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Warum es nicht radikal genug ist, Denkmäler zu stürzen

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In den Medien wurde viel darüber berichtet, wie schockiert deutsche Sicherheitsbehörden über Krawalle von „beispiellosem Ausmaß“ waren, die am 21. Juni im Zentrum Stuttgarts ausgebrochen waren: Vier- bis fünfhundert feiernde Jugendliche und junge Erwachsene fingen nachts an zu randalieren, schlugen Schaufenster ein, plünderten Geschäfte und attackierten Polizeibeamte. Die Polizei (die viereinhalb Stunden brauchte, um die Situation unter Kontrolle zu bekommen) schloss politische Motive als Auslöser für diese „bürgerkriegsähnlichen Zustände“ aus und beschrieb die Gewalttäter als Menschen aus der „Party- und Feierszene.“13 Dass Klubs und Bars wegen der Coronapandemie geschlossen bleiben mussten, stellte einen Anlass für öffentliche Ausschreitungen dar. Solche Vorfälle beschränken sich nicht auf Deutschland. Am 25. Juni drängten Tausende von Menschen an Englands Strände, ohne sich um die Abstandsregeln zu kümmern. Die Region wurde laut einer Nachrichtenseite „von Strandbesuchern überrannt, die größtenteils mit dem Auto anreisten, was zahlreiche Staus verursachte. Neben zahlreichen Fällen von Alkoholmissbrauch und Schlägereien wurde auch gemeldet, dass Mitarbeiter der Müllabfuhr beschimpft und eingeschüchtert wurden, als sie auf der Strandpromenade ganze Berge von Abfall entfernen wollten.14 Man sieht schnell, dass solche Ausbrüche von Gewalt eine Reaktion auf die Bewegungseinschränkungen sind, welche die soziale Distanzierung und Quarantäne unweigerlich mit sich bringen – aus guten Gründen muss man damit rechnen, dass es auf der ganzen Welt zu ähnlichen Vorfällen wie diesen kommen wird, und man sollte nicht davor zurückschrecken, die Vermutung zu äußern, dass das plötzliche weltweite Aufbegehren gegen Rassismus einer ähnlichen Logik gehorcht (auch wenn es keine Ausbrüche von sinnloser Gewalt sind, sondern sich darin eine emanzipatorische Haltung ausdrückt): Tausende schlossen sich den anti-rassistischen Protesten von einem Tag auf den anderen an und waren gewissermaßen erleichtert, dass sie ihre Energie wieder auf etwas verwenden konnten, das mit einem dummen Virus nichts zu tun hatte, sondern „nur“ mit dem gesellschaftlichen Kampf gegen einen klaren Gegner …

Selbstverständlich sprechen wir hier von völlig unterschiedlichen Formen von Gewalt. An den Stränden von Bournemouth wollten die Menschen an einem Sommertag einfach nur ihren gewohnten Freizeitaktivitäten nachgehen und wurden gegenüber jenen gewalttätig, die sie davon abzubringen versuchten. In Stuttgart wurde die Euphorie erst durch Plünderungen und Vandalismus, das heißt durch Gewalt erzeugt – es handelte sich um eine Gewaltorgie schlimmsten Ausmaßes, eine Explosion von blinder Wut ohne irgendein erkennbares emanzipatorisches Potenzial (auch wenn erwartungsgemäß manche Linke darin einen Protest gegen den Konsumkapitalismus und die Macht der Polizei sehen wollten). Die (weitgehend gewaltlosen) Proteste gegen Rassismus ignorierten die Anordnungen und Auflagen von staatlichen Behörden, weil sie für ein ehrenwertes emanzipatorisches Ziel kämpfen wollten. (In fortschrittlichen westlichen Gesellschaften sind diese Arten von Gewalt am verbreitetsten – wir gehen hier nicht auf die besonders massiven Formen von Gewalt ein, die ebenfalls existieren und in Dritte-Welt-Ländern wie Jemen, Afghanistan und Somalia mit Sicherheit explosionsartig zunehmen werden. Der Guardian schrieb dazu am 27. Juni: „Wenn man zulässt, dass sich die Pandemie in Ländern ungehindert ausbreitet, die ohnehin schon unter zunehmender Gewalt, steigender Armut und einer schrecklichen Hungersnot leiden, wird es im Sommer zu den schlimmsten Katastrophen kommen, die die Welt jemals gesehen hat.“15)

Trotz ihrer unleugbaren Unterschiede gleichen sich die drei Arten von Gewalt in einem wesentlichen Punkt: Keine von ihnen ist Ausdruck eines auch nur ansatzweise konsistenten gesellschaftspolitischen Programms. Man würde vermuten, dass die Proteste gegen Rassismus diesen Anspruch erfüllen würden, doch sind sie weit davon entfernt, da sie die Sehnsucht der politischen Korrektheit antreibt, alle Spuren von Rassismus und Sexismus auszulöschen – eine Sehnsucht, die nur allzu schnell in ihr Gegenteil umschlägt: eine neokonservative Gedankenpolizei. Am 16. Juni erließ das rumänische Parlament ein Gesetz, das allen Bildungseinrichtungen des Landes untersagte, „Theorien und Ansichten über Geschlechtsidentität zu verbreiten, die zwischen einem sozial konstruierten und einem biologischen Geschlecht unterscheiden.“16 Selbst Vlad Alexandrescu, ein Senator der rechten Mitte und Universitätsprofessor, stellte fest, dass Rumänien mit diesem Gesetz „ähnliche Auffassungen vertritt, wie sie schon in Ungarn und Polen verbreitet werden, und sich dadurch zu einem Regime entwickelt, das sich einer Gedankenpolizei bedient.“17 Selbstverständlich gehört es seit jeher zum Programm der populistischen neuen Rechten, sich offen gegen Gender-Theorien auszusprechen, doch erhielten solche Denkverbote durch die Pandemie neuen Auftrieb: Es ist typisch für den neuen rechten Populismus, dass er den Ausbruch der Pandemie auf unsere globale Gemeinschaft und den darin vorherrschenden Multikulturalismus und keine binären Gegensätze zulassenden Pluralismus zurückführt – die geeignete Gegenmaßnahme besteht folglich darin, dass unsere Gesellschaften wieder nationalistischer werden und sich auf ihre jeweils eigene Kultur mit ihren unerschütterlichen traditionellen Werten zurückbesinnen müssen.

Wir belassen es bei dem naheliegenden Einwand, dass die Pandemie auch in fundamentalistischen Ländern wie Saudi-Arabien und Katar wütet, und gehen stattdessen näher auf die Strategien der „Gedankenpolizei“ ein, für die immer noch der berüchtigte Index Librorum Prohibitorum (Verzeichnis der verbotenen Bücher) das unübertroffene Beispiel darstellt, eine von der römischen Inquisition erstelle Liste häretischer oder unmoralischer Werke, die Katholiken ohne ausdrückliche Erlaubnis nicht lesen durften. Dieses Verzeichnis erschien erstmals in der Frühen Neuzeit und wurde bis 1966 laufend aktualisiert, sodass früher oder später jeder von Rang und Namen in der europäischen Kultur darin auftauchte – in der Philosophie sind es alle bedeutenden Denker von Descartes und Kant bis zu Sartre und de Beauvoir. Wenn man sich die Bücher und Autoren wegdenken würde, die irgendwann einmal auf dieser Liste standen, wäre die europäische Kultur ein einziges Ödland, wie mein Freund Mladen Dolar vor ein paar Jahren bemerkte. Ich erwähne dies deshalb, weil ich befürchte, dass die jüngsten Versuche, in unseren Kultur- und Bildungseinrichtungen alle Spuren von Rassismus und Sexismus zu beseitigen, in die gleiche Falle wie der Index der katholischen Kirche tappen könnten: Was bleibt uns, wenn wir uns aller Autoren entledigen, deren Werke Anzeichen von Rassismus und Anti-Feminismus aufweisen? Alle großen Philosophen und Schriftsteller würden buchstäblich verschwinden.

Nehmen wir beispielsweise Descartes, der auch einmal auf dem römischen Index stand und der weithin als philosophischer Begründer der westlichen kulturellen Hegemonie gilt, die inhärent rassistisch und sexistisch ist. Wir dürfen nicht vergessen, dass Descartes’ methodischer Zweifel in einer Erfahrung wurzelt, die sich mit der „multikulturellen“ Perspektive deckt, dass die eigene Tradition den „exzentrisch“ wirkenden, anderen Traditionen nichts voraushat: Wie Descartes in seinem Discours de la Méthode schreibt, stellte er im Laufe seiner Reisen fest, dass Menschen anderer Herkunft, „die den unseren ganz entgegengesetzte Ansichten haben, deswegen weder Barbaren noch Wilde sind, sondern viele von ihnen ebensosehr oder mehr als wir die Vernunft gebrauchen.“18 Aus diesem Grund sind für einen cartesianischen Philosophen ethnische Zugehörigkeit und nationale Identität schlicht und ergreifend keine wahrheitsfähigen Kategorien. Und eben deshalb war Descartes bei Frauen auch von Anfang an beliebt: Wie eine seiner frühen Leserinnen bemerkte, hat das Cogito, also das Subjekt des reinen Denkens kein Geschlecht. Wenn Geschlechtsidentität heutzutage als etwas verstanden wird, das gesellschaftlich konstruiert und nicht biologisch festgelegt ist, dann ist dies nur möglich vor dem Hintergrund der cartesianischen Tradition – den modernen Feminismus und Anti-Rassismus würde es ohne Descartes’ Denken nicht geben. Daher sollten wir Descartes – trotz seiner gelegentlichen Rückfälle in rassistische und sexistische Vorurteile – weiterhin Anerkennung zollen und genauso mit all den anderen großen Namen unserer Geistesgeschichte verfahren: angefangen mit Platon und Epikur, über Kant und Hegel, bis hin zu Marx und Kierkegaard. Der moderne Feminismus und Anti-Rassismus gingen aus dieser langen Tradition emanzipatorischen Denkens hervor; man wäre völlig verrückt, wenn man diese ehrwürdige Tradition obszönen Populisten und Konservativen überlassen würde.

Dieses Argument lässt sich auch auf zahlreiche andere kontroverse politische Figuren anwenden. Ja, es ist richtig, dass Jefferson Sklavenbesitzer und gegen die Haitianische Revolution war, aber er legte zugleich das politische und ideologische Fundament für die spätere Befreiungsbewegung der Schwarzen. Ebenfalls korrekt ist die allgemeinere Beobachtung, dass der Westen Europas durch seine Invasion der beiden amerikanischen Kontinente den größten Völkermord in der Geschichte der Menschheit begangen haben dürfte – aber die europäische Geistesgeschichte schuf auch die politischen und ideologischen Voraussetzungen, auf deren Basis wir das volle Ausmaß dieser Gräueltaten heute erkennen können. Und wir sprechen hier nicht nur von Europa: Ja, der junge Gandhi kämpfte in Südafrika für die Gleichberechtigung der Inder und ignorierte dabei die Not der Schwarzen, aber er verhalf dennoch der größten anti-kolonialen Bewegung aller Zeiten zu einem durchschlagenden Erfolg. Wir sollten uns daher weiterhin äußerst kritisch mit unserer eigenen Vergangenheit (und besonders mit den Anteilen, die in unsere Gegenwart hineinwirken) auseinandersetzen, dabei aber keinesfalls in Selbsthass verfallen – Respekt vor anderen, der auf Selbsthass gründet, ist immer und grundsätzlich falsch. Es ist ein Paradox, dass in unseren Gesellschaften vor allem jene Weißen gegen Rassismus protestieren, die der oberen Mittelschicht angehören und sich scheinheilig an ihren Schuldgefühlen weiden. Womöglich sollten diese Demonstranten noch einmal bei Frantz Fanon in die Lehre gehen, dem man mangelnde Radikalität gewiss nicht vorwerfen kann:

Jedes Mal, wenn ein Mensch der Würde des Geistes zum Sieg verholfen hat, jedes Mal, wen ein Mensch nein gesagt hat zu einem Versuch, seinen Nächsten zu unterjochen, habe ich mich mit seiner Tat solidarisch gefühlt. Auf keinen Fall darf ich aus der Vergangenheit der Völker meiner Hautfarbe meine ursprüngliche Berufung herleiten. […] Meine schwarze Haut besitzt keine besonderen Werte. […] Ich, ein Farbiger, ich habe nicht das Recht, mir zu wünschen, dass sich beim Weißen ein Schuldgefühl ob der Vergangenheit meiner Rasse herauskristallisiert. Ich, ein Farbiger, ich habe nicht das Recht, auf die Mittel zu sinnen, die es mir erlauben könnten, den Stolz des einstigen Herrn mit Füßen zu treten. Ich habe weder das Recht noch die Pflicht, für meine domestizierten Vorfahren Entschädigung zu verlangen. Es gibt keine schwarze Mission; es gibt keine weiße Bürde. […] Werde ich den weißen Mann von heute verantwortlich machen für die Sklavenschiffe des 17. Jahrhunderts? Werde ich mit allen Mitteln versuchen, in ihren Seelen die Schuld keimen zu lassen? […] Ich bin nicht Sklave der Versklavung, die meine Väter entmenschlicht hat.19

Wir lehnen die Vorstellung einer Kollektivschuld weißer Männer ab, doch sollten wir dieser Gruppe gleichzeitig signalisieren, dass wir es nicht im Geringsten dulden, wenn sie an einem Rassismus festhalten, der sich als politisch korrekt maskiert. Dafür lieferte das berüchtigte Video über Amy Cooper im Central Park das Paradebeispiel. Russell Sbriglia kommentierte den Vorfall wie folgt: „In dem sonderbarsten und verstörendsten Moment des ganzen Videos sagt sie ausdrücklich – sowohl zu dem schwarzen Mann, bevor sie den Notruf wählt, als auch zu dem Polizeibeamten, der ihren Anruf entgegennimmt –, dass ‚ein afroamerikanischer Mann‘ ihr Leben bedrohe. Es scheint fast so, als sei sie der festen Überzeugung, dass an ihrem Verhalten allein deshalb nichts rassistisch sein könne, weil sie den angemessenen, politisch korrekten Jargon (‚Afroamerikaner‘ statt ‚Schwarzer‘) verinnerlicht hat.“20

Statt unsere Schuld auf perverse Weise zu genießen (und damit die wahren Opfer zu bevormunden), sollten wir uns um aktive Solidarität bemühen. Denn die Schuldgefühle und Opferhaltung lähmen uns. Nur wenn wir uns zusammenschließen und uns selbst und andere wie verantwortungsvolle Erwachsene behandeln, können wir Rassismus und Sexismus besiegen.

Pandemie! II

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