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Einführung: Warum ein Philosoph über die Obst- und Gemüseernte schreiben sollte
ОглавлениеEtwas ist faul im nördlichen Nordwesten – und ich spreche hier nicht von dem Hitchcock-Klassiker North by Northwest, sondern von der Stadt Gütersloh im nördlichen Nordwesten Deutschlands, wo Mitte Juli 2020 mehr als 650 Arbeiter in einer Fleischverarbeitungsfabrik positiv auf Covid-19 getestet und in den darauffolgenden Wochen Tausende in Quarantäne geschickt wurden. Wie so oft geht es um Klassenunterschiede: Man hat Arbeiter aus dem Ausland geholt, die einen schmutzigen und gefährlichen Job erledigen sollen.
Der gleiche übelriechende Geruch strömt aus allen Ecken der Welt. Ende des Frühjahrs 2020 verfault in Tennessee im Süden der USA tonnenweise nicht geerntetes Obst und Gemüse. Warum? Weil dort in einem landwirtschaftlichen Betrieb alle Arbeiter, insgesamt fast 200 Angestellte, positiv auf Covid-19 getestet wurden, nachdem einer der Arbeiter an dem Virus erkrankt war.1
Dies ist nur eines von vielen Beispielen, wie die Pandemie die Nahrungsmittelversorgung bedroht: Der Anbau von Produkten, die nur von Hand geerntet werden können, ist auf Hunderttausende, meist ausländische Saisonarbeiter angewiesen, die in Bussen zusammengepfercht herumgefahren werden und in beengten Unterkünften schlafen – ideale Voraussetzungen für das Virus, um sich fortzupflanzen. Die Fallzahlen werden sicher noch weiter steigen, da die Ernte schnell eingefahren werden muss, sobald die Nahrungsmittel reif sind. Dabei arbeiten die Saisonkräfte unter miserablen Bedingungen: Ihre Arbeit ist anstrengend und unsicher, ihr Einkommen ist gering, ihr Versicherungsschutz reicht grundsätzlich nicht aus, viele von ihnen sind Migranten ohne Aufenthaltsgenehmigung … Dies ist ein weiteres Beispiel dafür, wie die Pandemie Klassenunterschiede zum Vorschein bringt. Sie führt uns vor Augen, dass nicht alle von uns im selben Boot sitzen.
Fälle wie dieser wiederholen sich überall auf der Welt. Im Süden von Italien und Spanien gibt es nicht genug Arbeitskräfte, um das Obst und Gemüse zu ernten, in Florida verrotten tonnenweise Orangen und in Großbritannien, Frankreich, Deutschland und Russland steht man vor ähnlichen Problemen. Die Pandemie stürzt uns in eine Krise, die in ihrer Absurdität typisch für den Kapitalismus ist: Tausende von einsatzfähigen Arbeitern bekommen keinen Job und sitzen untätig herum, während auf den Feldern tonnenweise Lebensmittel verrotten.
Es sind nicht nur die Ernte von und der Handel mit Nahrungsmitteln, die unter massiven Beeinträchtigungen leiden – genauso problematisch gestaltet sich der Anbau von Obst und Gemüse. Schwärme von Heuschrecken vernichten die Erträge im Osten Afrikas ebenso wie in westlichen Regionen Indiens, außerdem ist die Landwirtschaft in beiden Gebieten von Trockenheit bedroht … Für uns bedeutet all dies, dass wir uns auf eine erhebliche Nahrungsmittelknappheit, wenn nicht sogar Hungersnot einstellen müssen, und zwar nicht nur in den Ländern der Dritten Welt. Wir im Westen werden uns mit größeren Problemen auseinandersetzten müssen als einer geringfügigen Preiserhöhung für eine gewöhnliche Schale Erdbeeren. Es ist noch nicht alles hoffnungslos verloren, aber es braucht jetzt eine rasche und international abgestimmte Reaktion, die über Aufrufe nach freiwilligen Erntehelfern weit hinausgeht. Man muss Regierungsorganisationen einschalten, die Leute mobilisieren, um die Krise noch abzuwenden.
An dieser Stelle kann ich hören, wie meine Kritiker (und auch manche Freunde) in Gelächter ausbrechen und die spöttische Bemerkung fallen lassen, dass die Pandemie meinem Wirken als Philosoph ein Ende gesetzt hat: Wen interessiert schon eine lacanianische Deutung Hegels, wenn unsere Existenz in ihren Grundfesten erschüttert wird? Selbst Žižek muss sich nun mit der Frage befassen, wie wir die Ernte einholen können.
Doch könnten diese Kritiker keinem größeren Irrtum unterliegen. Die momentane Pandemie hat nicht nur soziale und ökonomische Konflikte zum Vorschein gebracht, die unterhalb der Oberfläche schon lange brodelten; genauso wenig stellt sie uns ausschließlich vor immense politische Probleme. Stattdessen wird immer deutlicher, dass sie weltweit unterschiedliche Gesellschaftsentwürfe aufeinanderprallen lässt. Am Anfang der Krise sah es noch so aus, als würde sich eine allgemeine Form von globaler Solidarität durchsetzen, um vor allem die Risikogruppen zu schützen. Doch ist diese Solidarität, wie John Authers schreibt, allmählich „erbitterten kulturellen Grabenkämpfen gewichen, in denen gegensätzliche moralische Prinzipien auf den jeweils anderen wie metaphysische Granaten geschleudert werden. Während verschiedene Länder inzwischen ihren völlig eigenen Ansatz verfolgen, haben sich die USA schon fast in zwei eigenständige Nationen aufgespalten, deren Trennlinie zwischen Menschen mit Maske und Menschen ohne verläuft.“2
Dieser Konflikt ist ein wahrhaftig existenzieller, deshalb gibt es erst einmal keinen Anlass, sich über diejenigen lustig zu machen, die keine Maske tragen wollen. Warum er die Maske ablehnt, hat Brenden Dilley, Talkshow-Moderator aus Texas, folgendermaßen begründet: „Lieber tot als ein Trottel. Ja, das meine ich wirklich so. Ich würde gerade lieber sterben, als wie ein Idiot auszusehen.“ Dilley weigert sich, eine Maske zu tragen, da dies aus seiner Sicht der Minimaldefinition von menschlicher Würde widerspricht.
Aus diesem Grund ist es absolut angebracht, wenn ein Philosoph über die Obst- und Gemüseernte schreibt: Wie wir mit diesem Problem umgehen, hängt letztlich von unserer allgemeinen Einstellung gegenüber dem menschlichen Leben ab. Sind wir Libertäre wie Dilley und lehnen jeden Eingriff in unsere persönliche Freiheit ab? Sind wir Utilitaristen und nehmen den Tod Tausender von Menschen in Kauf, damit die Mehrheit wirtschaftlich gut dasteht? Sind wir Anhänger eines starken Staats und der festen Überzeugung, dass uns nur strenge Kontrollen und Maßnahmen vonseiten der Regierung retten werden? Sind wir Esoteriker und vertreten die Auffassung, die Pandemie sei eine Warnung der Natur oder eine Strafe für unseren verschwenderischen Umgang mit natürlichen Ressourcen? Vertrauen wir darauf, dass uns Gott lediglich prüfen möchte und er uns irgendwann einen Ausweg weisen wird? Jeder dieser Standpunkte impliziert eine bestimmte Vorstellung davon, was Menschen eigentlich ausmacht. So gesehen, wird jeder zwangsläufig zum Philosophen, der Vorschläge zur Bewältigung der Krise macht.