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Covid-19, Klimaerwärmung, Ausbeutung – ein und derselbe Kampf

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Denkt man heute (Ende Juni) an die ersten beiden Monate der Corona-Panik zurück, kann man beinahe schon nostalgisch werden: Wir waren zwar in Quarantäne, rechneten aber damit, dass dieser Zustand einen oder zwei Monate dauern würde und wir dann mehr oder weniger zur Normalität zurückkehren würden – selbst der Leiter des US-amerikanischen Instituts für Allergien und Infektionskrankheiten, Dr. Fauci, stellte seinen Landsleuten in Aussicht, dass sie ihre Sommerferien wieder genießen könnten. Die Quarantäne erschien uns wie eine zeitlich beschränkte Ausnahme, eine fast schon willkommene Auszeit von unserem stressigen Alltag, die uns Gelegenheit bot, sich mehr um unsere Familie zu kümmern, Bücher zu lesen und Musik zu hören und unsere Lust am Kochen wiederzuentdecken, alles in der Gewissheit, dass dieser Zustand bald wieder vorbei sein würde. Inzwischen befinden wir uns in einem Stadium, das manche mit einem Hau-drauf-Reaktionsspiel vergleichen, in dem ständig neue Cluster auftauchen, ganz zu schweigen von der Explosion der Hotspots in Ländern wie den USA, Brasilien und Indien. Erst jetzt wird uns klar, dass wir an der Schwelle einer neuen Epoche stehen, in der wir uns auf ein Leben mit dem Virus einstellen müssen. Wir sehen einer unbestimmten Zukunft entgegen und können nicht abschätzen, welche Entwicklung die Pandemie nehmen wird – eine Situation, die der deutsche Virologe Hendrik Streeck mit den folgenden Worten treffend beschrieben hat: „Ich glaube […] nicht, dass wir eine zweite oder dritte Welle haben werden. Ich glaube, wir sind in einer kontinuierlichen Welle.“9

Dabei sind wir jedoch viel zu sehr auf die Covid-19-Statistiken fixiert, was sich unter anderem daran zeigt, dass viele von uns regelmäßig auf Worldometer nachsehen, wie sich die Zahlen der Infizierten, Verstorbenen und Genesenen entwickeln. Dieser gebannte Blick auf die Zahlen täuscht zwangsläufig darüber hinweg, dass offensichtlich viel mehr Tote von Krebs, Herzinfarkten, Luftverschmutzung, Hungersnöten, bewaffneten Konflikten und häuslicher Gewalt verursacht werden. Es scheint, als müsse man nur die Corona-Infektionen endgültig in den Griff bekommen, und alle unserer Probleme würden sich in Luft auflösen. Doch gilt weiterhin, dass das menschliche Leben viel Elend birgt, ja gewissermaßen ein elender Zustand ist, der oftmals mit sinnlosem Leiden einhergeht und schmerzhaft endet.

Überdies wird immer klarer, wie die Covid-19-Pandemie mit unseren Umweltproblemen zusammenhängt. Vermutlich lässt sich Covid-19 noch relativ einfach in den Griff bekommen, doch wird uns die weltweite Klimaerwärmung radikalere Maßnahmen abverlangen. Greta Thunberg hat zu Recht jüngst darauf hingewiesen, dass „die Klimaerwärmung und die ökologische Krise mithilfe der heutigen politischen und ökonomischen Systeme nicht bewältigt werden können.“10 Wenn die Covid-19-Krise ein weltweites Handeln erforderlich machte, so gilt dies umso mehr für die globale Klimaerwärmung und Umweltverschmutzung, doch unternehmen wir immer noch keine Schritte in diese Richtung – oder in den Worten Thunbergs, die Andersen zitiert und dabei eines seiner Märchen wunderbar ins Gegenteil verkehrt: „Die Könige sind nackt, und zwar jeder einzelne von ihnen. Es besteht kein Zweifel mehr, dass unsere gesamte Gesellschaft ein einziger großer Nudistentreff ist.“

Es gibt ein Anzeichen von Erderwärmung, das selbst die größten Skeptiker überzeugen sollte: die anhaltende Hitzewelle in Sibirien, die 2020 in der ersten Jahreshälfte Waldbrände, eine Ölpest und eine Plage von Baumschädlingen verursachte. Laut einem Nachrichtenmedium „verzeichneten russische Dörfer im Polarkreis außergewöhnlich hohe Temperaturen, so wurde in Nischnjaja Pjoscha am 9. Juni ein Höchstwert von 30 Grad Celsius gemessen […] Der auftauende Permafrost war zumindest teilweise dafür verantwortlich, dass es in Sibirien in diesem Monat zu einer Ölpest gekommen ist, derentwegen Putin den Ausnahmezustand ausrief. Der Unterbau eines Aufbewahrungstanks für Diesel gab plötzlich nach.“11 Man stelle sich nur vor, was passieren würde, wenn der Permafrost auftaut und all die seit Langem eingefrorenen Bakterien und Viren reaktiviert würden!

Dasselbe gilt für den Zusammenhang zwischen Covid-19 und den anti-rassistischen Protesten, die überall auf der Welt ausbrachen. Die anhaltende Diskussion über das Motto „Black lives matter“ (Warum heißt es nicht „All lives matter“? et cetera) lässt sich ein für alle Mal beenden mit dem Verweis auf ein wunderbar brutales Meme, das momentan in den USA zirkuliert und Stalin mit einem Poster und dem Spruch „No lives matter“ zeigt. (Ich verzichte hier auf polemische Kommentare darüber, dass das Meme auf die Morde zurückgeht, die Anhänger Stalins in Australien verübten.) Das Körnchen Wahrheit, das in dieser Provokation steckt, ist die Einsicht, dass es Dinge gibt, die wichtiger als das bloße Überleben sind – ist dies nicht auch die zentrale Botschaft derjenigen, die gegen die Polizeigewalt gegenüber Schwarzen protestieren? Schwarze (und ihre Unterstützer) fordern nicht einfach nur das Recht auf Überleben, sondern wollen mit Würde behandelt werden, als freie und gleichberechtigte Bürger, und sind dafür bereit, einiges zur riskieren, mitunter sogar ihr Leben. Deshalb versammeln sie sich zu Demonstrationen, selbst wenn dies das Risiko erhöht, Covid-19 weiterzugeben oder sich damit zu infizieren.

Hatte Giorgio Agamben also Recht, als er sich gegen den staatlich verhängten Lockdown und die Selbst-Quarantäne aussprach, da diese Maßnahmen zur Folge hätten, dass unser Leben auf die bloße Existenz reduziert wird – in dem Sinne, dass wir durch die Einhaltung der Corona-Regeln signalisieren, dass wir bereitwillig das aufgeben, was unser Leben lebenswert macht, damit wir eine Chance haben zu überleben? Müssen wir unser Leben riskieren (indem wir uns der Gefahr einer Infektion aussetzen), um unsere Menschlichkeit vollständig zu bewahren? Problematisch an dieser Haltung ist, dass sich die größten Gegner eines Lockdowns heute unter den populistischen neuen Rechten befinden: Sie sehen in allen solchen Einschränkungen – von Lockdowns bis hin zur Maskenpflicht – die Erosion unserer Freiheit und Würde. Darauf sollten wir reagieren, indem wir die folgende entscheidende Frage stellen: Welche Folgen hätte eine Aufhebung des Lockdowns und der Quarantäne für die einfachen Arbeiter? Die Folge wäre, dass sie in eine unsichere Welt hinausgehen und eine Infektion riskieren müssten, um zu überleben.

Damit kommen wir zum entscheidenden Punkt: den paradoxen Auswirkungen, welche die Coronapandemie auf die Wirtschaft hat. Auf der einen Seite zwingt sie die Behörden zu Maßnahmen, die manchmal fast schon kommunistisch anmuten: ein Grundeinkommen, Krankenversicherung für alle et cetera. Diese unerwartete Offenheit für kommunistische Ideen ist jedoch nur eine Seite der Medaille. Gleichzeitig kündigt sich mit aller Gewalt ein gegenläufiger Trend an, der unter anderem mit sich bringt, dass Unternehmen Unmengen von Reichtum anhäufen und vom Staat gerettet werden. Allmählich beginnen sich die Konturen eines Corona-Kapitalismus abzuzeichnen, einschließlich neuer Formen des Klassenkampfs – oder in den Worten von Joshua Simon, einem Autor und Kurator aus Philadelphia:

Die US-amerikanischen Städte haben den größten Mietstreik seit Jahrzehnten erlebt, außerdem mindestens 150 Arbeiterstreiks und öffentliche Mitarbeiterproteste (vor allem von Amazon-Lagerarbeitern) sowie Hungerstreiks in Flüchtlingsunterkünften. Wie Studien zeigen, ist es US-Milliardären hingegen in den ersten Wochen des Corona-Lockdowns gelungen, ihr gesamtes Vermögen in nur 23 Tagen um 282 Milliarden Dollar zu vermehren. Wir müssen feststellen, dass eine enorme Ungleichheit seit der Pandemie und dem Lockdown um sich greift. Ich spreche hier von Menschen, die ihre Arbeit verlieren, von gigantischen Rettungsaktionen, die in erster Linie den großen Konzernen und den ohnehin schon extrem Reichen zugutekommen, und von Maßnahmen, welche die Arbeiter, die man für unverzichtbar hält, zum Weiterarbeiten zwingen.12

Die neue Form von Ausbeutung, mit der das Arbeiten unter Corona-Bedingungen (im Westen) einhergeht, besteht laut Simon vor allem darin, „die Kosten auf die Arbeiter abzuwälzen. Die Menschen, die nicht krankgeschrieben sind, oder die Lehrer, die mit Breitband-Internet und Laptops von zu Hause aus unterrichten, sind nur zwei Beispiele dafür, dass die Haushalte die Arbeit im Bereich der Reproduktion und Produktion völlig übernommen haben.“ Unter diesen Bedingungen ist der Kapitalist nicht mehr in der Rolle desjenigen, der über die Produktionsmittel verfügt und sie mithilfe von Lohnarbeitern betreibt: „Die Arbeiter*innen stellen die Produktionsmittel selbst. Dies sieht man unmittelbar am Amazon-Paketboten oder dem Uber-Fahrer, der seinen Job mit dem eigenen, von ihm selbst betankten Auto ausübt und die nötigen Voraussetzungen für seine Arbeit wie zum Beispiel eine Versicherung oder Fahrerlaubnis allesamt schon mitbringt.“ In seinem Essay verweist Simon auf den Spruch, mit dem die Lockdown-Gegnerin Sarah Mason ihren Protest zum Ausdruck brachte: „Soziale Distanzierung ist gleich Kommunismus.“ Wenn man die Abstandsregeln abschaffen würde, hätten wir jedoch genau den vermeintlichen Zustand von „Freiheit“, in dem Arbeiter ihre eigenen Produktionsmittel zur Verfügung stellen und sich dem Risiko einer Infektion aussetzen, indem sie Aufträge für ihre Firma erfüllen. Es ist paradox, dass die Corona-Ökonomie in ihren beiden Ausprägungen – dem Homeoffice im Lockdown und der Auslieferung von Waren wie Lebensmitteln oder Paketen – in ähnlicher Weise den Gesetzen des Kapitals unterliegt und eine verstärkte Ausbeutung bedeutet.

Wir sollten daher Sara Mason antworten: Ja, so ist es, und genau deshalb brauchen wir soziale Distanzierung. Noch viel dringender brauchen wir jedoch eine neue Wirtschaftsordnung, die uns nicht mehr vor die ungeheuerliche Wahl stellt, entweder Unternehmen oder Leben zu retten.

Pandemie! II

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