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Die Heulhierarchie Des einen normal ist des anderen pathetisch
ОглавлениеEs gibt Worte in der englischen Sprache, die sich wunderbar schnauben lassen. Mit Arroganz, Ekel und Widerwillen. Man möchte sie regelrecht ausspucken, so viel Verachtung haftet jeder Silbe an. Pathetic ist so ein Wort. Wem es entgegengeschleudert wird, soll sich nicht nur der Erbärmlichkeit seiner Handlung oder gar seiner selbst gewahr sein, er soll sich ihrer auch schämen. Das deutsche Adjektiv pathetisch ist da nicht ganz so gnadenlos. Hier schwingt noch ein Hauch der Schillerschen Romantik mit, in der das Pathos seine Hochzeit erlebte und als erhaben und hehr galt. Doch eben nur ein Hauch. Wer heute im deutschsprachigen Raum von Pathos spricht, meint zumeist Schwulst, Kitsch, Übertreibung. Vom falschen Pathos ist dann die Rede, vom hohlen, vom verlogenen, vom manipulativen.
Was Pathos konkret bedeutet, damit schlagen sich Literaturwissenschaft, Philologie und Philosophie seit Jahrhunderten herum. Einen gemeinsamen Nenner für seine Definition gibt es nicht, höchstens eine etymologische Annäherung, wenn seine griechischen Wurzeln frei gelegt werden. Demnach bezeichnet Pathos ein Ereignis, ein Leiden, aber auch eine Leidenschaft. Genau genommen ist es nicht nur ein Ereignis, sondern gleich zwei Ereignisse, denn sowohl das plötzlich eintreffende Widerfahrnis als auch die provozierte Gefühlsreaktion auf dieses „Reizereignis“ fallen laut der Literaturwissenschafterin Cornelia Zumbusch in die Bedeutung des Wortes.2
„Am Beginn steht das Pathos der Welt, und wenn wir darauf antworten, indem wir erstaunen, erschrecken, fasziniert oder angeekelt sind, geht dieses Antworten mit dem Pathos einher“, erklärt Jan Juhani Steinmann, Lehrbeauftragter für Philosophie an der Universität Wien, im Gespräch. „Keiner kann über das Pathos verfügen. Es trifft uns unsere Erfahrung, wie uns die Welt eben trifft.“
In der Antike spielte das Pathos gleich in mehreren Disziplinen eine tragende Rolle. Aristoteles schreibt ihm in seiner Poetik eine reinigende Kraft zu. So ist das Pathos in der antiken Tragödie die Voraussetzung für die Katharsis. Das Leiden des Helden soll das Publikum faszinieren, unterhalten und dermaßen bewegen, dass es sich selbst zu reflektieren beginnt. Wenn es dann mitgerissen, erschüttert und überwältigt ist von Eleos, Schauer, und Phoebus, Furcht, wird es gereinigt sein von all seinen Affekten.
In der Rhetorik definiert Aristoteles das Pathos als eine der drei Säulen der Persuasion, der Überzeugung: Ethos, Logos (Pragma) und Pathos. Während sich Ethos auf die Glaubwürdigkeit und den Charakter des Redners bezieht, Logos (Pragma) auf den Inhalt und die Argumente einer Rede, soll das Pathos Emotionen beim Publikum hervorrufen.
Dabei untersteht das Pathos in der Rhetorik immer dem Argument, dem Logos, und ist kein Selbstläufer. Der emotionale „Appell zum reinen Mitfühlen“ darf nicht der „Reflexion zuvorkommen“3. Damit wurde schon in der Antike der größte Verdacht, der dem Einsatz von Pathos bis heute anhaftet, artikuliert: die Manipulation. Das Gefühl kennt nun einmal kein Pro und Kontra. Losgelöst von jeder Logik und Vernunft eignet sich das Pathos hervorragend als Mittel der Demagogie, um ein Publikum dermaßen zu erschüttern und zu überwältigen, dass nicht länger von mündigen Bürgern die Rede sein kann, sondern nur mehr von emotional aufgewühlten Marionetten.4 Dass die Seele gerührt ist, passiert schnell einmal, während „das abwägende Urteil der Vernunft“5 Zeit braucht. In der Politik ist das verdächtige Pathos bis heute präsent, in manchen Ländern stärker als in anderen. Einige würden so weit gehen zu behaupten, dass sein Einsatz in der politischen Rhetorik einhergeht mit dem Demokratieverständnis des jeweiligen Redners. Wer erschüttern will, kennt weder Ambivalenz noch Ironie. Daher: je pathetischer, umso absoluter. „Diktatur ist Pathos bis in den Alltag hinein – in der Demokratie bildet das Pathos die Ausnahme“6, schreibt der deutsche Soziologe Wolf Lepenies.
Nicht umsonst reagieren gewisse Gesellschaften mit großem Unbehagen auf Pathos. Deutschland wurde nach der Nazizeit eine Pathosphobie in öffentlichen Reden attestiert. Das offizielle Nachkriegsdeutschland wollte sich auch im Sprechen vom Vorgängerregime abgrenzen. Einen sachlichen, gedämpften, fast schon privaten Sprechstil stellte der Sprachwissenschafter Johannes Schwitalla bei Deutschlands Politikern nach 1945 fest. Es war ein klarer Cut zu den manischen Brüllreden eines Hitlers und Goebbels.7
Bis heute sind die Deutschen empfindlich, was die Lautstärke angeht, sobald öffentlich gesprochen wird. „Beim gemeinsamen Crescendo von Volk und Führungsgestalt wird Deutschland sensibel. Faschismus erkennt es an der Tonlage“8, kommentierte Die Zeit die Reaktionen auf einen Auftritt von Herbert Grönemeyer im Herbst 2019. Der Sänger Grönemeyer richtete damals folgenden Appell an sein Publikum in der Wiener Stadthalle: „Es muss klar sein, auch wenn Politiker schwächeln, und das ist in Österreich nicht anders als in Deutschland, dann liegt es an uns, zu diktieren, wie ’ne Gesellschaft auszusehen hat. Und wer versucht, so ’ne Situation der Unsicherheit zu nutzen für rechtes Geschwafel, für Ausgrenzung, Rassismus und Hetze, der ist fehl am Platze (...).“
Gesagt hat der Popstar das nicht. Er hat es gebrüllt, in klassischer Grönemeyer-Manier. Vielen war das suspekt. Ein Mann, der im Halbdunkel einer Halle Tausende zur Räson rufen will. „Der Tonfall, mit dem Grönemeyer sein Publikum politisch anheizt, macht mir ein wenig Angst. Ich sag‘s ungern, aber er klingt wie ein Redner vor 1945“9, kommentierte der Dramaturg Bernd Stegemann auf Twitter. Und ausgerechnet die AfD-Politikerin Beatrix von Storch verglich den Aufruf mit Nazi-Propaganda und bezeichnete Grönemeyers Auftritt als „furchterregendste, übelste, totalitärste Hassrede“10.
Doch was der eine als Gebrüll wahrnimmt, empfindet die andere als angemessene Lautstärke für das vorgebrachte Argument. Für die einen mögen die Reden Martin Luther Kings inspirierend sein. Für die anderen wirken sie rührselig. Für die einen ist die Aussage des österreichischen Bundeskanzlers Sebastian Kurz, nachdem ihm das Parlament das Misstrauen ausgesprochen hat – „Das Parlament hat abgestimmt, entscheiden wird das Volk“ –, ein erhabener Moment des Widerstands eines geschassten Staatsmannes, für die anderen ein manipulativer Versuch, der mit antidemokratischer 20er-Jahre-Rhetorik nach Emotionen beim Publikum heischt.
Pathos ist relativ. „Was als pathetisch erlebt und bewertet wird, hängt wesentlich von der gegebenen Sprechsituation und den Erwartungen der Zuhörer ab“11, schreibt die Salzburger Linguistin Beatrix Schönherr. Ob ein Sprechstil etwa als pathetisch wahrgenommen wird, hänge nicht nur von der Lautstärke ab oder der Akzentuierung der Worte, der Dehnung der Vokale, den Pausen zwischen den Sätzen, sondern auch von der Emotionalität in der Stimme, der Mimik, den Gesten. Und vom Kontext. Pathos beansprucht für seine Wirkung viele Ebenen. Dazu gehört auch, wer spricht und von wem es gehört wird. Und nicht zuletzt die Bühne, auf der es präsentiert wird.