden, erinnert sie sich, die haben zwischendurch immer ihr Päckchen Fleisch herausgereicht bekommen. Eine Hand wäscht die andere, »ohne Beziehungen«, sagt sie, »lief da gar nichts«. Extrem sei das gewesen. Die Tochter Christiane meint, als Jugendliche sei die schlechte Versorgungslage kein so großes Thema gewesen. Wenn man Anfang 20 ist, interessiert es einen nicht so sehr, ob es Bananen oder Apfelsinen zu kaufen gibt, vielmehr sei es darum gegangen, schick auszusehen, auszugehen, etwas zu erleben, in die Welt zu reisen, nicht nur in die sozialistische Welt.

Christiane Schröder kellnert damals viel, von dem üppigen Trinkgeld kann sie sich auch mal etwas leisten. Einmal, erinnert sie sich, habe sie sich im Exquisit einen langen, weit schwingenden Lederrock gekauft, 800 Mark habe der damals gekostet, ein kleines Vermögen. Sie grinst, das habe sie ihren Eltern natürlich nicht erzählt. Was sie vermisst habe, das sei allerdings Musik aus dem Westen gewesen. An Schallplatten und Bücher aus dem Westen sei sie nicht herangekommen.

Ihr Studium in Aschersleben empfindet sie damals als »blanke Rotlichtbestrahlung«. Sie erinnert sich daran, wie eine Studentin rausfliegt und ihren Abschluss nicht machen kann, weil sie einen Nachmittag gestaltet und dafür eine Jugendgruppe der evangelischen Kirche in das Institut eingeladen hat. Außerdem, sagt sie, habe man nicht ganz offen reden können. Die Angst, der jeweils andere könne für die Stasi arbeiten, sei oft dagewesen.

Vor dem Studium hat sie erste Erfahrungen mit dem MfS, dem Ministerium für Staatssicherheit, gesammelt. Die gelernte Hotelkauffrau arbeitet übergangsweise im Hotel Stadt Schwerin als »Ausbildungsleiter der Berufsausbildung«. Zwei nette Herren mittleren Alters seien damals in ihr Büro gekommen und hätten sie um ihre inoffizielle Mitarbeit gebeten. Ein Zettel sei ihr vorgelegt worden, den habe sie unterschreiben sollen. Das habe sie nicht getan. Ein anderes Mal, erinnert sie sich, habe ein Cousin ihres Vaters aus Pforzheim die Familie besucht, er hat auch eine Zeit lang in Südafrika gelebt. Damals ist sie begeistert, der Verwandte mit Afrikaerfahrung ist für sie so etwas wie ein Abgesandter aus der großen weiten Welt. Mit dem Besuch aus dem Westen macht Familie Schröder Ausflüge an die Ostsee, nach Warnemünde, nach Wismar. Christiane wird später im Hotel Stadt Schwerin unmissverständlich klargemacht, dass man über diese Ausflüge bestens informiert ist. Furchtbar habe sie das damals gefunden, höchst »unangenehm« sei der Anwerbeversuch für sie gewesen.

Ihr Vater erinnert sich daran, dass er 1972, als er noch im Volkseigenen Rechenbetrieb Binnenhandel in Schwerin arbeitete, in die Kaderabteilung gerufen und ihm ein verlockendes Angebot unterbreitet wurde. Er solle mit seiner Familie als Trainer für die Programmierung und Bedienung von Datenverarbeitungstechnik des Kombinates Robotron ins Ausland gehen dürfen, genauer: nach Mexiko. Da habe man nicht lange überlegt, erzählt er, sofort habe er ja gesagt. Dann hörte er eine Weile nichts mehr von der Angelegenheit, bis er eines Tages zu einem Gespräch gebeten wurde, zu einem Anwerbungsgespräch. Er soll im Ausland für die Stasi arbeiten. Er sei bestürzt gewesen, erinnert er sich, weil er schnell merkt, dass die Stasimitarbeiter in dem Zimmer sehr, sehr viel über ihn wissen. Zum Beispiel habe der hauptamtliche Stasimitarbeiter gewusst, dass im Hause Schröder kein DDR-Fernsehen gesehen, kein DDR-Radio gehört wird. Jürgen Schröder erinnert sich in etwa so an das Gespräch: »Der sagte dann: Sie hören doch nur NDR und sie gucken auch nur das ZDF. Im Übrigen, warum machen Sie Ihrer Frau nicht die Freude und bauen nun endlich mal eine ARD-Antenne auf das Dach? Ihre Frau bekniet sie doch schon laufend. Und ich hab dann darauf geantwortet: Ja, das hätte ich ja längst getan, aber oben auf dem Dach ist kein freier Bügel mehr für eine Antenne. Und so leben wir eben mit dem ZDF. Ich habe versucht, das Ganze ein wenig ins Lächerliche zu ziehen. Das Gespräch wurde dann immer, immer bedrohlicher. Immer wieder kam der Hinweis, es müsse doch eine Ehre sein, als Kundschafter für die DDR zu arbeiten, wenn ich im Ausland wäre. Und als ich dann sagte, das würde ich niemals tun und ich würde auch niemals Spitzel sein, da regte man sich über diesen Begriff Spitzel auf.«

Später weiß Jürgen Schröder nicht, woher er damals den Mut genommen hat. Nach dem ersten fehlgeschlagenen Werbungsversuch soll er sich das Ganze noch einmal durch den Kopf gehen lassen. Nach zwei Tagen kommt es zu einem zweiten Gespräch. Wieder lehnt er ab, sehr kategorisch, sagt er heute und erinnert sich, »der Abschlusssatz dieses Gespräches war: Schröder, merken sie sich eins, wenn wir wollen, dann lassen wir Sie Steine klopfen. Und ich habe gesagt, da Sie mich ja so gut kennen, müssten Sie eigentlich wissen: Das dauert ungefähr drei Wochen und dann mache ich sehr gute Steine. Damit war das Gespräch beendet. Und ich habe nie wieder etwas von den Herren gehört. Aber von Mexiko habe ich dann auch nichts mehr gehört.«

So hatte der Vater seine Erfahrung mit der Stasi, und Tochter Christiane und ihr Freund Stephan ebenfalls, denn beide hatten sich geweigert, mit der Staatssicherheit zusammenzuarbeiten. Das ist in etwa die Situation 1989, als die Familie erfährt, dass die Tochter und der Schwiegersohn in spe das Land verlassen wollen, koste es, was es wolle. Euphorisch habe sie sich damals im Frühjahr 1989 gefühlt, erinnert sich die Tochter, und gleichzeitig ängstlich, ein innerer Aufruhr sei das gewesen. Ein befreundeter Anwalt aus dem Westen rät dem jungen Liebespaar zu heiraten, damit im Falle einer Festnahme während der Flucht wenigstens beide zusammen aus dem Gefängnis freigekauft werden können. Es wird geheiratet, und die Hochzeit im Frühsommer erfüllt noch einen ganz anderen Zweck.

Am 2. Mai 1989 hat sich ein Schlupfloch aufgetan. Ungarische Grenzsoldaten beginnen an diesem Tag, den Stacheldrahtzaun zwischen Ungarn und Österreich abzubauen. Die ungarische Regierung kündigt an, fortan nicht mehr auf Flüchtlinge schießen zu lassen. Der Plan des Hochzeitspaares ist es, über Ungarn in den Westen zu kommen. Christiane Schröder und ihr Stephan gehen davon aus, dass eine Hochzeitsreise die beste Gelegenheit ist, ihren Plan umzusetzen, schließlich bekommt längst nicht jeder ein Visum für eine Ungarn-Reise.

Zur Hochzeit schenkt der Bruder des Bräutigams ein schweres, symbolisches Präsent, einen riesigen Seitenschneider. Er sieht ungefähr so aus wie das Gerät, mit dem die ungarischen Grenzer im Mai damit begonnen haben, den eisernen Vorhang durchzuschneiden. Alles wird vorbereitet. Öfters setzen sich die Eltern mit ihrer Tochter und ihrem Schwiegersohn ins Auto und fahren raus ins Grüne, zwischen dem Rauschen der Bäume und Vogelgezwitscher wird dann bei Spaziergängen geplant, was zu planen ist. Beispielsweise werden Zeugnisse und Westgeld kleingefaltet und in Hosen- und Rocksäume eingenäht.

Im Juli geht es los. Die Eltern verabschieden die Kinder zur Hochzeitsreise nach Ungarn und wissen, es wird wahrscheinlich ein Abschied auf lange Zeit. Sie irren.

Wie viele andere DDR-Bürger haben damals die Schröders das Grenzregime der Ungarn unterschätzt. Auch wenn die Grenzsperranlagen nach und nach abgebaut werden, bleibt die sogenannte grüne Grenze nach wie vor bewacht. Wie oft sie es versucht haben, von Ungarn nach Österreich zu kommen? Heute weiß die Tochter es gar nicht mehr so genau, dreimal, viermal, vielleicht sogar fünfmal. »Vielleicht haben wir uns auch ziemlich dämlich angestellt«, sagt sie rückblickend, es hat jedenfalls nicht geklappt. Zwischendurch sucht das Paar Zuflucht in der bundesdeutschen Botschaft in Budapest. Dort campieren im Sommer 1989 zunächst rund 200 DDR-Bürger. Aber der Arm der Stasi reicht auch bis hierhin, das Paar wird wiederholt fotografiert, fühlt sich beobachtet. Die beiden versuchen noch einmal, über die Grenze zu entkommen, werden aber im Wald von Grenzsoldaten erwischt. Einen ganzen Tag lang verbringen die beiden auf einer Wache. Ihnen wird erklärt, dass sie in Ungarn nicht länger erwünscht sind. Sie geben auf und fahren zurück in die DDR. Enttäuscht und am Ende ihrer Kräfte sei sie damals gewesen, erzählt Christiane, weniger körperlich als vielmehr moralisch. Sie wollte bei den Eltern erst einmal wieder »die Batterien aufladen«. Dann aber erhält ihr Mann einen Musterungsbefehl. Für Jürgen Schröder ist damals klar, dass keine Zeit zu verlieren ist, denn wenn die Musterung zum Wehrdienst in der NVA erst einmal erfolgt ist, dann darf kein Ausreiseantrag mehr gestellt werden. Also packen die Kinder erneut ihre Sachen.

Heimlich und für keinen sichtbar verstauen sie die Taschen im Auto vom Vater und gehen spazieren. Jürgen Schröder sammelt das Paar dann ein und fährt es nach Ludwigslust. Dort setzt er seine Tochter und seinen Schwiegersohn in den Zug, das Ziel der Reise ist diesmal Prag. Es gelingt ihnen, dort die bundesdeutsche Botschaft zu erreichen. Doch sie haben Unglück im Glück. Stephan bekommt furchtbare Schmerzen, er leidet an einer Nierenkolik. In der bundesdeutschen Botschaft verhandeln damals die beiden Anwälte Wolfgang Vogel und Gregor Gysi über das Schicksal der DDR-Flüchtlinge. Die Fernsehbilder von überwiegend jungen DDR-Flüchtlingen, die über den Zaun der Prager Botschaft klettern, gehen im Sommer 1989 um die Welt. Diese Bilder beschädigen das Image der DDR. Die beiden Anwälte versuchen, die Flüchtlinge zum Verlassen der Botschaft zu überreden. Sie sichern den Ausborns und anderen Flüchtlingen zu, dafür zu sorgen, dass sie ausreisen dürfen, unter der Bedingung, dass sie zunächst in die DDR zurückkehren. Das Ehepaar entscheidet sich wohl oder übel, den Unterhändlern zu vertrauen, aber die Angst fährt mit. Zum zweiten Mal kehren sie unverrichteter Dinge heim, der Weg über Ungarn führte nicht raus, der über die Tschechoslowakei zunächst nur wieder an den Ausgangspunkt zurück. Das junge Paar stellt, wie ihnen in der Prager Botschaft aufgetragen wurde, sofort einen Ausreiseantrag. Rechtsanwalt Vogel hat versprochen, er würde ihre baldige Ausreise bewerkstelligen.

Und dann kommt der 5. Oktober 1989, endlich die ersehnte Ausreise, der endgültige Abschied der Familie auf dem Schweriner Hauptbahnhof. Es ist der 46. Geburtstag von Jürgen Schröder, zwei Tage vor dem 40. Jahrestag der DDR und rund vier Wochen vor der ungeahnten Öffnung der Grenze. Und da ist dieses Bild im Kopf von Jürgen Schröder, wie seine Frau so lange wie möglich versucht, die Hand ihrer Tochter festzuhalten. Das Ehepaar erfährt bald, wenngleich auch nur über Umwege, dass die Tochter im Aufnahmelager in Gießen angekommen und nach dem Einbürgerungsverfahren mit ihrem Mann nach Hamburg weitergezogen ist. Die neue Adresse der Tochter: Hamburg-Harburg. Später erfahren sie, dass die Vermieterin der kleinen Wohnung in Harburg den beiden Ex-DDR-Bürgern bei der Besichtigung Verblüffendes eröffnete. »Also«, sagte diese Frau Bruhns, »wenn Sie aus Mecklenburg kommen, dann ist Ihnen die Wohnung fast sicher, und wenn sie dann auch noch aus Schwerin sind, dann ist sie Ihnen ganz sicher.« Christiane und Stephan Ausborn bekommen die Wohnung. Diesen Umstand verdanken sie ausgerechnet ihrer DDR-Herkunft oder vielmehr der Tatsache, dass der geliebte Großvater der Vermieterin einst Bäcker in Schwerin war.

Das junge Ehepaar beginnt im Oktober 1989, sich in Hamburg ein neues Leben aufzubauen. Im rund 100 Kilometer entfernten Schwerin gehen Jürgen und Helga Schröder auf die Straße und demonstrieren für Veränderung. Als am 9. November Politbüromitglied Günter Schabowski in jener berühmten Pressekonferenz, selbst verunsichert, verkündet, ab sofort können Bürger und Bürgerinnen der DDR ausreisen, gibt es für das Ehepaar Schröder nur ein Ziel: Hamburg-Harburg. Gigantisch sei der Ansturm auf die Volkspolizeikreisämter gewesen, erinnert sich Jürgen Schröder, jeder will den Visumstempel für die Ausreise in seinen Pass. Am 12. November setzt er sich mit seiner Frau um 5 Uhr morgens ins Auto, ihr Sohn hat sich bereits einen Tag früher mit Freunden auf den Weg in den Westen gemacht. »Was für ein Gefühl! Zum ersten Mal konnte man ab der Autobahnabfahrt Wittenburg einfach weiterfahren«, erinnert er sich. Ein bedrückendes Gefühl sei es jedoch gewesen, die Grenzübergangsstelle Zarrentin auf der Transitautobahn erstmals zu sehen. »Was für eine Anlage, was für ein Aufwand, was für ein Misstrauen gegen alle, die sie passierten«, meint er. Nach der Abfertigung nähern die Schröders sich dem westdeutschen Grenzübergang Gudow. »Der war viel bescheidener«, fügt er hinzu. Die DDR-Bürger werden einfach freundlich durchgewunken! Welche Überraschung – und dann haben da Hunderte gestanden an der Autobahn und haben gewunken und jeden Trabbi, jedes Auto begrüßt.

Je näher die Schröders Hamburg kommen, desto banger wird ihnen, der Verkehr wird immer dichter, und sie wissen, irgendwann kommt Hamburg, und Hamburg ist groß. Wie um alles in der Welt sollen sie ohne Stadtplan, ohne Orientierung die Wohnung der Tochter in Hamburg-Harburg finden. Wo liegt Harburg überhaupt? An einer Tankstelle lassen sie sich den Weg beschreiben, verpassen aber die Ausfahrt und kommen an das Maschener Autobahnkreuz, das Horster Dreieck. Sie haben Hamburg schon längst hinter sich gelassen, als sie bei Tötensen erneut Hilfe an einer Tankstelle finden. Ein freundlicher Autofahrer fährt voran und zeigt ihnen den Weg zurück nach Harburg. Was für ein Gefühl das war, vor der Tür der Wohnung von Christiane und Stephan zu stehen? Jürgen Schröder kann das auch gut zwanzig Jahre später nicht beschreiben. Doch niemand öffnet, als er damals an der Wohnungstür klingelt. Eine Nachbarin erzählt, der Schwiegersohn sei bei der Arbeit und die Tochter habe am Vortag Besuch aus der DDR bekommen, von ihrem Bruder. Die beiden seien nach Altona zum Fischmarkt gefahren.

Die Familie ist an diesem 12. November 1989 also komplett im Westen, nur dass die Eltern in Harburg stehen und die beiden Kinder irgendwo auf diesem Fischmarkt. Es hilft nichts, die Schröders setzen sich wieder ins Auto, lassen sich den Weg nach Altona erklären und schlagen sich durch. Sie ahnen allerdings nicht, wie viele Menschen an diesem Sonntag den Hamburger Fischmarkt besuchen. Am ersten Wochenende nach der Grenzöffnung ist im Hamburger Hafen rund um die Fischauktionshalle der Teufel los. Jürgen Schröder geht beherzt zu einem Peterwagen der Hamburger Polizei, erzählt die Geschichte seiner Odyssee von Schwerin über die deutsch-deutsche Grenze über Tötensen und Harburg bis zum Fischmarkt und bittet die Polizisten, seine Kinder per Lautsprecher auszurufen. Das ist gegen die Vorschrift, wie könnte es auch anders sein. Augenzwinkernd geben die Beamten den Tipp, es im Fischmarktbüro zu versuchen. Einer der Polizisten begleitet die Schröders in das Büro und legt ein gutes Wort für sie ein. Tatsächlich klappt es, die Kinder werden ausgerufen: »Christiane Ausborn und Axel Schröder werden wegen einer dringenden Familienangelegenheit in das Fischmarktbüro gebeten.«

Keine drei Minuten habe es gedauert, erinnert sich Jürgen Schröder. Seine Tochter erzählt, wie sie mit ihrem Bruder über den Fischmarkt geschlendert ist: »Wir haben uns satt gesehen an den vielen Dingen, an dem Obst, an den Wagen mit Fischbrötchen, und dann kommt plötzlich aus dem Lautsprecher dieser Aufruf und schlagartig kriegt man weiche Knie, einem rutscht das Herz sonst wohin, weil man ja denkt, es muss irgendetwas ganz Schlimmes passiert sein. Wir haben alles stehen und liegen lassen, haben die Beine in die Hand genommen und sind gerannt. Wirklich gerannt!« Jürgen Schröder sieht es noch heute vor sich: »Die Tür ging auf, meine Tochter sah uns, sie sah ihre Mutter und schrie ein langgezogenes: Muttiiiiii! Dann lagen sich die beiden in den Armen ... Es war unbeschreiblich. Ich erinnere auch, wie plötzlich Ruhe in diesem Fischmarktbüro herrschte, wo es sonst ja recht lebhaft zugeht, und es waren dort Mitarbeiter des Fischmarktbüros, die sich die Tränen wischten. Es war wirklich so! Wir hatten uns wieder. Das war unglaublich!« Keiner habe sich seiner Tränen geschämt, setzt Jürgen Schröder noch hinzu, und seine Tochter ergänzt: »Da standen unsere Eltern vor uns, das war irre! Das kann man gar nicht beschreiben, das war ein ganz, ganz großes Gefühl.«

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