Читать книгу Die Jäger - Solveig Kern - Страница 8

Das Leben ein Schauspiel

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Als Feren erwachte, war es draußen stockdunkel. Er setzte sich auf und versuchte herauszufinden, wo er war. Langsam kam die Erinnerung. War es erst gestern gewesen, dass er völlig erschöpft in Segurs Armen eingeschlafen war? Dann hätte er erst kurze Zeit geschlafen. Vielleicht war aber auch schon ein ganzer Tag vergangen… Feren erinnerte sich, dass Segur nach ihm gesehen hatte. Da war es hell gewesen. Beor war gegangen und später wieder zu ihm unter die Decke gekrochen. Auch das Bild einer alten Zauberin tauchte in seinem Gedächtnis auf. Sie versorgte seine Wunde und gab ihm zu Essen. Dann reichte sie ihm einen Trunk, der ihn wahrscheinlich in Tiefschlaf versetzte. Feren wunderte sich, wie die alte Frau, die er nur einmal kurz in Grevens guter Stube gesehen hatte, seine Schutzmechanismen unterlaufen konnte. Normalerweise versetzte ihn jeder Fremde, der in seiner Nähe auftauchte, sofort in Alarmbereitschaft – selbst wenn er vorher tief geschlafen hatte. Einen Moment lang überlegte er, ob er sich Sorgen machen sollte. Hatte die Alte ihn etwa behext? Seine innere Stimme signalisierte Entwarnung: die Schutzmechanismen waren intakt. Niemand hatte versucht, etwas gegen seinen Willen mit ihm zu tun. Feren sah sich um. Beor hatte sich von ihm weggerollt. Er schien zu träumen und brabbelte im Schlaf. Sanft berührte er den kleinen Kerl und versicherte sich, dass es ihm gut ging.

Da war eine fremde Präsenz im Raum. Ferens Schutzmechanismen reagierten sofort. Der ganze Körper geriet in Alarmbereitschaft, als er Grevens Astralkörper erkannte.

„Kommt mit“, hörte er Grevens Stimme in seinem Kopf. „Ich möchte Euch etwas zeigen“

Feren schüttelte energisch den Kopf. Wie konnte der Patron annehmen, dass er ihm folgen würde, nach allem, was gestern geschah?

„Ich weiß, Ihr vertraut mir nicht“, sagte Greven. „Ihr sehnt Euch nach bedingungslosem Vertrauen, doch das ist ein kindlicher Gedanke. Den Eltern müssen wir bedingungslos vertrauen, weil wir ihnen ausgeliefert sind. Löst Euch von diesem Anspruch. Erwachsene entscheiden im Einzelfall. In der einen Sache könnt Ihr mir uneingeschränkt vertrauen, in einer anderen Sache tut Ihr es besser nicht. Den Unterschied beurteilt Ihr selbst.“

Feren wusste, wovon Greven sprach. Er hatte einen Vater gesucht, dem er blind vertrauen konnte. Das brauchte er jetzt nicht mehr. Er hatte sich von ihm gelöst und konnte seine Wahlmöglichkeit ausüben. „Ich folge Euch“, entschied er und verließ seinen Körper.

Greven führte ihn einen breiten Korridor entlang. Obwohl es dort keine Fenster gab, war der Korridor hell erleuchtet. Je weiter sie kamen, desto mehr Menschen begegneten ihnen. Anders, als die ziellos dahinstreifenden Schatten, die Feren von seinen Reisen in die Anderwelt kannte, schienen sich diese Astralkörper zielgerichtet zu bewegen. Feren ließ sich von ihrer Eile anstecken und beschleunigte seine Schritte. Schließlich erreichten sie eine weitläufige Säulenhalle. „Hier war ich schon einmal“, erinnerte sich Feren.

„Das überrascht mich nicht“, erwiderte Greven. „Ihr seid schon weit gekommen, doch habt Ihr auch die Tür da hinten durchschritten?“

Feren antwortete, ohne einen Moment nachdenken zu müssen: „Sie ist verschlossen.“

„Das ist richtig, doch Ihr habt den passenden Schlüssel.“

Feren hatte mit einem Mal einen dicken Schlüsselbund in der Hand. Der erste Schlüssel seiner Wahl passte. Feren öffnete die Tür und sah Greven fragend an.

„Geht hinein“, ermutigte ihn dieser.

Mit einem Male befanden sie sich im Halbrund eines Theatrons. Der Bühnenaufbau zeigte große Ähnlichkeit mit dem königlichen Palast. Überall standen Wächter. Feren folgte einer Gruppe königlicher Gardisten ins schummrig beleuchtete Wachzimmer. Dort wurde gerade verbissen gezockt. „Die sollten besser ins Bett gehen, statt ihren Sold zu verwetten“, schimpfte Greven. „Morgen sehen sie wieder aus wie die Gespenster.“

Auch auf den anderen Abschnitten der Bühne war nicht viel los. Hanok brütete gerade über der Nachschub-Logistik für den Winterfeldzug. „Er arbeitet oft bis in die Nacht hinein, denn er braucht wenig Schlaf“, erläuterte Greven. „Hanok hat sich das Entwicklungsziel Beschleunigen gewählt. In diesem Leben möchte er eine große Menge anspruchsvoller Dinge erleben, die ihm ein rasches seelisches Wachstum ermöglichen. Das ist besonders anstrengend. Wahrscheinlich wird er in seiner nächsten Inkarnation nicht viel mehr tun als die Eindrücke aus diesem Leben zu verarbeiten.“

Feren kehrte Hanok den Rücken und stolperte beinahe über Yvo, der gerade seine frisch angetraute Gattin beschlief. Wie er sich auch mühte, er konnte ihr nicht die geringste Gefühlsregung entlocken. Sie ließ alles über sich ergehen, als wäre sie eine Puppe. Als er fertig war, fragte sie: >Darf ich jetzt aufstehen? <

„Solche intimen Dinge will ich nicht wissen“, empörte sich Feren.

„Dann schaut nicht hin“, erwiderte Greven gleichmütig. „Kommt weiter. Wir sind noch nicht am Ziel.“

„Können sie uns denn nicht sehen?“ wollte Feren wissen.

„Yvo kann wahrscheinlich, doch die anderen sehen uns nicht“, erwiderte Greven. „Sie haben bestenfalls eine vage Ahnung, dass jemand im Raum war.“ Er ging voran und überquerte zügig die Bühne. Wenig später standen sie an der Schwelle zu den Kulissen.

Dort war viel mehr Betrieb als vorne auf der Bühne. Alleine oder in Grüppchen standen die Schauspieler herum und unterhielten sich. Gero rezitierte gerade seinen Text für die nächste Szene. Kayla war mit dem Kostüm unzufrieden und zankte mit dem Schneider. Shui schimpfte, dass Rüdiger ihm sein Stichwort vermasselt hatte. Serghey kam auf Feren zu und sagte zu ihm: „Deine Szene mit den Daughûi war bärenstark. So überzeugend hast Du noch nie gespielt!“

„Er kann mich sehen“, sagte Feren überrascht zu Greven.

„Natürlich kann er“, erwiderte dieser. „Hinter der Bühne kann Dich jeder sehen. Es gibt bloß einen Unterschied zwischen ihnen und uns: wenn wir in unsere schlafenden Körper zurückkehren, werden wir uns an diese Begegnungen erinnern. Sie werden es nicht tun.“

„Ich kenne all die Leute hier!“ stellte Feren fest.

„Kein Wunder, sie spielen mit uns im gleichen Stück. Derzeit steht >Die Rückkehr des Auserwählten< auf dem Spielplan. Es ist sozusagen ein Repertoirestück, wird aber von den Zusehern sehr geschätzt.“

Auch Mauro war da. Er legte Feren kameradschaftlich die Hand in den Nacken und dozierte: „Hier in diesem Bewusstseinsraum müssen wir Veränderungen anstoßen, die in der alltägliche Wirklichkeit Auswirkungen haben. Nur so können wir das Schicksal des Landes zum Besseren wenden. Unser Erfolg hängt ganz wesentlich davon ab, ob es uns gelingt, in beiden Welten bewusst zu agieren.“

Feren nickte: „Die Technik dafür lerne ich gerade.“

Wie in der Traumwelt wechselten die Bilder andauernd und ohne Übergang. Eben noch spazierte Feren mit Mauro entlang eines Flusslaufs, nun saß Stork auf einer Schaukel und winkte ihm fröhlich zu. Feren ging zu ihm: „Was machst Du hier? Du lebst doch nicht mehr!“

„Ich bin auch Akteur in diesem Theaterstück“, erwiderte Stork. „Meine Rolle war zwar nicht groß, doch für den Fortgang der Handlung ganz entscheidend. Der Herr der 1000 Schrecken drohte den Jäger zu vernichten. Ich habe mich ihm entgegengestellt und wahrte damit eure Chancen auf ein glückliches Ende. Dafür bekam ich eine Menge Applaus. Nun hänge ich hinter der Bühne rum und gebe euch gute Ratschläge. Vergiss nicht, dass Du auch von den Verstorbenen Unterstützung bekommen kannst!“

Feren wollte Stork fragen, was genau er meinte, da war das Bild verschwunden. Stattdessen befand er sich wieder am Eingang zur Kulisse, bei Greven. Der rasche Wechsel der Szenerie irritierte ihn.

„Ihr habt bemerkt, dass es hinter der Bühne keine logischen Abfolgen gibt“, griff Greven seinen Gedanken auf. „Das, was wir Zauberer als >Raum-Zeit-Kontinuum< beschreiben, existiert hier nicht. Dennoch ist diese Welt um nichts weniger real, als die andere, die Ihr als alltägliche Wirklichkeit kennt. Wir existieren in beiden Welten – genau wie die Schauspieler, die auch ein Leben jenseits der Bühne besitzen. Wie sie können wir in beiden Bereichen bewusst agieren.“

Feren rekapitulierte: „Das Wissen beider Welten steht uns zur Verfügung, bloß erinnern wir uns nicht daran. Uns bleibt bestenfalls ein flüchtiger Traum.“ Dann schüttelte er den Kopf: „Unser Leben als Theaterstück? Haben wir so wenig Freiraum?“

„Es gibt Handlungsvorgaben, mit mehr oder weniger Freiheitsgraden. Wie wir unsere Rolle anlegen, ist uns überlassen.“ Greven lachte: „Das Stück unseres Lebens ist schon geschrieben, wir müssen es bloß spielen.“

Voller Faszination beobachtete Feren das Geschehen hinter den Kulissen. Er sah das Kommen und Gehen der Akteure und den ständigen Wechsel der Bilder. „Das ist für mich ein Scheidepunkt. Wer an dieser Schwelle stand, sieht die Welt mit anderen Augen“, konstatierte er. Dann wandte er sich zu Greven um: „Warum habt Ihr mich hierher geführt – wo ich mich gerade erst mit einem harten Schnitt von Euch gelöst habe?“

„Gerade jetzt, wo Ihr alles in Frage stellt, möchte ich Euren Blick für neue Sichtweisen öffnen“, erläuterte Greven. „In unserem gemeinsamen Stück habt Ihr eine der Hauptrollen. Eine Rolle, die Euch viel abverlangt. Spielt sie mit Hingabe und Überzeugungskraft. Vergesst vor allem nicht, dass Ihr Mitspieler habt.“

Feren verstand, was Greven ihm sagen wollte, doch da war noch mehr. Feren erinnerte sich an Mauros Worte: „Meine spezielle Rolle verlangt, dass ich mein Tagesbewusstsein mit über die Schwelle nehme. Erste Schritte habe ich schon gemacht. Nun muss ich weiter üben.“

„Für heute ist es genug“, bremste Greven. „Kehrt zu Eurem Körper zurück und seht zu, dass Ihr zu Kräften kommt. Ich denke, Ihr findet den Weg alleine.“

Als Feren am nächsten Tag erwachte, erinnerte er sich tatsächlich noch an jedes Detail ihrer nächtlichen Reise. Er hatte sogar etwas Mühe, sich in der alltäglichen Wirklichkeit zurechtzufindenden. Erst das bekannte Pochen in der verwundeten Schulter nahm ihm den Zweifel, dass er wieder ins Leben zurückgekehrt war.

Beor war schon wach. Er hockte in genau der gleichen Haltung an der Kaminwand, die er von seinem Vater kannte, und sah zu ihm herüber.

Feren schmunzelte. „Wenn Du so sitzen willst, musst Du Dir überlegen, wie Du blitzschnell aufstehen kannst. Gelingt Dir das nicht, bist Du leichte Beute für jeden Angreifer“, erklärte er seinem Sohn.

Beor hatte beobachtet, wie Feren das machte, und kam schnell auf die Beine. Feren zeigte ihm einen kleinen Vorteil, wie es noch schneller ging. Nachdem Beor die Technik ein paar Mal wiederholt und Lob erhalten hatte, stellte Feren erstaunt fest: „Ich habe Hunger. Zeig mir, wo in diesem Haus ein Krieger etwas zu Essen findet!“

Feren ließ sich von seinem Jungen beim Ankleiden helfen, denn mit einer Hand schaffte er es nicht. Dann führte Beor ihn hinunter in den Gemeinschaftsraum. Dort war wenig Betrieb, da die meisten Männer tagsüber im Palast weilten. Einige Frauen waren damit beschäftigt, das Geschirr für das Mittagessen aufzubauen. Sie verneigten sich respektvoll vor Feren. Eine sprach: „Verzeiht, Herr, dass wir nichts vorbereitet haben. Wir haben nicht damit gerechnet, dass Ihr hierher kommt. Dürfen wir Euch frischen Tee brauen? Was wünscht Ihr zu speisen?“

Feren sah sie irritiert an. An ihrer Kleidung konnte er erkennen, dass sie von Stand war. Warum machte sie seinetwegen solche Umstände? „Wenn Ihr den Tee erst aufbrühen müsst, werde ich mich gedulden. Wie ich sehe, gibt es bald Mittagessen“, sagte er begütigend.

Männer kamen vom Wachwechsel. Feren kannte einige von ihnen und ging auf sie zu. Er sprach sie mit ihren Namen an und fragte nach ihrem Befinden, wie er es immer getan hatte.

Die Männer waren erschrocken, wie kaputt Feren aussah. „Ihr müsst Euch nicht um uns bemühen“, sagte einer von ihnen wohlmeinend. „Ihr seid nicht mehr unser Beriahîr.“

Feren überlegte ein wenig. Dann besann er sich seiner neu gewonnenen Freiheit: „Ich muss nicht. Aber ich kann“.

„Kommt Ihr zurück?“ fragte der Mann.

Feren bezog die Frage auf seine Tätigkeit als Beriahîr. „Nein, meine Zeit ist vorbei“, erwiderte er. „Es war richtig, das Schwert abzugeben. Jetzt könnte ich es ohnedies nicht mehr tragen.“ Wie zur erklärung hob er die verletzte Hand ein wenig an. „Wer bekam es eigentlich nach mir?“

„Stork hat es getragen…“ erwiderte der Mann.

„Stork.“ Feren ließ die Erinnerungen vorbeiziehen, die mit dem Namen verbunden waren. Er fühlte die Trauer über den Verlust. Doch das wohlbekannte Gefühl der Schuld war nicht mehr da. „Er wäre ein guter Beriahîr geworden“, sagte Feren sanft.

Kurz darauf kam Liu, um ihn abzuholen. Sedh hatte ihn knapp über die Geschehnisse informiert. „Wie geht es Euch heute?“ wollte Liu wissen.

„Ich weiß nicht. Irgendwie anders.“ Feren dachte eine Weile nach. „Ich bin immer noch erschöpft und muss mich konzentrieren, um mich aufrecht zu halten. Doch irgendetwas hat sich verändert. Ich fühle mich freier. Zum ersten Mal seit langem habe ich keine Nieren-Schmerzen. Das scheint mir als gutes Zeichen. Vielleicht geht es jetzt aufwärts…“

„An der Zeit wäre es“, meinte Liu, dessen eigene Genesung schon weiter fortgeschritten war. Liu wandte sich an Beor, der sich an Ferens gesunder Hand festklammerte. „Kennst Du mich noch?“ Er hatte den Jungen vor gut zwei Jahren Hanoks Griff entwunden und ihn zu seinem Vater nach Sevas zurückgebracht.

„Klar, Meister Liu“ antwortete Beor. „Ihr seid ein hervorragender Reiter, aber ein lausiger Zauberer.“ Das hatte er von Segur gehört. Alle lachten herzlich.

Feren wollte Mehan seine Aufwartung machen, ehe er mit Beor das Stadthaus der Tolegos verließ. Sie gingen zu den Herrschaftsräumen hinüber. Die Entgegenkommenden machten Platz und verneigten sich vor Feren. „Das geht die ganze Zeit so. Ich weiß nicht, was die in mir sehen“, sagte Feren ungehalten zu Liu.

„Was sollen sie in Euch sehen?“ fragte Liu zurück.

Die Frage beantwortete Feren wenig später in Mehans guter Stube. Der Raum war viel größer als jener im Torwächterhäuschen, doch er strahlte die gleiche unprätentiöse Gemütlichkeit aus, die für Mehan typisch war. Die Hausherrin empfing sie im Kreise ihrer Damen.

Wie es die Höflichkeit erforderte, stellte Liu sich mit seinem vollen Namen vor.

Auch Feren ging davon aus, dass er seinen Namen nennen sollte. „Ich bin Feren“, begann er. Dann folgte eine kleine Pause. >Sohn der Mallen< passte nicht mehr. Heute war der erste Tag seines neuen Lebens. Er schuldete niemandem etwas. So straffte er sich und sagte: „Nur Feren. Sonst nichts.“

„Nur Feren, sonst nichts“, wiederholte die alte Zaydhan. „Das ist das stolzeste, was ich jemals von einem Tolego gehört habe.“

Die Kinder in Mehans guter Stube beäugten Feren mit unverhohlenem Interesse. Alle hatten von seinem Kampf im Tunnel gehört, denn auf der Zauberschule gab es seit Wochen kein anderes Gesprächsthema. Nun saß der große Held bei ihnen, doch keiner wagte es, das Wort an ihn zu richten. Segurs ältester Sohn, der Feren schon seit Kindesbeinen kannte, fasste sich ein Herz und bat Feren, von seiner Heldentat zu erzählen.

Als Feren hörte, welche Mythen sich mittlerweile um ihn rankten, schüttelte er verwundert den Kopf. Bevor er dazu kam, seine nüchterne Version der Wahrheit zum Besten zu geben, übernahm Liu und schilderte die Ereignisse in den buntesten Farben. Die Kinder hingen an seinen Lippen, als er die Daughûi in allen Details beschrieb.

Sobald Liu zu den Paraplagues kam, wurde es ganz still im Raume.

„Ist es wahr, dass sie Euch nicht erschrecken konnten?“ fragte Segurs Sohn.

>Ist es wahr?< Feren wusste es nicht. Statt einer Antwort ließ er einen Paraplague vor ihren Augen entstehen: Das Schreckgespenst der Unzulänglichkeit, mit dem er sich in den letzten Zeit herumgequält hatte. Es war an sich nicht schrecklich anzusehen. Feren hatte ihm die Gestalt eines alten Lehrers gegeben, der dieses Prinzip repräsentierte. Doch die atmosphärische Veränderung, die das Schattengeschöpf im Raum bewirkte, war gewaltig. Keiner konnte sich der Kälte und der Intensität der Gefühle entziehen, die es hervorrief. Der Paraplague blickte herausfordernd von einem zum anderen. Er suchte sein Opfer. Jeder, auf den er seine Augen heftete, wurde gnadenlos mit der eigenen Unzulänglichkeit und den Versagensängsten konfrontiert.

Feren hielt dem Blick seines Geschöpfes, das all die Lasten repräsentierte, die er über Jahre getragen hatte, ruhig stand: >Du hast keine Macht mehr über mich<.

„Feren, das ist kein Spiel“, sagte Mehan ernst.

„Nein, natürlich nicht.“ Er konfrontierte den Dämon mit dem strahlenden Licht seiner neu gewonnenen inneren Freiheit. Das Schattenwesen floh in den Abgrund zurück, aus dem es entstiegen war. „Habt ihr gesehen, woran man erkennt, dass es ein Paraplague ist?“

Alle sahen ihn fassungslos an. Nur wenige Menschen erreichten die innere Freiheit, so mit ihrem eigenen Schatten umzugehen.

„Woran erkennst Du den Paraplague?“ fragte Feren Segurs Sohn.

„War das einer von ihnen? Du meine Güte, war der mächtig! Die sind ja noch schlimmer als in den Geschichten, die man uns erzählt!“ rief Segurs Sohn aus.

„Feren, das ist nichts für schwache Gemüter,“ tadelte Mehan. „Beor ist noch viel zu jung. Wie soll er danach einschlafen?“ Feren sah Beor erschrocken an. Daran hatte er nicht gedacht. Doch Beor grinste fröhlich. Der Paraplague hatte ihn weniger beeindruckt als die Bestätigung in den Augen der anderen, was für ein mächtiger Zauberer sein Vater war.

„Meister Feren, Ihr müsst unbedingt in der Schule vorbeikommen und das unserem Lehrer zeigen. Ich glaube, der hat keine Ahnung, wie schrecklich Paraplagues sein können! Was er uns gezeigt hat, waren Haustiere dagegen!“ Jetzt hatte Segurs Sohn etwas, worüber er seinen Klassenkameraden berichten konnte.

„Das macht besser Liu. Der erzählt die spannenderen Geschichten!“ wiegelte Feren ab.

„Nein, Feren, sie wollen Euch hören. Ihr wart der Anführer. Ihr habt das Thema Rückwegsicherung nie aus den Augen verloren. Ihr habt als einziger gegenüber den Paraplagues die Nerven behalten, und am Ende habt Ihr gar einen direkten Angriff auf den Herrn der 1000 Schrecken gewagt“, stellte Liu klar. „Da ist keiner, der Euch das Wasser reichen kann.“

„Ihr seid das große Vorbild für die Schüler der Zauberschule“, sagte ein kleiner Junge voller Bewunderung. „Wir sind stolz, dass Ihr ein Tolego seid!“

„Hört Ihr? Das musste mal gesagt werden“, schimpfte die alte Zaydhan dazwischen.

Feren erwiderte ernst: „Ich tauge nicht zum Vorbild. Ich habe bloß angewandt, was man mir beigebracht hatte. Einiges konnte ich bewirken, doch Stork zu retten vermochte ich nicht.“

„Nein, Du taugst nicht zum Vorbild. Du spielst mit Schattengeschöpfen, die jeden anderen zu Tode erschrecken. Du schlägst Barren in seinem eigenen Spiel und bringst den Großteil der Truppe heil aus seinem Labyrinth zurück. Du deklassierst Sedh und Pados berühmte Kombat-Zauberer. Du forderst Nôrden heraus. Aber das ist noch lange kein Grund, stolz auf die eigene Leistung zu sein“, sagte die alte Zaydhan schnippisch.

„Habe ich das richtig verstanden? Ihr habt Nôrden von Tolego herausgefordert?“ staunte Liu. „Und Ihr wundert Euch, warum die Tolegos sich vor Euch verneigen?“

Feren versuchte abzuwiegeln: „Was heißt da herausgefordert. Es gab keinen Kampf.“

„Herausgefordert heißt herausgefordert. Jeder hier kennt die Spielregeln“, sagte Zaydhan scharf. „Wach endlich auf, Feren-sonst-nichts, und nimm den Platz ein, der Dir gebührt!“

Feren fixierte die alte Frau. Wie kam es, dass sie so viel über ihn wusste? Was hatte sie überhaupt mit ihm zu schaffen? Er hatte sie noch nie gesehen. „Wieso könnt Ihr es wagen, so respektlos mit mir zu reden?“

„Weil ich Deinetwillen hier bin. Fürst Torren hat mich geschickt, um Deinen Sohn zu bewachen. Nachdem Du beschlossen hast, ihn ins Gildehaus mitzunehmen, werde ich wohl mitkommen. Nicht, dass es mir Freude macht, unter fremden Menschen zu leben, doch ich werde es tun“, erwiderte die alte Zaydhan barsch.

„Das ist nicht nötig“, erwiderte Feren kalt. „Ich kann jetzt selbst auf ihn aufpassen!“

Zaydhan ließ sich nicht abweisen: „Ich komme mit, ob es Dir passt oder nicht. Du bist nur ein Schatten Deiner selbst. Wie willst Du da jemanden schützen? An mir hingegen kommt selbst Barren nicht vorbei.“

Das Argument überzeugte Feren. Er fragte schon etwas freundlicher: „Mit wem habe ich das Vergnügen?“

„Ich bin Zaydhan, die zweite Dame von Fürst Torrens Haus und die mächtigste unter den Zauberinnen des Tolego-Clans. Den Leuten im Gildehaus stellst Du mich als Beors Urgroßmutter vor. Ich brauche einen akzeptablen Status, wenn ich schon in der Fremde leben muss.“

Feren musterte Zaydhan. Vielleicht war sie tatsächlich seine Großmutter. Mallens Mutter war sie jedenfalls nicht. Er entschied sich dagegen, sie zu fragen. „Ich will denken, dass Ihr Beors Urgroßmutter seid. Sonst wüsste ich nicht, warum ich eine fremde Frau in meiner Nähe akzeptieren soll.“

„Dann sind wir uns also einig. Nie wieder möchte ich von Dir hören, dass Dein Clan Dich im Stich lässt“, sagte Zaydhan mit erhobenem Zeigefinger. „Bringt die Sänfte. Oder meint ihr, ich gehe zu Fuß?“

Als sie im Gildehaus ankamen, erwartete Kayla sie schon. Sie hatte sich für den Empfang ihres Liebsten besonders hübsch zurechtgemacht. Mit einem strahlenden Lächeln und einer Menge guter Vorsätze im Kopf ging sie auf Feren zu. Sie wollte ihm beim Absteigen behilflich sein, doch Feren wies die ausgestreckte Hand zurück. Seine Begrüßung war eher kühl. Dann ging er zu der Sänfte, öffnete die Türe und half einer sehr alten Frau und einem kleinen Jungen heraus.

Kayla war überrascht, als sie Beor erkannte. Ihn hätte sie zu allerletzt erwartet.

Feren stellte die Ankömmlinge in aller Form vor. Beor machte eine höfliche Verbeugung vor Kayla. Der Junge verzog keine Miene, die verraten hätte, dass sie einander schon einmal begegnet waren.

Feren bedeutete Beor, dass er sich entfernen durfte, um nach seinen Freunden zu suchen. Hinter seines Vaters Rücken machte Beor im Gehen verschwörerisch das Zauberzeichen für Stillschweigen, das er von Kayla gelernt hatte.

Das Verhalten des Jungen nötigte Kayla einige Bewunderung ab. „Ein erstaunliches Kind, das Ihr da habt“, sagte sie zu Feren. „Warum erfahre ich erst jetzt davon?“

Feren zuckte die Schultern: „Es würde mich wundern, wenn Euer Vater nicht schon von meinem Sohn berichtet hätte. Wir sprachen über ihn…“

Kayla war enttäuscht, dass Feren ihr nicht mehr zu dem Thema zu sagen hatte. Tagelang hatte sie darüber nachgedacht, wie sie es ihm erleichtern könnte, mit ihr über seinen Sohn zu sprechen. Nun setzte er sie vor vollendete Tatsachen und brachte Beor einfach hierher. Sobald der Junge außer Hörweite war, schalt sie Feren: „Kürzlich habt Ihr gegenüber meinem Vater behauptet, dass ich die Euch zugehörige Frau bin. Diese Eigenmächtigkeit hat mich ziemlich erschreckt. Dass Ihr einen Sohn habt, verschweigt Ihr mir jedoch. Was soll ich davon halten?“

„Dass Ihr die mir zugehörige Frau seid, sagte ich, weil Euer Vater mich provozierte. Das bindet Euch in keiner Weise“, versicherte Feren. Er wusste um ihre Empfindlichkeit.

Kayla deutete Ferens defensive Antwort als schlechtes Gewissen. Sie legte noch ein wenig nach: „Bei allem, was Ihr tut, stellt Ihr mich vor vollendete Tatsachen. Warum sprecht Ihr nicht mit mir? Warum habt Ihr Geheimnisse? Gibt es noch weitere Kinder, die nun nach und nach auftauchen? Feren, ich bin über die Maßen enttäuscht von Eurem Verhalten!“

„Es gibt keine weiteren Kinder, und Beor müsst Ihr nicht fürchten“, versuchte Feren zu beschwichtigen. „Er ist keine Konkurrenz für Eure künftigen Kinder. Seine Mutter war nicht von Stand.“

„Darum geht es doch überhaupt nicht“, jammerte Kayla theatralisch. „Mich schmerzt der Vertrauensbruch!“

„Warum hätte ich Euch von meinem Sohn erzählen sollen?“ entgegnete Feren abweisend. „Ihr habt noch längst nicht entschieden, ob Ihr bei mir bleiben wollt. Solange das nicht klar ist, werde ich mich hüten, die Geheimnisse meines Lebens mit Euch zu teilen.“

So deutlich wollte Kayla das nicht gesagt bekommen. Es ärgerte sie, dass Feren ihre Unentschlossenheit nüchtern hinnahm, anstatt um ihre Gunst zu buhlen. „Ihr wollt mich aus Eurem Leben ausschließen?“ erwiderte sie aufgebracht. „Warum bringt Ihr dann Euer Kind hierher? Offenbar erwartet Ihr, dass ich mich darum kümmere. Ich wäre gerne vorher gefragt worden, ob ich dazu bereit bin.“

Nun wurde Feren wütend: „Ich erwarte nicht, dass Ihr Euch um Beor kümmert. Zaydhan von Tolego ist um seinetwillen mitgekommen!“ Mit einer zornigen Geste wies er auf Zaydhan, die geduldig neben der Sänfte stand und das Spektakel auf sich wirken ließ. „Mit meinem Jungen habt Ihr nichts, aber auch gar nichts zu schaffen!“

„Schon gut“, gab Kayla spitz zurück. „Dann wird er ein ungehobelter Bauer wie sein Vater!“

Kaylas Plan, vorsichtig Zutritt zu Ferens Leben zu gewinnen, war bereits im Ansatz gescheitert. Die alte Zaydhan lächelte süffisant: „Nachdem ihr beiden einig seid, dass ihr nichts voneinander wollt, können wir ja ins Haus gehen.“

Die Jäger

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