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Der erste Mai in der Welt des Virus

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Vielleicht ist der erste Mai der richtige Zeitpunkt, um uns von unserer Fixierung auf die Pandemie etwas zu lösen und darüber nachzudenken, was sie und ihre verheerenden Auswirkungen über unsere gesellschaftliche Realität offenbaren.

Mich hat vor allem überrascht, wie die Klassenunterschiede – trotz der billigen Beteuerungen, dass „wir alle im selben Boot sitzen“ – förmlich explodiert sind. Ganz unten in der Hierarchie stößt man auf Menschen (Flüchtlinge, Bewohner von Kriegsgebieten), die unter einer solchen Not leiden, dass ihr größtes Problem nicht Covid-19 ist. Während unsere Medien diese Menschen immer noch weitgehend ignorieren, werden wir mit Bildern von sentimentalen Beifallsbekundungen für Krankenpflegerinnen bombardiert, die in unserem Kampf gegen das Virus an vorderster Front stehen – die britische Luftwaffe flog sogar eine Ehrenformation über ihre Köpfe hinweg. Doch sind die Krankenhausmitarbeiterinnen nur die sichtbarsten Vertreterinnen einer ganzen Klasse von Pflege- und Servicekräften, die eindeutig ausgebeutet wird, wenn auch auf andere Weise, als sich dies der Marxismus im Fall der alten Arbeiterklasse vorstellte; für David Harvey bilden diese Menschen eine „neue Arbeiterklasse“:

Diese Arbeitskräfte kümmern sich um die stetig wachsende Gruppe der Kranken oder erbringen grundlegende Dienstleistungen, durch die unser Alltagsleben aufrechterhalten wird. Dabei handelt es sich um Menschen, die wegen ihres Geschlechts, ihrer Hautfarbe oder ihrer Ethnie gewöhnlich schnell diskriminiert werden. Sie bilden die „neue Arbeiterklasse“, die im heutigen Kapitalismus an vorderster Front steht. Die Mitglieder dieser Klasse müssen eine doppelte Belastung schultern: Sie gehören zu den Arbeitern, die der Gefahr einer Virusinfektion durch ihre Tätigkeiten am stärksten ausgesetzt sind; gleichzeitig sind sie wegen der Sparmaßnahmen der Wirtschaft, die das Virus erforderlich gemacht hat, am ehesten von Arbeitslosigkeit und Armut betroffen. Die heutige Arbeiterklasse in den USA, der vor allem Afroamerikaner, Latinos und berufstätige Frauen angehören, muss zwischen zwei Übeln wählen: Entweder infiziert sie sich mit dem Virus, weil sie in der Pflege arbeitet und wichtige Versorgungsmöglichkeiten (wie zum Beispiel Lebensmittelgeschäfte) aufrechterhält, oder sie verliert ihren Arbeitsplatz und lebt am Existenzminium (und damit ohne ausreichenden Versicherungsschutz).5

Dies ist der Grund, warum es jüngst Unruhen in den armen Vororten nördlich von Paris gab, in denen die Bediensteten der Reichen leben. Dies ist der Grund, warum Singapur vor wenigen Wochen bekanntgab, dass die Zahl der Corona-Infektionen in Unterkünften ausländischer Arbeiter dramatisch gestiegen war. Ein Nachrichtenartikel klärt über die Hintergründe dieser Entwicklung auf: „In Singapur leben ungefähr 1,4 Millionen Wanderarbeiter, die vor allem aus südlichen und südöstlichen Teilen Asiens stammen. Diese Migranten arbeiten als Haushälterinnen, einfache Hilfskräfte, Bauarbeiter und Handwerker und sind unverzichtbar, damit in Singapur alles seinen geregelten Gang geht – doch gehören sie gleichzeitig zu den schlechtbezahltesten und schutzlosesten Bewohnern der Stadt.“6 Diese neue Arbeiterklasse war schon lange da, doch hat erst die Pandemie sie ans Licht gebracht.

Um dieser Klasse einen Namen zu geben, haben Bruno Latour und Nokolaj Schultz den Begriff „geo-soziale Klasse“7 geprägt. Die meisten ihrer Mitglieder werden nicht in dem klassisch marxistischen Sinn ausgebeutet, dass sie für diejenigen arbeiten müssen, die über die Produktionsmittel verfügen; ihre „Ausbeutung“ bezieht sich auf die materiellen Bedingungen, unter denen sie leben müssen: die Verfügbarkeit von Wasser und sauberer Luft, Gesundheit, Sicherheit … Die Bewohner einer Region werden ausgebeutet, wenn ihr Territorium von industrieller Landwirtschaft oder intensivem Rohstoffabbau beansprucht wird, um Waren für den Export zu produzieren. Selbst wenn die Betroffenen nicht für ausländische Unternehmen arbeiten, werden sie allein schon dadurch ausgebeutet, dass man sie das Territorium nicht mehr in vollem Umfang nutzen lässt, das bislang ihre Lebensgrundlage darstellte. Nehmen wir die somalischen Piraten: Sie entschieden sich für die Piraterie, weil ihre Küstengewässer von ausländischen Firmen mit industriellen Fangmethoden leergefischt wurden. Die entwickelten Länder haben von einem Teil ihres Territoriums Besitz ergriffen und damit das Ziel verfolgt, den westlichen Lebensstil weiter aufrechtzuerhalten. Schultz schlägt an dieser Stelle vor, nicht mehr von einer Aneignung des „Mehrwerts“, sondern von der Aneignung einer „Mehrexistenz“ zu sprechen, wobei „Existenz“ die materiellen Lebensbedingungen meint.8

Wie sich in der Coronapandemie gezeigt hat, muss die geo-soziale Klasse der Pflegekräfte selbst dann weiterarbeiten, wenn die Fabriken stillstehen – daher erscheint es angebracht, den ersten Mai ihnen zu widmen statt der Klasse der traditionellen Industriearbeiter. Sie werden durch und durch ausgebeutet: wenn sie ihre Arbeit verrichten (da dies weitgehend im Verborgenen geschieht), und auch dann noch, wenn sie nicht arbeiten, also nichts anderes tun, als zu existieren.

Die Reichen haben schon immer von einem Territorium geträumt, in dem sie von den dreckigen Wohngegenden der gewöhnlichen Leute völlig abgeschirmt sind – man denke nur an die vielen post-apokalyptischen Blockbuster wie etwa Neil Blomkamps Elysium, der im Jahr 2154 spielt und zeigt, wie Reiche auf einer riesigen Raumstation leben, während die restliche Bevölkerung auf einer verwüsteten Erde dahinsiecht, die an eine überdimensionale lateinamerikanische Favela erinnert. Aus Angst vor einer Katastrophe erwerben die Reichen Villen in Neuseeland oder renovieren in den Rocky Mountains Atombunker aus Zeiten des Kalten Krieges, doch ist es gerade das Charakteristikum einer Pandemie, dass man sich von ihr nicht vollständig isolieren kann – wie bei einer untrennbaren Nabelschnur bleibt ein Minimum an Kontakt zur schmutzigen Realität bestehen.

Pandemie! II

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