Читать книгу Die Jäger - Solveig Kern - Страница 5
Ferens Sohn
ОглавлениеKayla hatte Segur Ferens Nachricht überbracht. Sie bat ihn in Ferens Namen um Vergebung und drängte ihn, Feren im Gildehaus aufzusuchen. Segur ließ nicht durchblicken, wie nahe er Feren stand und wie sehr der Streit ihn belastete. Er sagte nur: „Sobald meine Pflichten es zulassen, werde ich nach ihm sehen.“
Das tat er dann auch.
Sie gingen hinaus ins Freie und suchten sich einen ruhigen, sonnenbeschienenen Platz an der Stallwand. Feren berichtete über seine Fortschritte. Seine Wunden waren abgetrocknet und das gesplitterte Schlüsselbein tadellos verheilt. Den Schwertarm konnte er allerdings immer noch nicht heben und seine Finger waren taub. Die Lagerstatt verließ er jetzt immer öfter. Im Freien war er heute zum ersten Mal. Alles in allem erweckte Feren einen optimistischen Eindruck.
Segur erzählte vom Krönungsfest und von der feierlichen Lehensvergabe. Nôrden hatte für Tolego den Schlüssel von Burg Amrun in Empfang genommen und war kurz darauf abgereist. Leor wurde Fürst von Dares und Passar. Sein Schwager Bertram erhielt die reiche Provinz Neylar im Norden der Hauptstadt. Damit herrschte Bertram als erster Almane über eine Kernland-Provinz mit gemischt mandrilanisch-almanischer Bevölkerung. Segur verschwieg Feren, dass Fürst Leor mit Mauros Einverständnis Hanok zum Stadtvogt von Passar bestellt hatte. Eine weitere Überraschung hatte es gegeben: Fürst Val d’Ossar, der nie Forderungen an Mauro gestellt hatte, bekam die ehemalige Alicando-Burg Sevas. Damit waren die alteingesessenen Clans hoch zufrieden.
In Anschluss an die Lehensvergabe war die Verleihung der Herzogswürde an Alagos von Aglar und Segurs Beförderung zum Togwed der königlichen Garde erfolgt. Segur erzählte ausführlich von seiner neuen Aufgabe.
Später kam Segur auf das Leben im Stadthaus der Tolegos zu sprechen. Am Anfang mochten sie das riesige Haus überhaupt nicht und trauerten dem Torwächterhäuschen nach. Inzwischen hatte sich die Familie eingelebt. Die zahlreichen Tolego-Beamten, die in Mauros Verwaltung ihren unauffälligen Dienst versahen, merkten rasch, dass mit Mehan und Segur ein neuer Geist eingezogen war. Das Klima im Haus verbesserte sich. Segur respektierte die Leistung der Männer und Mehan drangsalierte die rangniedrigeren Frauen nicht. Schon nach kurzer Zeit wusste Segur, dass er sich nicht nur auf seine Männer, sondern auch auf die alteingesessenen Tolegos stützen konnte. Er war entschlossen, die ihm zustehende Position innerhalb des Clans auszufüllen.
„Wirst Du zurückkommen?“ fragte er Feren.
Feren schüttelte den Kopf. „Nein, daran denke ich nicht. Doch ich respektiere Deine Entscheidung für den Clan. Es hat mich erstaunt, denn Du warst viel weiter weg als ich. Verzeih mir die harten Worte von neulich. Wenn Du Deine Zukunft im Clan siehst, musst Du den eingeschlagenen Weg zu Ende gehen.“
Segur nickte nur. Nach ihrem Streit hatte er lange mit Greven über Feren geredet. Greven war überzeugt, dass Feren zurückkehren würde und riet Segur, nicht zu drängen. Deshalb wechselte Segur das Thema. Er berichtete detailliert über die Sicherheitsvorkehrungen, die man im Haus der Tolegos für den kleinen Beor getroffen hatte. Zaydhan, eine alte Zauberin aus Torrens Sippe, hatte ein wachsames Auge auf den kostbaren Nachwuchs. Sie galt als mächtig genug, um Barren in seine Schranken zu weisen. „Willst Du Deinen Sohn nicht zu Dir kommen lassen?“ fragte Segur. „Er hat mitbekommen, dass Du verwundet bist und fragt nach Dir.“
„Nein“, rief Feren entsetzt. Dann fügte er leise hinzu: „Je weniger Leute von Beors Existenz wissen, desto besser. Barren hat gedroht, dass er mir jederzeit nehmen kann, was ich am meisten liebe. Er tötete Stork. Meinen Sohn darf er nicht finden!“
„Ich habe von eurer Begegnung gehört“, erwiderte Segur. „Trotzdem kannst Du Deinen Sohn nicht auf alle Zeit vor der Welt verstecken! Er wächst heran und hat ein Anrecht, den ihm gebührenden Platz in der Gesellschaft einzunehmen. Den Weg dorthin musst Du ihm ebnen. Er braucht seinen Vater. Es wird Zeit, dass Du Dich dieser Verantwortung stellst.“
„Lass uns nicht schon wieder darüber streiten. Beor braucht vor allem einen Platz, wo er in Sicherheit ist. Das Stadthaus der Tolegos ist in Ordnung“, beeilte sich Feren zu sagen. „Hier hingegen gehen zu viele Fremde ein und aus. Ich möchte auch nicht, dass Kayla von ihm weiß. Sie kommt regelmäßig hierher. Wir teilen die Kammer….“
Segur sah Feren fassungslos an: „Soll das heißen, sie ist Deine Gefährtin und Du hast ihr nichts von Deinem Sohn erzählt? Ihr wart in Vedar bei den Feuern und teilt offen das Lager. Das erfüllt alle Voraussetzungen einer einvernehmlichen Verbindung. Ihre Kinder werden Deine legitimen Nachfahren sein. Sie hat ein Recht, etwas über Deine Vergangenheit zu erfahren!“
Feren sah das nicht so klar. Er wollte in Ruhe nachdenken. Doch das änderte nichts an dem beklemmenden Gefühl. „Beor von Malfar war ihr Bruder“, erinnerte er Segur. „Ich weiß, wozu ein Malfarin fähig ist.“
„Du wirst nicht umhin kommen, Gildemeister Goswin die Existenz Deines Sohnes kundzutun. Es ist entschieden, dass alle Zauberer sich im Gildebuch registrieren lassen müssen. Dein Sohn hat unverkennbar Dein Talent geerbt. Du solltest ihn möglichst bald deklarieren. Vergiss nicht, dass er damit Anspruch auf den Schutz der Gilde erwirbt!“
„Nein“, sagte Feren entschieden. „Mir wäre am liebsten, wenn keiner außer uns beiden von seiner Existenz wüsste!“
Allmählich wurde Segur wütend: „Hast Du Dir jemals Gedanken darüber gemacht, was es für uns bedeutet, das Kind eines Freundes zu hüten? Nicht genug, dass Du mächtige Feinde hast. Kinder in diesem Alter sind anfällig für Unfälle oder Krankheiten. Mehan lebt beständig in der Angst, Dir eines Tages eingestehen zu müssen, dass sie als Hüterin versagt hat.“ Nicht dass das wirklich ein Problem war. Mehan hatte die Gabe, die Dinge so zu nehmen, wie sie kamen. Sie machte sich nicht im Voraus Sorgen. Doch Segur fand es an der Zeit, die Augen des Freundes mal auf seine Probleme zu lenken.
Segurs harte Worte schlugen in Ferens Bewusstsein ein wie Meteoriten. Seine Gedanken gingen zurück zu Stork. Und zu Greven, dem er eingestehen musste, dass er Stork nicht zu schützen vermochte. Sein Magen krampfte sich zusammen, wenn er an die bevorstehende Unterredung dachte. Es war ihm nicht bewusst gewesen, dass er seinen Freunden eine ähnlich schwere Last aufgebürdet hatte. Segur musste ihm vielleicht eines Tages beibringen, dass Beor ein Leid geschehen war. Dann fühlte er sich genau so elend wie Feren jetzt. Das durfte nicht sein. Er hatte kein Recht, das von seinen Freunden zu verlangen. Wie konnte er so gedankenlos sein. Alle Farbe war aus seinem Gesicht gewichen. Die Fassade der Selbstdisziplin brach zusammen. Er schwankte.
Segur streckte die Hände aus, um Feren zu stützen. Doch Feren wich aus.
„Das darf nicht wahr sein! Hast Du jetzt auch schon Angst vor mir?“ Segur machte noch einen Schritt in Ferens Richtung und begann, mental Druck auf ihn aufzubauen. Normalerweise müsste jetzt die Gegenreaktion kommen. Segur erhöhte den Druck und wartete auf einen Befreiungsschlag, doch nichts kam. Da begriff er: Feren war nicht nur körperlich schwer angeschlagen, er verfügte auch nicht mehr über die mentalen Kräfte, sich zu schützen. Das war für einen Zauberer fatal.
Feren wich zurück, bis er nicht mehr weiter konnte. Jetzt war der größere Segur direkt über ihm. Er stütze sich mit einem Arm gegen die Stallwand und zwang Feren, ihm in die Augen zu blicken. Ungehindert konnte er in das Innerste der Auster vordringen: schutzloses weißes Fleisch, über das wie ein Gitter die Narben liefen, die das Leben geschlagen hatte. Ein Gitter aus Angst und Verzweiflung, dem kein Entkommen war. Wie immer, wenn er einen kurzen Blick in Ferens Innerstes erhaschte, erschrak Segur. Noch nie hatte er einen Weg gefunden, den Freund in den Momenten seiner höchsten Not zu erreichen. Segur kannte das Gefühl von Hilflosigkeit, das ihn jetzt überkam. Feren, der immer da gewesen war, wenn er ihn brauchte, ließ selbst keine Hilfe zu.
Diesmal war Segur zu wütend, um aufzugeben. Er fühlte sich betrogen. Den ganzen Nachmittag hatten sie über Belanglosigkeiten gesprochen. Feren hatte den Eindruck erweckt, als hätte er seine Situation im Griff. So wie er es immer getan hatte. Die von ihm vermittelte Sicherheit hatte die Truppe über viele schwierige Situationen hinweggebracht. Segur sollte Feren gut genug kennen, um hinter die Fassade zu sehen. Niemand wusste besser als er, welch eiserne Disziplin Feren aufbringen konnte, wenn er nicht wollte, dass die anderen seine Mutlosigkeit und seine Zweifel sahen. Trotzdem war er wieder darauf hereingefallen, hatte wieder geglaubt, was der Freund ihm zeigen wollte. Nun musste er erkennen, dass Feren gar nichts im Griff hatte. Er stand, im wahrsten Sinne des Wortes, mit dem Rücken zur Wand.
Segur musste sich sammeln. Er gab den Blick frei und Feren drehte mit einer Geste der Erschöpfung den Kopf zur Seite. Sein Blick ging ins Leere. Segur trat ein wenig zurück und betrachtete die entkräftete Figur, die Halt suchend an der Stallwand lehnte.
Feren suchte nach Worten. „Segur, verzeih mir. Ich hatte nicht darüber nachgedacht, was ich euch mit Beor aufbürde. Ich werde eine Lösung finden. Lass mir bitte ein bisschen Zeit.“
Dieses Ergebnis hatte Segur nicht gewollt. „Feren, Du drehst Dich im Kreis“, sagte er leise. „Viel zu lange hast Du eine große Bürde getragen. Du warst schon erschöpft, bevor das mit den Daughûi passiert ist. Das war nur der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Jetzt bist Du völlig am Boden. Bitte, lass mich Dir helfen!“
„Es geht mir schon besser...“ Feren fröstelte und zog seinen Mantel enger um sich: „Ich bin einfach müde.“
„Das glaube ich Dir nicht. Dir fehlt die innere Kraft, die Verbindung zu Deiner Mitte. Sobald ich ein wenig Druck auf Dich ausübe, brichst Du zusammen. So kannst Du nicht weitermachen.“
„Ich arbeite daran. Ich mache regelmäßig meine Konzentrations- und Meditationsübungen.“
„Das ist ganz großartig“, spottete Segur. „Und wie fühlst Du Dich dabei?“
Feren machte eine vage Geste. Es kam ihm hart an, die nötige Konsequenz aufzubringen. Meist war er so erschöpft, dass er dabei einschlief.
„Ist Dir vielleicht schon aufgefallen, dass alle diese Techniken Dir eine Menge Härte und Disziplin abverlangen? Damit treibst Du Dich immer weiter in den Kreisel hinein. Je verzweifelter Du nach Halt suchst, desto weniger wirst Du ihn finden.“
„Was soll ich denn tun?“
„Wie wäre es, wenn Du gar nichts tust?“ schlug Segur vor. „Lass einfach los und erlaube Dir, zur Ruhe zu kommen. Denk erst über den nächsten Schritt nach, wenn Du wieder festen Boden unter den Füßen hast.“ Segur war kein Gelehrter, doch er war verbunden mit der Weisheit seiner Seele, die ihm die richtigen Worte gab. Er wusste, dass das Gesagte Sinn machte. Nun schob er seinen Arm unter Ferens gesunde Schulter und geleitete ihn vorsichtig zurück ins Haus. Er spürte, wie Feren sich darauf einließ und sein Gewicht auf ihn stützte. „Das ist schon besser. Freunde hat man, damit sie einen stützen, wenn es nicht mehr weitergeht!“ brummte Segur.
Schon fast beim Haus angekommen sagte Segur: „Mach Dir wegen Beor keine Sorgen. Dein Sohn ist bei uns gut aufgehoben. Mehan und ich sind nicht die einzigen, die auf ihn Acht geben. Aber sei Dir bitte auch bewusst, dass Beor aus dem Alter heraus ist, wo man ihn verstecken konnte. Einen Fünfjährigen bindest Du nicht an. Und verlang nicht von ihm, dass er seine Herkunft leugnen soll, selbst wenn es scheinbar seinem Schutz dient. Er ist sehr stolz darauf, Dein Sohn zu sein!“
Feren blieb stehen und sah Segur erschrocken an. Die Herkunft verleugnen zu seinem Schutz – der Hinweis war bei ihm angekommen. „Das werde ich von Beor niemals verlangen. Es reicht, dass ich es mein Leben lang tun musste!“
Segur sah Feren überrascht an. Da war also eine weitere tiefe Wunde, die Feren stets vor ihm verborgen hatte. Er antwortete mit einem Kopfschütteln: „Im Moment scheint aller Schmerz aufzubrechen, den Du über Jahrzehnte in Dir vergraben hast. Es war zu erwarten. Du weißt, ich war vor kurzen auch mitten drinnen in diesem Prozess. Es braucht Kraft, und es braucht Zeit.“
Feren nickte und versuchte ein Lächeln. „Es geht schon, Segur .... Du musst jetzt reiten. Es ist schon spät.“
Segur antwortete mit einem Kopfschütteln: „Wenn Du nur wieder für andere denken kannst. Schau bitte auf Dich. Wenn ich wiederkomme, möchte ich Dich in einem besseren Zustand vorfinden!“ Bevor er vom Hofe ritt, drehte er sich noch einmal um: „Ich wünsche mir von Dir ein bisschen mehr Vertrauen!“
Daheim gab Segur Mehan einen detaillierten Bericht über alles, was er erfahren hatte. Mehan war erstaunt, dass Kayla Ferens Gefährtin war. Die beiden hätte sie nicht miteinander in Verbindung gebracht. Doch wo die Liebe so hinfällt....
Segur berichtete, dass seine Männer Feren besuchen wollten. Er hielt es für keine gute Idee. „Er wird nicht wollen, dass sie ihn in diesem Zustand sehen. Und ich möchte nicht, dass er wieder einen Kraftakt vollbringt, um ihnen vorzumachen, dass alles in Ordnung ist. Heute war er völlig am Boden. Ich musste ihn nur antippen, und er ist zusammengeklappt.“ Zuletzt erfuhr sie von Ferens Sorgen wegen Beor. Sie schalt Segur, dass er dieses Thema überhaupt aufgebracht hatte. „Er hat so viel für uns getan. Diese kleine Gefälligkeit darf er wohl erwarten!“ Darüber waren sie sich einig. Doch Mehan würde Beor in Zukunft nicht mehr mitnehmen, wenn sie ins Gildehaus ging.
Während sie sich unterhielten, achteten sie nicht darauf, dass ein Dreikäsehoch mithörte, der durchaus der Meinung war, dass ihn diese Dinge etwas angingen.
Schon am nächsten Tag würde sich bewahrheiten, dass man fünfjährige Knaben nicht so leicht verstecken kann.
Kayla hatte beschlossen, dass es an der Zeit war, Mehan einen Besuch abzustatten. Die Verbindung zwischen Segur und Feren machte den Kontakt plötzlich viel interessanter. So wappnete sie sich mit Interesse für den Säugling und rief sich ins Gedächtnis, was jede junge Mutter in dieser Situation zu hören wünscht. Natürlich würde es das schönste Kind auf Erden sein, selbst wenn es wie eine Kaulquappe aussah. Und Ähnlichkeiten mit den Eltern musste man auch herbeireden, selbst wenn man der Meinung war, dass sich manche Leute besser nicht vermehrt hätten. Nun ja, auf Segur und Mehan traf das nicht zu. Kayla hatte durchaus bemerkt, dass Segur ein attraktiver Mann war. „Beeoah“ war ihnen auch ganz gut gelungen. Ihr Vater hatte herzlich gelacht, als sie ihm erzählte, was die Sommerländer aus dem stolzen Namen ihres Bruders machten.
Kayla hatte das Stadthaus der Tolegos noch nie von innen gesehen. Es lag am Ende der großen Prachtstraße, nahe der Arena. Da die Tolegos seit mehreren Generationen zum Königsclan gehörten, war ihr Haus besonders prächtig. Schon die Fassadengestaltung und die Befestigung des Tores zeugten von ihrer Macht. Das Haus hatte drei statt der sonst üblichen zwei Stockwerke und weitläufige Wirtschaftsgebäude im hinteren Bereich.
Kayla hatte ihren Besuch nicht angekündigt. Sie teilte den Wächtern knapp ihr Anliegen mit und ritt dann in den Hof hinein.
Als hätte sie ihn gerufen, stand Beor plötzlich vor ihr. Da seine Kinderfrau nicht dabei war, konnte er sie mit unverhohlenem Interesse anstarren, ohne dass ihn jemand zur Ordnung rief. Sie warf ihm die Zügel ihres Pferdes hin: „Hier, halt das!“ Er fing sie geschickt auf und hielt das Pferd still, während sie abstieg. „Schaust Du nach, ob ich nicht doch eine Elfe bin?“ fragte sie ihn belustigt.
„Du bist hübsch“ konstatierte er.
„Danke für die Blumen, junger Mann. Sind wir einander eigentlich schon vorgestellt worden?“ Sie meinte, dass er nicht mehr klein genug war, um sie zu duzen.
Er nahm Haltung an, wie er es von den Wachsoldaten kannte, und stellte sich förmlich vor: „Ich bin Beor, Sohn des Feren.“
Jetzt musste sich Kayla am Riemen reißen, um nicht erstaunt auszurufen. Jahrelange Übung ermöglichten ihr, nur kurz eine Braue hochzuziehen und ebenso förmlich zu antworten: „Ich bin Kayla, Tochter des Goswin von Malfar.“ Sie machte einen artigen Knicks. Beor verbeugte sich, wie es sich gehörte. Man hatte ihm offenbar Manieren beigebracht.
Kayla erinnerte sich, dass Feren in einem Nebensatz erwähnte, dass er schon einen Sohn gezeugt hatte. Sie hatte das mehr als Hinweis auf seine Fruchtbarkeit gedeutet und nicht weiter nachgefragt. Doch hier handelte es sich offensichtlich um einen offiziellen Sohn, der seinen Namen trug. Hatte er ihr das bewusst verschwiegen? War etwa Mehan früher einmal Ferens Gefährtin gewesen? Kayla spürte sofort die Eifersucht in sich hochsteigen. Mehan war eine attraktive Frau. Was verband die beiden, dass sie es ihr nicht offen sagen konnten? War es das gewesen, worüber Feren und Segur sich gezankt hatten? Zu Beor sagte sie nur: „Ich kenne Deinen Vater gut.“
„Ich weiß“ antwortete Beor, der sie weiterhin prüfend ansah. „Du bist seine Gefährtin.“
Jetzt musste Kayla schlucken. Der Junge wusste mehr über sie als umgekehrt. „Warum habe ich Dich noch nie bei Deinem Vater im Gildehaus gesehen?“
Ein Schatten huschte über Beors Gesicht. Er sagte nichts. Kayla wunderte sich, dass ihr die Ähnlichkeit mit Feren nicht sofort aufgefallen war. Offenbar vererbten sich nicht nur Gesichtszüge, sondern auch Verhaltensweisen. Beor neigte wie Feren dazu, unangenehme Fragen einfach im Raum stehen zu lassen, als gingen sie ihn nichts an. Bei Feren lohnte es sich manchmal, ein wenig zuzuwarten. Sie schwieg und wartete, ob noch etwas kam.
Beor grub mit der Zehenspitze im Sand. „Ich darf nicht zu ihm“, sagte er traurig.
„Das glaube ich nicht. Wie kommst Du darauf?“
„Er ist krank und muss viel schlafen. Ich darf nicht zu ihm, weil er sich sonst anstrengen muss, für mich wach zu bleiben.“ Das waren Beors Schlussfolgerungen aus Segurs Worten von gestern.
Kayla verstand. Feren wollte offenbar nicht, dass sein Sohn ihn schwach und elend sah. Das konnte sie nicht gut heißen: „Ich meine, er könnte ruhig zulassen, dass Du seinen Schlaf bewachst.“
Beor schüttelte betrübt den Kopf: „Es ist meine Schuld. Ich war böse auf ihn, weil er eingeschlafen ist, als ich mit ihm spielen wollte.“ Ferens letzte Versuche, seinem Sohn Aufmerksamkeit zu schenken, waren gründlich schief gegangen. Sobald der Junge begonnen hatte, ihm etwas zu erzählen, war er eingeschlafen. Beor hatte sich bitter beklagt, dass er einen Vater, der immer nur schlief, nicht haben wollte. Feren war geknickt abgezogen und hatte sich vorgenommen, es beim nächsten Mal besser zu machen. Wenig später war er verunglückt.
„Bitte“, sagte Beor flehentlich zu Kayla, „Sag ihm, dass ich nie mehr böse sein werde! Ich verspreche, dass ich ihn schlafen lasse! Ich will nur sehen, ob es ihm gut geht!“ Beor, dem der Tod schon die Mutter genommen hatte, litt große Angst, dass auch sein Vater ihn alleine zurücklassen könnte. Trotz der kleinen Missverständnisse gab es ein inniges Band zwischen den beiden.
Kayla fühlte die Not des Jungen. Sie überlegte einen Moment. „Weißt Du, Beor, wenn Du von etwas wirklich überzeugt bist, solltest Du darum kämpfen. Du hast ein Recht darauf, Deinen Vater zu sehen. Du bist ein Zauberer, Du brauchst Dich nicht einfach abweisen zu lassen!“
Beor sah sie erstaunt an. Auf diese Idee war er nicht gekommen. „Zeigst Du mir, was ich tun kann?“
„Gut, ich zeige es Dir. Doch ich möchte nicht, dass Dein Vater erfährt, von wem Du das gelernt hast. Sonst ist er wahrscheinlich auf uns beide böse! Verspricht Du mir, ihm nicht zu erzählen, dass wir uns getroffen haben?“ Sie war nicht überzeugt davon, dass das funktioniert, doch sie wollte Feren nicht die Entscheidung abnehmen, sich gegenüber ihr zu seinem Sohn zu bekennen.
„Versprochen“, wiederholte der Junge mit großer Ernsthaftigkeit.
„Ich verlasse mich auf Dich.“ Kayla machte das Zauberzeichen für >Einverständnis des Schweigens<.
Beor kannte das Zeichen nicht, doch als er es wiederholte, begriff er intuitiv seine Bedeutung. Dann zeigte Kayla ihm, wie man den Willen argloser Menschen in die gewünschte Richtung lenken konnte. Beor war mit Feuereifer bei der Sache. Er konnte es kaum erwarten, seine neuen Fertigkeiten auszuprobieren.
Als Khären von Amrun sich mit seinen Leuten bereit machte, Feren zu besuchen, probierte Beor aus, was Kayla ihn gelehrt hatte. Er nahm seinen ganzen Mut zusammen und stellte sich den Reitern in den Weg. Beor erklärte Khären, dass er seinen Vater zu sehen wünschte. Während er sprach, konzentrierte er sich darauf, Khärens Willen in die gewünschte Richtung zu lenken.
Khären merkte wohl, dass der Junge ihn zu manipulieren versuchte. Doch die Entschlossenheit, die hinter dem Versuch steckte, überzeugte ihn. Man würde Beor nicht auf Dauer von einem Besuch bei seinem Vater abhalten können. Lieber nahm Khären ihn jetzt gleich mit, als dass Beor andere, gefährlichere Wege fand.
Feren saß entspannt in der herbstlichen Sonne, als die Amrunim in den Hof des Gildehauses einritten. Er freute sich über ihren Besuch und winkte ihnen zu. Beor winkte fröhlich zurück. Da erst bemerkte Feren seinen Sohn und erschrak. Aufgebracht machte er Khären Vorwürfe: „Ich habe doch ausdrücklich verboten, Beor hierher zu bringen. Es ist zu riskant…“
Khären bürstete Ferens Unmut ab: „Er wäre auf jeden Fall gekommen. Hätte ich warten sollen, bis er sich zu Fuß auf den Weg macht? Ihr hättet Euch an seiner Stelle gewiss nicht abweisen lassen.“
Feren schluckte. Khärens Hinweis war berechtigt. Er ging auf Beor zu und streckte seine Arme aus, um den Jungen vom Pferd zu heben. Mitten in der Bewegung hielt Feren inne. Ein Stechen im Rücken erinnerte ihn, dass er Beors Gewicht nicht tragen konnte. Er musste sich gedulden, bis Khären den Jungen absetzte. Dann ging er in die Hocke, um seinen Sohn in die Arme zu schließen.
Beor näherte sich ganz vorsichtig. Ihm war bewusst, dass er dem Vater nicht wehtun durfte. Feren drückte ihn mit seinem gesunden Arm an sich. Er konnte nicht verhindern, dass seine Augen feucht wurden. Eine Träne lief über seine Wange. Er versuchte, den verletzten Arm zu nutzen, um sie fortzuwischen, doch die Motorik gehorchte nicht. Der rechte Arm fühlte sich fremd und taub an. Auch wenn er eine leichte Besserung festzustellen glaubte, war er noch weit davon entfernt, seine Finger zu gebrauchen.
So kam ihm Beor zu Hilfe. Mit seinen kleinen Fingern nahm er die Träne fort.
Im Aufstehen erfasste Feren ein leichter Schwindel. Er stützte sich einige Sekunden auf Beors Schulter ab, bis sich sein Körper auf die Lageveränderung eingestellt hatte. Beor fühlte bewusst sein Gewicht und streckte sich ein wenig. In seiner Erinnerung blieb haften, dass er schon stark genug war, seinem Vater Unterstützung zu geben.
Das Bewahren von Geheimnissen lag in Beors Erbanlagen. Er erwähnte Kayla mit keinem Wort, als später alle am prasselnden Kamin zusammen saßen. Eine Magd versorgte die Gäste mit Tee und Honiggebäck. Beor machte es sich wohlig an seines Vaters Seite bequem. Es beruhigte ihn ungemein, Ferens Körpers zu spüren. Endlich konnte er sich persönlich davon überzeugen, dass sein Vater am Leben war. Seine kleine Hand suchte Ferens Herzschlag und fühlte, wie dieser innerlich fror. Beor begann, Feren Energie zu übertragen.
Feren gebot ihm sofort Einhalt: „Lass das, das tut Dir nicht gut!“ Er schickte sich an, Beors Hand wegzuschieben. Dann besann er sich eines Besseren. Er legte Beors Hand an sein Herz zurück und sagte zu ihm: „Nimm nicht Deine eigene Energie, sondern hole sie Dir von den Sternen. Dort ist reichlich Energie vorhanden. Lass sie durch Deinen Körper fließen, bis in Deine Hände. So ist es gut. Achte stets darauf, wie Du Dich fühlst. Der, der gibt, muss seine Grenzen kennen. Wenn es Dich anstrengt, hörst Du auf. In Ordnung?“
Beor nickte. Feren schloss die Augen und fühlte den warmen Strom. Tatsächlich ging es ihm danach besser. Er schaffte es sogar, mit Khärens Männern zu scherzen.
Als sie sich einige Zeit später wieder verabschiedeten, sagte Feren zu Beor: „Schön, dass Du da warst. Danke, dass Du mir Kraft gegeben hast. Ich fühle mich stärker!“
Khären von Amrun konnte nicht an sich halten: „Warum habt Ihr ihn nicht schon viel früher zu Euch geholt?“
Feren sah ihn nachdenklich an. Dann beantwortete er die Frage: „Ich habe mächtige Feinde. Je weniger Leute wissen, wo er lebt und wie er aussieht, desto besser. Leider lässt er sich nicht mehr so einfach verstecken.“ Er sagte das nicht ohne Stolz. Segurs Worte klangen in seinem Ohr. Jetzt sah er ein, dass der Freund Recht gehabt hatte.
„Macht Euren Frieden mit dem Clan“, drängte Khären. „Das Stadthaus ist geräumig und bestens gesichert. Dort könnt Ihr mit Eurem Sohn beisammen sein. Nôrden hat sich nicht mehr blicken lassen, seit Segur das Haus übernommen hat. Dafür lebt Großmeister Greven jetzt bei uns. Wir sind wieder eine starke Gemeinschaft. Es ist höchste Zeit, dass Ihr zurückkehrt.“
Greven. Ferens Blick verlor sich in der Ferne. Er hatte es noch nicht fertig gebracht, mit Greven persönlich über den Tod seines Sohnes Stork zu sprechen. Die Verantwortung lastete schwer auf seinen Schultern. Was sollte er Greven sagen? Dem Vater, der nun auch den dritten hoffnungsvollen Sohn begraben musste? Wieder stellte Feren sich die Frage, ob er Storks Tod hätte verhindern können. Er kannte die Antwort auswendig. Sobald er entschied, ihn mit in den Tunnel zu nehmen, konnte er ihn nicht mehr schützen. Der Fehler lag weiter zurück: Feren hätte Stork niemals in seine Gruppe berufen und damit ihrer beider Schicksal verbinden dürfen. Zu Khären sagte er nur: „Ich werde kommen und mit Großmeister Greven sprechen, sobald ich ein wenig kräftiger bin.“
Beor war sehr zufrieden mit sich. Er hatte etwas Wichtiges gelernt: Es lohnte sich, für das zu kämpfen, was einem richtig erschien. Er hatte keinen Zweifel daran, dass er seinem Vater eine große Unterstützung gewesen war. Die Erwachsenen wussten auch nicht immer, was ihnen gut tat. Er würde in Zukunft genau prüfen, welchen ihrer Anordnungen er nachkommen musste und welchen nicht.