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Kapitel 3

Baker Beach, San Francisco, Kalifornien, USA

Die Uhr schlug nach zwei morgens früh. Penny konnte nicht schlafen. Nicht mal ein kurzer Abstecher zum Meer über den schmalen Sandstrand am Bakers Beach hatte ihre Gedanken vertreiben können. In weiter Entfernung erstrahlte die Golden Gate Bridge durch die Beleuchtung über dem Nordpazifik. Die Sandbänke wurden von trockenen Bergen und grünen Gehölzen umschlossen. Der Vollmond tauchte die Wasseroberfläche in flüssiges Silber. Rechts und links vom abseits gelegenen Strandhaus erstreckte sich ein dunkler Wald mit hochgewachsenen, dichten Bäumen. Die nächsten Nachbarn waren kilometerweit entfernt.

Es fühlte sich herrlich an, den Sand unter ihren Füßen und den Hauch eines Windzuges in ihrem Haar zu spüren. Doch sie wurde das Gefühl nicht los, dass sie beobachtet wurde. Ganz egal, wo sie sich aufhielt und wie oft sie sich prüfend umsah. Immerzu glaubte sie, nicht allein zu sein, obwohl niemand außer dem Hausbesitzer wusste, wo sie sich aufhielt. Sie war wirklich paranoid geworden.

Sie stieg die Treppenstufen zur Veranda des Hintereingangs hinauf und streifte sich den Sand von den nackten Füßen. Wie sehr wünschte sie sich, dass dieser verrückte Tag sein Ende fand. Sie schlüpfte ins Haus, verschloss die Hintertür und warf einen weiteren Blick durch das Fenster. Der Ausblick war herrlich beruhigend. Zu schade, dass sie bald abreisen würde.

***

Pierré bekam den ersten Anhaltspunkt über Pennys möglichen Aufenthalt von Sebastian Schmidts. Es hatte Pierré einiges an Überzeugungsarbeit gekostet, bis er Information von ihm über das letzte Telefonat mit Penny erhalten hatte. Erst nachdem Pierré von der verwüsteten Wohnung berichtet hatte, war Sebastian kooperationsbereit gewesen. Eine kurze Recherche hatte ergeben, dass der Mann einer Spezialeinheit des FBIs angehörte und derzeit bei einem Einsatz in San Francisco tätig war. Welcher Einheit genau war Verschlusssache. Keine Vorstrafen. Keinerlei Auffälligkeiten. Penny war also mit einem Agenten der Spezialeinheit befreundet. Sie hatte nach dem Einbruch lieber Sebastian statt ihn angerufen. Ein Anflug von Neid machte sich breit. Immerhin wusste er jetzt, dass sie nicht entführt worden war. Trotzdem hatte er sich direkt auf den Weg gemacht. Er musste sich einfach vergewissern, dass es ihr gut ging. Er hatte gerade sein Ziel erreicht und den Wagen geparkt, als sein Handy klingelte. Es war der Forensiker des Police Departments.

„John Gruber, so spät in der Nacht? Was gibt es?“

„Verzeih meinen späten Anruf. Ich wollte gerade meine überzogene Spätschicht beenden, als eine männliche Leiche eingeliefert worden ist, die dich interessieren dürfte.“

„Wieso das?“

„Bei den Besitztümern wurde eine Kette gefunden, die mir direkt ins Auge gesprungen ist.“

Pierré trommelte mit den Fingern gegen das Lenkrad. „Ja, und?“

Es herrschte eine Zeit lang Stille.

„Es ist ein Amulett.“, fuhr John schließlich fort. „Oder eher ein Medaillon. Es ist ein Bild von dir und einer Frau drin.“

Pierré wusste sofort, wie die Kette aussah. Weil er derjenige gewesen war, der sie ihr geschenkt hatte. Damals, als die Welt noch in Ordnung gewesen war. Pennys Medaillon an einem Tatort? Was hatte das zu bedeuten? War sie ihr beim Einbruch gestohlen worden? Oder hatte sie selbst die Kette dort verloren? Nein, ausgeschlossen.

„Wer ist die Frau?“, fragte John.

„Penny Liva, meine Ex-Freundin.“

„Hast du noch Kontakt zu ihr?“

„Gelegentlich. Wieso fragst du?“

„Naja, das bedeutet wohl, dass man dich in dem Fall nicht ermitteln lassen wird, mein Freund. Ich fand es nur fair, dich zu informieren, ehe ich unseren Vorgesetzten Chief Wingan kontaktiere.“

„Danke, John. Das weiß ich zu schätzen. Wer hat den Tatort untersucht?“

„Scott Williams“

Pierré seufzte genervt. „Ausgerechnet Williams. Ich kann den Kerl nicht ausstehen. Er ist so egoistisch.“

„Und nicht wirklich für die Teamarbeit geschaffen.“

„Da gebe ich dir Recht. Falls ich wirklich ausgeschlossen werden sollte, meinst du, du könntest du mir wenigstens eine Kopie des Obduktionsberichts aushändigen?“

„Pierré, du weißt, ich darf nicht-“

„Dafür würde ich dir einen Gefallen schulden.“ Pierré fiel ihm ins Wort.

„Versuchst du mich gerade zu überreden, mein Freund?“

„Funktioniert es?“ Pierré schmunzelte.

„Okay. Ich verstaue dir eine Kopie des Berichts und ein paar Fotos heute Nacht in deinem Schreibtisch.“

„Du bist grandios. Aber du wolltest doch Feierabend machen. Wie willst du den Leichnam heute Nacht so schnell obduzieren?“

„Der Kerl hatte eine Glasscherbe im Hals. Die wohl wahrscheinlichste Theorie, woran er gestorben ist. Nichtsdestrotz werde ich noch ein paar weitere Analysen durchführen müssen.“

„Vielen Dank, dass du das für mich tust.“

„Ich vertraue dir und deinen Fähigkeiten, Pierré. Du wirst nicht für umsonst eine Auszeichnung für deine herausragenden dienstlichen Leistungen erhalten.“

„Wie kann ich dir je dafür danken?“

„Beim nächsten Mal zahlst du in der Kneipe.“

„Einverstanden.“

Er beendete das Gespräch. Als er ausstieg bemerkte er, wie ein schwarzer Pick-Up weiter entfernt geparkt hatte. Eine dunkle Gestalt stand am Straßenrand und erleichterte sich zwischen den Bäumen. Pierré verzog angewidert das Gesicht und ging zu der Adresse, die er erhalten hatte. Vereinzelte Straßenlaternen tauchten den Weg abschnittsweise in ein dämmriges Licht. Dazwischen führte ihn das Licht des Monds. Prüfend sah er sich um und lauschte den unheimlichen Geräuschen des Waldes. In der Ferne sah er schwaches Licht hinter den Fenstern einer kleinen Holzhütte, die eingeschlossen von hohen Bäumen war. Irgendwo raschelte etwas, er konnte allerdings nicht feststellen, woher es kam. Sein Blick schweifte umher. Er erwartete, dass es die Blätter an den Ästen waren, doch kein einziges Blatt bewegte sich.

***

Gerade als Penny das heiße Wasser in die Porzellantasse goss, sah sie durch das Fenster und entdeckte eine dunkle Gestalt, die sich auf das Haus zubewegte. Sie wusste nicht wer es war. Sebastian konnte es nicht sein. Er würde erst am nächsten Tag zurückkehren. Sonst wusste niemand, dass sie hier war. Wer war das? Etwa der Einbrecher? War er ihr gefolgt? Sie stellte den Wasserkocher ab, zückte ein Messer aus dem Messerblock und schaltete das Licht aus. Ihr Puls beschleunigte sich. Adrenalin pumpte durch ihren Körper. Sie trat in den Flur. Ihre Hand umschloss den Griff des Messers. Ihr Blick wanderte zwischen der Haustür und dem Hintereingang hin und her. Sollte sie sich nach draußen wagen?

Es klopfte. „Penny?“

Das war doch Pierrés Stimme. Sie legte das Messer auf dem Küchentisch ab. Erleichtert schloss sie die Haustür auf. Er stand auf der Veranda und sah sie an. „Pierré?“

Er grüßte sie. „Ist alles okay bei dir?“

Sie nickte. Seine Stimme zu hören tat gut. Die Anspannung ließ nach. Erleichtert fiel sie ihm um den Hals. Seine Hände wanderten auf ihren Rücken. Als sie auseinanderfuhren, streifte er ihre Schultern. „Darf ich reinkommen?“

„Sicher. Was tust du hier?“, fragte sie, während sie in die Küche ging und das Licht wieder anknipste. Sie bot Pierré den Platz auf der unbequemen Holzbank an. Er setzte sich. Sie goss heißes Wasser in einen Becher mit Teebeutel. Als sie auf den Becher deutete, winkte er kopfschüttelnd ab.

„Du hast deinen Ohrring bei mir im Wagen verloren.“

Er holte das Schmuckstück aus der Hosentasche und legte ihn neben dem Messer auf den Tisch.

„Oh, das macht nichts. Ich habe nicht mal bemerkt, dass ich ihn verloren habe.“

„Ich war noch in der Nähe und wollte ihn dir zurückbringen. Du wohnst gar nicht in dem Haus, an dem ich dich abgesetzt habe.“

„Nein. Da nicht, aber in der Nähe.“

„Wieso hast du mir verschwiegen, wo du wirklich wohnst?“

Sie schwieg.

„Penny?“

„Es“ Sie hielt inne, ehe sie seufzte. „Es tut mir leid. Bitte nimm es nicht persönlich. Ich habe es nie jemandem erzählt, aber seitdem ich mich damals aus dem Keller befreien konnte, bin ich Männern gegenüber misstrauisch.“

„Du weißt, ich würde dir niemals etwas antun.“

„Ich weiß“ Sie nickte. „Bitte verzeih, dass ich es dir nicht erzählt habe.“

„Schon okay. Seit dem heutigen Abend verstehe ich, weshalb wir uns damals nie nähergekommen waren. Der Grund, dass du keine Gefühle für mich hättest, stimmte nicht. Das war der wahre Beweggrund unserer Trennung, nicht wahr?“

Sie stimmte zu. „Ich wage mich nicht, einem Mann zu vertrauen. Wegen der Straftat werde ich wahrscheinlich mein Leben lang einsam bleiben.“

„Das stimmt nicht.“ Pierré stand auf. Er trat auf sie zu. „Ich bin bei dir. Du wirst nie allein sein.“

„Es tut gut, das zu hören.“ Penny grinste verschmitzt.

„Das meine ich ernst. Ich möchte, dass es dir gut geht. Umso unruhiger war ich, nachdem mir eine alte Dame, dein wirkliches Zuhause zeigte.“

„Du warst da?“

Er nickte. „Es war das reinste Chaos.“

„Dann vermute ich, wirst du mein Handy gefunden und mein letztes Telefonat zurückverfolgt haben.“

„Dein Handy, die verwüstete Wohnung und das Fotoalbum. Dieser komische Kautz namens Sebastian hat mir verraten, wo ich dich finde.“

„Ich habe Sebastian vertraut.“, schimpfte sie sauer, „Wieso hat er mich verraten?“

„Nimm es ihm nicht übel. Er schien besorgt um dich.“

Penny fuhr sich durchs Haar und stieß den Atem aus. Sie versuchte sich zu beruhigen.

„Darf ich fragen, was in der Wohnung passiert ist?“

„Ich habe keine Ahnung. Die Wohnung war bereits verwüstet, als ich nach Hause kam. Ich dachte, ich tauche hier vorerst unter. Das Haus gehört Sebastian. Er ist ein Freund von mir.“

„War noch jemand in der Wohnung, als du angekommen bist? Hast du irgendwas gesehen oder gehört?“

„Nein, habe ich nicht. Da war keiner mehr.“

Pierré stieß den Atem aus. „Ich bin froh, dass dir nichts zugestoßen ist. Ich habe mir Sorgen gemacht, als ich das Chaos entdeckt habe. Auch wenn es mich eigentlich nichts mehr angeht.“

Seine Worte trafen sie mitten ins Herz. Er hatte sich Sorgen gemacht? Um sie? Sie wünschte sich nichts mehr, als sorglos und sicher in seinen Armen liegen zu können. Doch sie fürchtete sich. Außerdem konnte sie nicht riskieren, dass er in Gefahr geriet. Der Mann, für den sie heimlich noch immer Gefühle hegte. Schon allein in ihrer Nähe zu sein, war gefährlich für ihn.

„Hast du den Einbruch schon bei der Polizei gemeldet?“, fragte Pierré, als die Stille unangenehm wurde.

„Das tue ich hiermit gerade.“ Penny grinste und wurde wieder ernst. „Den ersten vor zwei Wochen habe ich nicht gemeldet.“

„Den ersten?“

„Dabei wurde mir mein Medaillon gestohlen. Du weißt schon, das, was du mir geschenkt hast.“ Der Verlust schmerzte sie immer noch.

„Ich war so nervös, weil ich nicht wusste, ob es dir gefällt.“, gestand Pierré.

„Ich habe es selbst nach unserer Trennung manchmal noch getragen. Ich erinnere mich, als wäre es erst gestern gewesen. Das romantische Picknick auf dem Hochhausdach. Die glitzernden Lichter der Leuchtreklamen von Los Angeles unter uns. Der Vollmond über uns.“

Die Beziehung zu Pierré vor vier Jahren war damals recht kurz. Die Erinnerung an ihre Vergangenheit war so schmerzhaft, dass sie ihn nie näher an sich gelassen hatte. Wahrscheinlich würde sie es nie können. Es tat ihr innerlich weh, ihn förmlich zerbrechen zu sehen, als sie die Trennung vorschlug.

Als Pierré aufstand und dicht vor ihr stehen blieb, umhüllte sie eine angenehme Hitze.

„Du“, er rieb sich über den Oberarm, „bist auf dem Rand des Hochhausdaches rumlaufen und weggerutscht.“

„Aber du hast mich glücklicherweise festgehalten, ehe ich stürzen konnte. Und ich habe so ein seltsames Wort geschrien, weil ich dir was erzählen wollte. Was war es noch gleich?“

Espresso. Immer wenn ich jetzt das Wort höre, denke ich unweigerlich an Gefahr.“

„Du“ Sie musterte ihn lächelnd, „Du hast es dir gemerkt?“

„Es fällt mir nicht gerade leicht, es zu verdrängen, wenn neben meiner Dienststelle direkt eine Espressobar grenzt.“ Er zwinkerte.

Sie räusperte, riss sich aus den Gedanken.

Er stöhnte, rieb sich über das Gesicht und tigerte durch die Küche. „Warum hast du den ersten Einbruch und den Diebstahl nicht gemeldet?“

„Ich stand unter Schock. Wieso fragst du?“

„Mich hat gerade ein Kollege angerufen. Dein Medaillon ist aufgetaucht.“

Überrascht horchte sie auf. „Wirklich? Wo?“

„An einem Tatort.“

Ein ungutes Gefühl breitete sich in ihr aus. „An einem Tatort? Wie kommt es dahin?“

„Vielleicht durch den, der bei dir eingebrochen ist. Das wäre zumindest die logischste Erklärung. Hast du irgendeine Idee, wer das gewesen sein könnte?“

„Leider nicht. Und was wäre die weniger logische Erklärung?“

„Pierré musterte sie lange. Als brächte er es nicht über sich, es auszusprechen. Schließlich seufzte er. „Der ermittelnde Detective könnte denken, dass du etwas damit zu tun hast.“

„Ich?“

„Deine Kette ist ein Beweisstück in einem Mordfall.“

Penny wankte.

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