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Von hysterischen Frauen und stoischen Männern
ОглавлениеWer brüllt, wird gehört. Wer lauter brüllt, umso mehr. Das sind die banalen Regeln der Aufmerksamkeitsökonomie. Doch ist die Lautstärke nur ein Faktor. Wer konkret brüllt, ein anderer. Anna oder Paul? Paul oder Emre? Wessen Gebrüll wird am Ende ernst genommen? Gibt es auch hier eine Hierarchie?
Die Wissenschaft sagt ja.
Forscher der Yale und Georgia City University haben in einer Studie festgestellt, dass Erwachsene die Schmerzen von Kindern unterschiedlich bewerten. Verletzt sich ein Mädchen, hält sich die Empathie der Außenstehenden in Grenzen; tut es ein Junge, wird derselbe Schmerz plötzlich ernst genommen. In der Studie wurde Testpersonen ein Videoclip gezeigt, in dem einem Vorschulkind in den Finger gepiekst wird. Das Kind trägt ein rotes T-Shirt, kurze Sportshorts und hat die Haare tief ins Gesicht hängen. Es ist nicht zu erkennen, ob es sich dabei um ein Mädchen oder einen Jungen handelt. Die Studienautoren haben die Befragten, vorwiegend Frauen, in zwei Gruppen unterteilt. Einer Gruppe wurde gesagt, dass das Kind Samuel heißt, der anderen, sein Name wäre Samantha. „Samuels“ Schmerz wurde auf einer Skala mit 50,42 als schlimm bewertet, „Samanthas“ hingegen nur mit 45,9.12
Zu einem ähnlichen Ergebnis kamen auch Wissenschafter der University of Sussex, als sie Erwachsenen die Schreie von Säuglingen vorgespielt haben. Wenn die Befragten – hier Männer – erfuhren, dass es sich bei den schreienden Babys um Buben handelt, hatten sie den Eindruck, die Babys würden ein größeres Martyrium erleben, als wenn ihnen gesagt wurde, dass es Mädchen seien.13
Die Wissenschaft erklärt die Ergebnisse mit den antiquierten Gendervorstellungen unserer Gesellschaft. So besteht nach wie vor die Annahme, dass Buben so sozialisiert werden, dass sie ihr Leid stoisch ertragen, gar unterdrücken, während Mädchen ihre Schmerzen nicht nur ausdrücken dürfen, sondern sie sogar als eine Kommunikationsform nutzen sollen, um andere um Hilfe zu bitten. Daher geht man davon aus, dass Jungen an „echten“ Schmerzen leiden, wenn es dann einmal so weit ist, dass sie weinen. Deswegen seien sie besonders ernst zu nehmen. Weinende Mädchen hingegen seien „nur“ emotional und ihre Schmerzen daher „unecht“. Sie stellen mit ihren Tränen eine Manipulationstheatralik zur Schau, daher dürfen sie dementsprechend ignoriert werden.14
Das heulende Mädchen, das nach Aufmerksamkeit heischt, dem in Wirklichkeit nichts fehlt, das man ruhig links liegen lassen kann – dieses Mädchen hat eine lange Geschichte.
Das Mädchen ist besser bekannt als die „hysterische Frau“.
Schon im alten Ägypten taucht sie auf. Damals erklärte man sich ihre Exzentrik mit sexueller Abstinenz. Eine hungrige Gebärmutter würde unbefriedigte Frauen in den Wahnsinn treiben.15 Auch in der Antike wurde der mentale Zustand einer Frau in ihrem Uterus lokalisiert. So sei hystera – das altgriechische Wort für Gebärmutter – laut Platon „ein Tier, das glühend nach Kindern verlangt. Bleibt dasselbe nach der Pubertät lange unfruchtbar, so erzürnt es sich, durchzieht den ganzen Körper, verstopft die Luftwege, hemmt die Atmung und drängt auf diese Weise den Körper in die größten Gefahren und erzeugt allerlei Krankheiten“16 wie etwa egozentrisches, labiles und ekstatisches Verhalten. Bis ins 17. Jahrhundert hielt sich die absurde Vorstellung von der hysterischen Frau, die besessen sei von ihrer wandernden Gebärmutter, einem nach Sperma lechzenden Tier, das sich aus lauter Hunger gar in ihrem Gehirn verbeißen würde.17
Den Höhepunkt erlebte die hysterische Frau im 19. Jahrhundert, als Tausende Frauen mit Anfällen, Lähmungen und Halluzinationen in Krankenhäuser und Nervenheilanstalten eingeliefert wurden. Sie stellten die behandelnden Ärzte vor Rätsel. Die Männer konnten keine organischen Ursachen für die Zustände der Frauen feststellen. Mit allerlei Praktiken wurde experimentiert, mitunter auch mit Genitalverstümmelungen. So behauptete etwa im Jahr 1882 Nikolaus Friedreich, Ordinarius für Pathologie in Heidelberg, die Hysterie durch die Entfernung der Klitoris heilen zu können. Bis ins 20. Jahrhundert hielt die Medizin im Westen an der Klitoridektomie fest. Erst mit dem zunehmenden Erfolg der Psychoanalyse sah man davon ab.
Eine nicht unerhebliche Rolle spielte in diesem Zusammenhang auch der Kolonialismus, wie der Amerikanist Norbert Finzsch recherchierte. Die „‚Entdeckung‘ der Klitoridektomie unter den kolonialisierten Völkern vor allem Afrikas“ habe dazu beigetragen, von der plötzlich als barbarisch wahrgenommenen Praxis Abstand zu nehmen. Man wollte so die Überlegenheit der „zivilisierten weißen Rasse“ gegenüber den Kolonialisierten untermauern.18