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Was wir nicht wissen, was wir nicht wissen wollen und was wir tun können

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In dem Film Die Marx Brothers im Krieg spielt Groucho einen Anwalt, der seinen Mandanten vor Gericht mit den folgenden Worten verteidigt: „Er mag wie ein Idiot reden und auch wie einer aussehen, aber fallen Sie nicht darauf rein. Er ist wirklich ein Idiot.“ In einer ähnlichen Weise sollten wir jenen antworten, die dem Staat grundsätzlich misstrauen und glauben, dass sich hinter dem Lockdown eine Verschwörung verbirgt, die uns unserer Grundrechte berauben will: „Der Staat verhängt offensichtlich gerade einen Lockdown, der unsere Freiheiten beschneidet, und er erwartet von uns, dass wir einander überwachen, um die Einhaltung der Regeln zu gewährleisten; darauf sollten wir aber nicht hereinfallen – wir sollten uns wirklich darum bemühen, die Lockdown-Verordnungen einzuhalten …“

Es ist bemerkenswert, dass die Forderungen nach einer Aufhebung des Lockdowns von beiden Enden des traditionellen politischen Spektrums kommen: In den USA werden sie von libertären Rechten geäußert, in Deutschland stellen sie hingegen kleine linke Gruppierungen. In beiden Fällen wird medizinisches Fachwissen als ein Instrument kritisiert, das angeblich zur Disziplinierung von Menschen eingesetzt wird, die wie hilflose Opfer behandelt werden und sich zu ihrer eigenen Sicherheit isolieren sollen. Es lässt sich unschwer erkennen, dass diese kritische Haltung in Wirklichkeit darauf beruht, von etwas nichts wissen zu wollen: Wenn wir die Gefahr ignorieren, wird es nicht so schlimm werden. Wir werden irgendwie schon durchkommen … Die US-amerikanische libertäre Rechte behauptet, man solle die Lockdown-Verordnungen lockern, damit sich Menschen in ihrem Leben wieder frei entscheiden können. Doch von welcher Freiheit ist hier eigentlich die Rede? Der ehemalige Arbeitsminister Robert Reich schrieb dazu Folgendes: „Trumps Arbeitsministerium hat beschlossen, dass beurlaubte Angestellte den Wunsch des Arbeitgebers nach Wiederaufnahme ihrer Arbeit ‚akzeptieren müssen‘ und dadurch ihren Anspruch auf Arbeitslosengeld verlieren, auch wenn die Coronapandemie weiter anhält. Es ist unmenschlich, wenn man Leute vor die Wahl stellt, sich entweder mit dem Coronavirus zu infizieren oder ihren Lebensunterhalt zu verlieren.“3 Die „freie Entscheidung“ besteht hier darin, entweder zu verhungern oder sein Leben zu riskieren. Man fühlt sich dabei an die Situation in einem Kohlebergwerk im England des 18. Jahrhunderts erinnert, in dem jeder großen Gefahren für Leib und Leben ausgesetzt war, der dort einfach nur seiner Arbeit nachging.

Es gibt jedoch noch eine andere Art von Ignoranz, die verantwortlich dafür ist, dass strenge Lockdown-Maßnahmen verhängt werden. Man macht es sich zu einfach, wenn man glaubt, die Staatsgewalt würde die Pandemie dazu nutzen, die totale Kontrolle über die Bevölkerung zu erlangen – mir kommt es zunehmend so vor, als würde hier ein abergläubischer symbolischer Akt vollzogen: gemäß einer Logik, wonach wir auf Gnade hoffen können, wenn wir ein ausreichend großes Opfer darbringen, das unser gesamtes gesellschaftliches Leben zum Stillstand bringt. Es ist immer noch verblüffend, wie wenig wir (und ich schließe hier die Wissenschaftler mit ein) anscheinend über die Verbreitungsmuster der Pandemie wissen. Von den staatlichen Behörden bekommen wir oft widersprüchliche Empfehlungen. Man schärft uns ein, dass wir uns in Isolation begeben sollen, damit wir uns nicht mit dem Virus anstecken, doch wenn die Fallzahlen zu sinken beginnen, weckt unser Handeln die Befürchtung, dass wir einer sich bereits abzeichnenden „zweiten Welle“ von Virusinfektionen noch stärker ausgeliefert sein werden. Oder hoffen wir darauf, dass vor der nächsten Welle ein Impfstoff gefunden wird? Doch wird dieser Impfstoff alle Varianten des Virus abdecken, von dem es jetzt schon einige Mutationen gibt? Momentan schwindet jede Hoffnung auf einen schnellen Ausweg (heißer Sommer, Herdenimmunität, ein Impfstoff) dahin.

Oft heißt es, dass die Pandemie uns Menschen im Westen zwingen wird, eine andere Haltung zum Tod einzunehmen und unsere eigene Sterblichkeit und die Zerbrechlichkeit unseres Daseins zu akzeptieren – plötzlich taucht ein Virus auf und verändert unser Leben so tiefgreifend, dass wir es nicht mehr wiedererkennen. Deshalb wird Menschen im fernen Osten eher zugestanden, dass sie mit der Pandemie zurechtkommen – für sie ist der Tod Teil des Lebens, des natürlichen Laufs der Dinge. Wir im Westen akzeptieren den Tod immer weniger als einen Teil des Lebens, stattdessen sehen wir in ihm etwas, das von außen hereinbricht und unendlich lange hinausgezögert werden kann, wenn man ein gesundes Leben führt, Sport treibt, auf seine Ernährung achtet und traumatische Erlebnisse vermeidet. Diesem Glauben bin ich nie aufgesessen. In gewisser Weise ist der Tod nicht Teil des Lebens, sondern etwas Unvorstellbares, von dem ich nicht möchte, dass es mir jemals passiert. Ich werde nie wirklich bereit sein zu sterben, es sei denn, der Tod würde mich von unerträglichem Leid erlösen. Deshalb starren momentan so viele von uns wie gebannt auf dieselben magischen Zahlen: die der Neuinfektionen, vollständig Genesenen und kürzlich Verstorbenen. Doch lenkt der alleinige Fokus auf diese Zahlen, so fürchterlich sie auch sind, nicht von der viel größeren Menge an Menschen ab, die an Krankheiten wie Krebs oder Herzinfarkt sterben? Jenseits des Virus pulsiert nicht nur das Leben, sondern man findet dort genauso zahlreiche Sterbende und Tote. Vermutlich wäre man besser beraten, wenn man die Sterberaten miteinander vergleichen würde: An diesem Tag sind so viele Menschen an Covid-19 gestorben und so viele einer Krebserkrankung erlegen.

Wir sollten unser Imaginäres an dieser Stelle neu justieren und uns von der Vorstellung verabschieden, dass die Entwicklung einen großen eindeutigen Höhepunkt erreichen und die Welt danach allmählich wieder zur Normalität zurückkehren wird. Die Pandemie ist auch deshalb so unerträglich, weil sich die Dinge immer weiter hinziehen, ohne dass die Katastrophe irgendwann eintreten würde – man weist uns darauf hin, dass wir ein Plateau erreicht haben, dann verbessert sich die Situation ein wenig, aber die Krise dauert weiter an. Wie Alenka Zupančič gezeigt hat, erweist sich die Vorstellung eines Endes der Welt als ebenso problematisch wie Fukuyamas Ende der Geschichte: Das Ende geht selbst nie zu Ende, stattdessen hängen wir in einem merkwürdigen Zustand fest, in dem nichts mehr vorangeht. Was wir uns alle insgeheim wünschen, woran wir die ganze Zeit denken, beschränkt sich auf diese eine Frage: Wann wird es endlich vorbei sein? Doch wird es niemals endgültig vorbei sein: Es gibt gute Gründe, die derzeitige Pandemie als ein Ereignis aufzufassen, das eine neue Epoche von ökologischen Problemen einläutet. Schon 2017 wies die BBC darauf hin, welche Auswirkungen unsere Eingriffe in die Natur mit sich bringen: „Der Klimawandel lässt den Permafrostboden auftauen, der seit Tausenden von Jahren gefroren gewesen ist. Dies wiederum bewirkt, dass alte Viren und Bakterien freigesetzt werden, die lange Zeit im Winterschlaf lagen und nun wieder zum Leben erweckt werden.“4

Die Viren sind Untote, die nur darauf warten, wieder zum Leben erweckt zu werden. Die Ironie daran ist, dass ihre „Unsterblichkeit“ an die Hoffnung auf ein ewiges Leben erinnert, die Entwicklungen in der Hirnforschung jüngst geweckt haben. Die Pandemie fällt in eine Zeit, in der sich populärwissenschaftliche Medien besonders an zwei Aspekten unseres digitalen Lebens abarbeiten. Einerseits wird viel über den so genannten „Überwachungskapitalismus“ geschrieben, einer neuen Form von Kapitalismus, in der staatliche Behörden und Privatunternehmen die absolute digitale Kontrolle über unser Leben gewonnen haben. Andererseits beherrscht das Thema des „verdrahteten Gehirns“, das heißt einer direkten Computer-Hirn-Schnittstelle die Berichterstattung in den Medien. Ist mein Gehirn auf diese Weise mit digitalen Geräten verbunden, kann ich nur mit der Kraft meiner Gedanken auf Dinge in der Außenwelt einwirken. Überdies kann eine andere Person an meinen Erlebnissen teilhaben, wenn mein Gehirn und ihres direkt miteinander verbunden sind. Denkt man das Konzept des verdrahteten Gehirns zu Ende, lässt es etwas in greifbare Nähe rücken, was Ray Kurzweil als Singularität bezeichnet hat, den gottgleichen Zustand eines gemeinsamen globalen Bewusstseins. Diese Idee mag einen noch ungeklärten (bis auf Weiteres zweifelhaften) wissenschaftlichen Status besitzen, doch würde ihre Verwirklichung zweifellos zu einer Veränderung der Eigenschaften führen, die den Menschen als denkendes/sprechendes Wesen auszeichnen. Würde eine solche Singularität eines Tages tatsächlich eintreten, könnte man von einem apokalyptischen Ereignis im ursprünglichen Wortsinn sprechen: Es würde die Enthüllung einer Wahrheit bedeuten, die in unserem gewöhnlichen menschlichen Dasein verborgen liegt, das heißt den Eintritt in eine post-humane Dimension.

Es ist bemerkenswert, dass man den weitreichenden Gebrauch von Überwachungstechnologien in vielen Teilen der Welt stillschweigend hingenommen hat: Um die Pandemie zu bekämpfen, wurden nicht nur in China, sondern auch in Italien und Spanien Drohnen eingesetzt. Die spirituelle Vision einer Singularität oder neuen Einheit von Menschlichem und Göttlichem, die Vorstellung von einer jenseits unserer körperlichen Existenz liegenden Glückseligkeit könnte sich daher genauso gut als fürchterlicher Alptraum herausstellen. Von einem kritischen Standpunkt aus lässt sich nur schwer sagen, wovon die Menschheit stärker bedroht wird: von der Zerstörung unserer Leben durch ein Virus oder davon, dass unsere Individualität in einer Singularität verloren geht. Die Pandemie erinnert uns daran, dass wir in unserer Existenz fest an einen Körper gebunden sind und dies mit allen möglichen Gefahren einhergeht.

Ist unsere Situation also hoffnungslos verloren? Auf keinen Fall. Vor uns liegen enorme, nahezu unvorstellbare Schwierigkeiten. Wir müssen damit rechnen, dass über eine Milliarde Menschen ihren Job verlieren werden. Wir werden unser Leben von Grund auf neu gestalten müssen. Klar ist, dass wir in einem völligen Lockdown von unseren Nahrungsmittelreserven und weiteren Vorräten leben müssen. Deshalb stehen wir derzeit vor der schwierigen Aufgabe, den Lockdown hinter uns zu lassen und zu einem neuen Leben unter Pandemiebedingungen zu finden. Dabei stelle man sich nur vor, wie sich die Grenze zwischen Realität und Fiktion verschieben wird. Bekannte Alltagsszenen in Filmen und Fernsehserien, in denen Menschen unbekümmert die Straße entlangschlendern, Hände schütteln und einander umarmen, werden zu nostalgischen Zeugnissen einer weit zurückliegenden Vergangenheit, während uns das echte Leben wie eine Abwandlung von Samuel Becketts spätem Drama Spiel vorkommen wird, in dem aus drei gleichen grauen Urnen, die auf der Bühne stehen, jeweils ein Kopf hervorscheint, dessen Hals von der mundförmigen Öffnung der Urne fest umschlossen wird …

Wenn wir jedoch eine naive Sichtweise einnehmen (was gerade zu den schwierigsten Aufgaben zählt), können wir uns vergewissern, dass unsere globale Gemeinschaft genug Möglichkeiten hat, auf unser Überleben hinzuwirken und einen bescheideneren Lebensstil hervorzubringen, indem durch globale Zusammenarbeit die Nahrungsmittelknappheit an einem Ort behoben wird oder ein weltweites Gesundheitssystem geschaffen wird, das gegen den nächsten Angriff eines Virus besser gewappnet ist. Werden wir dazu in der Lage sein? Oder stehen wir an der Schwelle eines neuen barbarischen Zeitalters, in dem sich unsere ganze Aufmerksamkeit auf die Gesundheitskrise richtet und sich dadurch Konflikte wie der abermals ausgebrochene Kalte Krieg zwischen den USA und China oder die heißen Kriege in Syrien und Afghanistan weiterhin der Weltöffentlichkeit entziehen? Diese Konflikte verhalten sich ähnlich wie ein Virus: Sie ziehen sich unendlich hin. (Man bemerke, wie Macrons Forderung nach einem weltweiten Waffenstillstand während der Pandemie schlicht ignoriert wurde.) Die Entscheidung darüber, welchen Weg wir einschlagen, betrifft weder die Wissenschaften noch die Medizin, sondern ist durch und durch politisch.

Pandemie! II

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