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Eine Frage der Lautstärke

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Sesilia Al-Mousli braucht starke Nerven für ihren Job. Acht Stunden am Tag, fünf Tage die Woche tut sie nichts anderes, als das Pathos anderer aufzuspüren und zu deuten. Sechs Monate braucht sie, um es richtig einzuordnen. Stammt das Pathos aus den Tiefen eines verletzten Ichs? Oder ist es nur ein theatralisches Brimborium als Strafe für ein vernachlässigtes Ego?

„Erst nach einem halben Jahr weiß ich, woran ich bin“, sagt sie. Pathos ist nichts für Amateure. Da müssen schon Profis ran. Und Sesilia Al-Mousli ist ein Profi. Die 27-Jährige ist Kindergartenpädagogin. Seit fünf Jahren kümmert sie sich um 21 Mädchen und Buben in einem Kindergarten in Wien, Simmering. Zwischen einem und sechs Jahren sind die Kinder alt.

Der Kindergarten ist für viele der erste Kontakt mit einer Gesellschaft, die ihnen einiges abverlangt. Zum ersten Mal müssen die Kinder funktionieren. Sie müssen Regeln befolgen, die nicht auf ihre Befindlichkeiten abgestimmt sind, sondern auf das vermeintliche Wohl vieler – und die Funktionstüchtigkeit eines Betriebes. Ein harter Einstieg in die große Welt.

Am Anfang wird viel geweint. „Am Beginn gehe ich auf jede Emotion ein, die ich sehe“, sagt Al-Mousli. Besser einmal zu viel nachfragen als zu wenig. Bis sie ein Kind kennengelernt hat, will sie genau wissen, wie schlimm das Aua tatsächlich ist und wie schnell es sich wieder vergessen lässt, wenn sie die pinke glitzernde Knetmasse in unmittelbare Reichweite hält.

In dieser Zeit stellt Al-Mousli auch fest, inwieweit die fest zusammengedrückten Augen Ausdruck eines kleinen persönlichen Dramas sind oder nur als Mittel zum Zweck eingesetzt werden.

Es gibt die einen, die sich ganz bewusst mit hängenden Schultern in die Mitte des Raumes stellen, den Mund verziehen und erst dann zu weinen beginnen, sobald sie den Augenkontakt mit ihr und ihren Kolleginnen hergestellt haben, um die Pädagoginnen dann zu nötigen, für sie Partei zu ergreifen, weil ihnen ein anderes Kind das Spielzeug weggenommen hat. So kennen sie es von zu Hause, wenn sie sich gegenüber ihren Geschwistern behaupten müssen und nur mit Tränen und Geschrei und der damit einhergehenden elterlichen Intervention zu ihrem Recht gelangen.

Und dann gibt es die anderen, die in regelmäßigen Abständen mit voller Wucht gegen Waschbecken und Tischkanten knallen, wieder aufstehen und weiterrennen, als wäre nichts gewesen, weil ihnen zu Hause auch keiner bei jedem Hinfallen die unsichtbaren Flecken heil pustet.

„Die Kinder kriegen viel von zu Hause mit, was sie dann bei uns schnell ablegen“, sagt Al-Mousli. „Ablegen müssen“, schickt sie hinterher. Bei 21 Kindern und zwei Erwachsenen sind die Rahmenbedingungen einfach andere, da kann nicht jedes Pathos gehegt und gepflegt werden. Im ersten Corona-Lockdown, als die Kindergärten geschlossen hatten, ist Al-Mousli aufgefallen, wie viele ihrer Schützlinge wieder in alte Muster zurückgefallen sind. Plötzlich hatten sie wieder Tränen in den Augen, wenn Dinge nicht so liefen, wie sie es sich vorstellten.

In der Eingewöhnungsphase, dem ersten Monat im Kindergarten, versucht Al-Mousli auf jedes Kind so stark wie nur möglich einzugehen, um jede Emotion richtig zu deuten. Doch bei mehreren Kindern gleichzeitig kommt auch sie an ihre Grenzen. Wen nimmt sie als Erstes in den Arm? Auf wessen Bedürfnis reagiert sie am schnellsten? Wessen Pathos lässt sie auf sich wirken?

„Je weniger ein Kind kann und je hilfloser es ist, desto eher bekommt es meine Aufmerksamkeit“, erklärt sie. Hat sie einen brüllenden Einjährigen, wird sie den eher in den Arm nehmen und wiegen als das fünfjährige Mädchen trösten, das sprechen kann und im besten Fall Anschluss an die Gruppe der älteren Kinder findet. „Mir tut das dann wirklich leid und ich wünschte, dass ich die Kapazität hätte, diesem älteren Kind die gleiche Aufmerksamkeit zu schenken wie den kleinen. Aber wenn die anderen dreimal so laut schreien und komplett die Nerven schmeißen, geht es nun einmal nicht“, sagt Al-Mousli.

Aber woran bemisst sie das Ausmaß des individuellen Leides? Woran macht sie fest, dass Paul gerade die Nerven wegschmeißt und Emre seinen stillen Nervenzusammenbruch in der Ecke erlebt?

Sesilia Al-Mousli verzieht den Mund. Sie lächelt fast verlegen. Die Antwort scheint sie selbst zu stören: „Es hängt schon davon ab, wie laut einer schreit.“

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