Читать книгу Die Jäger - Solveig Kern - Страница 7
Besuch bei Patron Greven
ОглавлениеMalfarins Fragen ließen Feren keine Ruhe. Sobald er es ohne fremde Hilfe schaffte, auf sein Pferd zu klettern, machte er sich auf den Weg zum Stadthaus der Tolegos, wo Greven und Segur nun wohnten.
Während das Gildehaus in der Nähe des Südosttores lag, das von Segurs ehemaligen Männern bewacht wurde, befand sich das Stadthaus der Tolegos mitten im Zentrum von Mandrilar, nahe der großen Arena. Zwischen den beiden Häusern lagen nur wenige Straßenzüge, doch keiner der Männer wäre auf die Idee gekommen, die Strecke zu Fuß zurückzulegen. Wenngleich die Sicherheitslage und die Sauberkeit der Stadt sich in letzter Zeit spürbar gebessert hatten, war es schlichtweg unschicklich, die eigenen Füße zu benutzen, wenn man ein Pferd besaß.
Feren wunderte sich, dass die Torwachen ihn durchwinkten – bis er sich erinnerte, dass er das Wappen der Tolegos an Zaumzeug und Waffengurt trug. Auf die Idee, dass ihn hier längst jeder kannte, wäre er niemals gekommen. Er ritt in den Innenhof ein. Schon eilten zwei Reitknechte herbei, sich um sein Pferd zu kümmern. Feren wollte mit Schwung aus dem Sattel springen, wie er es gewohnt war, doch nach der langen Bettlägerigkeit trugen seine Beine sein Gewicht nicht. Er taumelte und wäre zu Boden gestürzt, hätte sich nicht einer der Reitknechte vorausschauend hinter ihn gestellt. „Das klappt noch nicht, Meister Feren“, sagte der Mann mitfühlend.
Feren richtete sich auf und blendete die Schmerzen aus. Er danke dem Mann mit einem knappen Lächeln und fragte nach Greven. Der Reitknecht brachte ihn in einen vom Haupthaus abgetrennten Bereich, den Greven mit seiner Familie bewohnte. Dazu gehörten neben seiner Gattin und seiner Nebenfrau auch zwei fast erwachsene Töchter, seine verwitwete Schwiegertochter Merle sowie eine größere Anzahl von Kindern.
Greven selbst war noch nicht da, doch seine Gattin hieß Feren herzlich willkommen. Da sie Storks Stiefmutter war, musste Feren sich nicht mit ihrer Trauer auseinandersetzen. Man tauschte die üblichen Höflichkeiten aus. Als Feren Merle erblickte, ging er auf sie zu und begrüßte sie mit einer Verneigung. Sie hatten einander kaum gesehen, seit Merles Gatte sich vor einigen Jahren bei einem Reitunfall das Genick brach. Merle war jetzt Ende Zwanzig. Ihre sanftmütige Schönheit bezauberte Feren immer noch, doch er konnte Spuren von Trauer und Einsamkeit in Ihrem Gesicht erkennen. Ihr Los berührte ihn zutiefst. Wie konnte etwas so banales wie ein durchgegangenes Pferd dieser großen Liebe ein Ende setzen?
Die Dame des Hauses bot ihm Platz an und Feren rutschte mit auf die ohnedies schon dicht besetzte Bank. Ferens Sohn Beor hatte erfahren, dass sein Vater im Hause war, und drängte sich zu ihm durch. Mit ihm kam die alte Zauberin Zaydhan, die Feren aufmerksam beobachtete.
Speisen wurden aufgetragen, doch Feren lehnte ab. Nach Essen war ihm nicht zu Mute. Sie sprachen über das Leben in Mandrilar und über gemeinsame Freunde. Merle sagte zu Feren: „Ich möchte, dass Ihr es von mir selbst erfahrt: ich werde bald wieder heiraten.“
„Ich freue mich für Euch“, erwiderte Feren höflich. Merle bedeutete ihm viel. Sie hatte ihn nach der Schlacht der steinernen Särge gepflegt. Nach dem Tod ihres Mannes hatte er erwogen, Merle für sich zu gewinnen. Doch Feren konnte den Gedanken nicht ertragen, dass sie sich in seinen Armen nach dem verlorenen Liebsten sehnte. Er wollte nicht der Lückenbüßer sein. Darum hatte er sie nie gefragt. Nun würde sie bald einem anderen angehören. Im Herzen fühlte er einen leichten Stich, doch er ermahnte sich, dass es gut so wäre.
„Freut Ihr Euch immer noch, wenn Ihr erfahrt, dass mein zukünftiger Gatte Hanok heißt?“ fragte Merle ernst.
Diese Neuigkeit traf Feren wie ein Hammerschlag. Er schrie auf: „Das ist nicht Euer Ernst. Ihr wisst doch, was für ein Schwein Hanok ist!“
„Es war meine eigene Entscheidung“, wies Merle ihn sanft zurecht. Sie erzählte, dass Torren Hanok die Vermählung mit einer Dame aus seiner Sippe angetragen hatte, um ein wenig Einfluss in Passar zu wahren. Hanok war sofort einverstanden gewesen. Für ihn war die Einheirat in den Tolego-Clan äußerst attraktiv. „Alle unvermählten Damen von Stand buhlten um Hanoks Gunst. Ich war die Ranghöchste, also hat er mich erwählt!“ erzählte Merle lachend.
Feren war außer sich: „Er nahm einfach die Ranghöchste? Das soll für ein gemeinsames Leben ausreichen? Er wird Euch betrügen, hintergehen, demütigen … wie all die anderen vor Euch. In Hanok ist keine Liebe. Ihr habt einen verdient, der Euch liebt. Einen wie jenen, der allzu früh von Euch ging.“
„Ihr seid nicht gerecht“ tadelte Merle. „Ich spreche nicht von Liebe. Was ich verlor, kann mir keiner zurückbringen. Doch seht es aus meiner Warte. Fünf Jahre bin ich nun Wittfrau. Ich habe fast vergessen, wie sich Musik anfühlt, Tanz, Wind in meinen Haaren. Greven und die Seinen haben getan, was sie konnten, um meinen Schmerz zu lindern, doch die letzten zwei Jahre in Tolego waren ein Alptraum für uns alle. Ich will mein eigenes Haus, meine gesellschaftliche Rolle, einen Platz am festlich gedeckten Tisch des Königs. Ich will wieder leben! Ist das so schwer für Euch zu verstehen?“
Ferens Verstand konnte ihre Überlegungen nachvollziehen, doch sein Herz rebellierte dagegen. Vor seinem inneren Auge tanzten die Bilder einen wüsten Reigen. Er sah Merle, wie sie sich mitfühlend über ihn beugte, als er verwundet daniederlag, sah ihr Lachen, ihre unbekümmerte Schönheit. Sonne glänzte in ihrem Haar und sie tanzte. Dann tauchte Hanok auf und riss sie an sich. In seinen Armen brach sie wie eine Blume und welkte dahin. Diese Vorstellung konnte Feren kaum ertragen. Er senkte den Blick, um sich zu sammeln. Mühsam versuchte er, seine Gefühle hinter der undurchdringlichen Auster zu verbergen, doch es wollte ihm nicht recht gelingen. Schließlich sagte er: „Verzeiht mir, edle Frau. Das war dumm und selbstsüchtig von mir. Möget Ihr so glücklich werden, wie es unter den bestehenden Umständen für Euch möglich ist.“
Zu seiner Erleichterung kam gleich darauf Greven: „Ich habe schon gehört, dass Du mich sprechen möchtest, Feren. Geh bitte voraus in den kleinen Meditationsraum unterm Dach, dort sind wir ungestört.“
Feren hatte Mühe, die zwei Treppen bis unters Dach hochzusteigen. Spätestens jetzt musste er sich eingestehen, dass er sein Krankenlager viel zu früh verlassen hatte. Das Gespräch mit Merle war ihm unter die Haut gegangen. Ihm fehlte jetzt schon die Kraft, die er für die Unterredung mit Greven brauchen würde. Nun blieb ihm nichts anderes übrig, als sich zusammenzureißen. Er war froh um den kleinen Zeitvorsprung, den er nutzte, um seinen Atem und Pulsschlag zu kontrollieren.
Greven betrat den Raum und fragte ohne Umschweife: „Worüber möchtest Du mit mir sprechen?“
„Über Storks Tod“, erwiderte Feren genauso direkt.
„Das gestatte ich Dir nicht. Als Stork starb, war ich an seiner Seite. Darüber musst Du mir nichts erzählen. Sprich lieber über sein Leben – über Eure gemeinsame Zeit als Ithryn des Königs!“
Sie setzten sich einander gegenüber auf die Matten und Feren erzählte. Er war selbst überrascht, wie viele nette Begebenheiten ihm einfielen aus den wenigen Monden, die sie gemeinsam verbracht hatten. Er zeichnete das Bild eines offenen, selbstbewussten jungen Mannes, der mit seinem Optimismus und seiner Fröhlichkeit die Kameraden für sich gewann. Greven konnte erkennen, wie sehr Feren Stork geschätzt hatte, und wie schmerzlich er ihn vermisste.
Schließlich kam Feren zu den Ereignissen im Tunnel. Das letzte, was er von Stork erinnerte, war, dass er ihn um mehr Licht gebeten hatte. Dann wurde er von den Beinen gerissen. Er hielt in der Erzählung inne, denn es war ihm, als spürte er nochmals das Gewicht des Daughû auf seiner Brust, roch nochmals dessen stinkenden, vergifteten Atem.
Greven ließ nicht zu, dass Feren sich weiter quälte. „Es erfüllt mich mit Stolz, wie sehr Du meinen Sohn geschätzt hast. Ich habe gar nicht mitbekommen, wie gut er sich entwickelt hat. Doch auch Du hast da unten einen guten Job gemacht.“
„Nicht gut genug, sonst wäre Stork noch am Leben.“ >Warum ausgerechtet Stork? < fragte Feren sich wahrscheinlich zum hundertsten Male.
„Deine Wunde heilt nicht“, konstatierte Greven. Das meinte er im übertragenen Sinne. Greven wusste, dass Feren seit Jahren über seiner Verantwortung für Furins Tod brütete. Jetzt gab ihm das Schicksal auch noch die Chance, sich für Storks Tod schuldig zu fühlen. Diesem Muster wollte Greven keinen Vorschub leisten. Er trauerte um seinen Sohn, doch niemals hätte er Feren dafür verantwortlich gemacht. Er wusste um die Risiken des Auftrags, den Palast gegen Barren zu sichern, und dass Feren mit größter Umsicht vorgegangen war. Stork war stolz darauf gewesen, mit Feren arbeiten zu dürfen, und Greven hatte seine Freude geteilt. Die Sorge und den Schmerz trug er allein.
„Er tat mir gut, so viel Positives über Stork zu hören. Nun weiß ich, dass er in der Erinnerung seiner Kameraden weiterlebt“, schloss Greven das Thema ab. „Doch das ist gewiss nicht das einzige, worüber wir sprechen sollten. Es geht auch um uns beide. Womit möchtest Du beginnen?“
Feren schüttelte den Kopf: „Im Angesicht von Storks Tod hat nichts anderes mehr Gewicht.“
„Das lasse ich nicht gelten“, widersprach Greven energisch. „Was ist mit Hanok? Hast Du mir etwa verziehen, dass ich Beor und nicht Dich losschickte, um den Fememord an seinem Sattelgefährten zu vollstrecken?“
„Ich habe eingesehen, dass mein Einsatz ein Risiko gewesen wäre.“ Feren berichtete Greven über seinen Zusammenstoß mit Hanok in Alicando und über das Versprechen, das Mauro ihnen beiden abgenommen hatte.
„Ich glaube Dir kein Wort“, sagte Greven. „Eben bist Du ausgerastet, als Du von Merles geplanter Hochzeit hörtest. Willst Du mir erzählen, Hanok wäre nicht länger Dein Feind?“
„Er ist gewiss nicht mein Freund“, verwahrte sich Feren. „Meine Macht reicht noch nicht aus, ihn Auge in Auge herauszufordern. Eines Tages werde ich ihm gewachsen sein, doch dann liegen die Kämpfe der Vergangenheit hinter mir.“ So hatte er in Alicando zu Eryndîr gesprochen, und davon war er nach wie vor überzeugt. Das Grauen des Dämons aus der anderen Welt, den er damals gesehen hatte, verdüsterte kurz seinen Blick.
Greven missdeutete den Schatten, der über Ferens Gesicht zog. „Das heißt also, Du holst Dir seinen Kopf erst später“, konstatierte er.
Nun waren sie bei Malfarins Thema angelangt. Feren stieg auf Grevens Unterstellung ein: „Wie ich mir die Köpfe aller anderen geholt habe, mit denen ich eine offene Rechnung hatte. So denkt Ihr doch, oder?“ fragte er scharf.
„Hast Du das etwa nicht getan?“ erwiderte Greven ebenso scharf. Nun kamen sie langsam zum Punkt. „Du glaubst doch nicht, dass Du mich täuschen konntest? Ich weiß wohl, dass der Tod Deines Stiefvaters kein Unfall war. Und das war wahrlich nicht die einzige Eigenmächtigkeit, die Du Dir zu Schulden kommen ließest.“
„Nein, da waren noch weitere…“ Feren nannte die Namen, die Malfarin erwähnt hatte. Grevens Reaktion ließ nur einen Schluss zu: er hatte davon gehört. Aber hatte er Beor auch geglaubt? Feren testete weiter: „Aufgrund dieser Regelverstöße hat Beor gegen mich einen Bann gefordert. Er fürchtete um sein Leben.“
Greven reagierte zornig: „Beor hatte allen Grund, Dich zu fürchten. Es war nur eine Frage der Zeit, bis Du ihn zur Rechenschaft ziehst. Nach der Sache mit Hanoks Gefährten warst Du völlig außer Kontrolle geraten. Du hast keine Provokation ausgelassen.“
Diese Aussage traf Feren hart. Greven hatte Beors Lügen also geglaubt. Das hieß, dass auch der Rest von Malfarins Behauptungen richtig sein musste: „Es wäre Eure Pflicht gewesen, mich aus dem Verkehr zu ziehen. Ein Vollstrecker, der ohne Befehl mordet, ist eine Gefahr für das Netzwerk und muss umgehend exekutiert werden. Trotzdem lebe ich noch. Ihr wart wohl nicht berechtigt, Torrens Enkel ohne seine Zustimmung zu töten?“
Greven explodierte: „Torren gab mir freie Hand, und es war meine Entscheidung, es nicht zu tun. Als wir uns zuletzt in Amrun begegnet sind – während der Flut, als Deine Gefährtin starb – hätte ich Dich mühelos hinrichten können. Du hättest Dich nicht einmal gewehrt. Doch ich sah keinen Nutzen darin.“
Feren hörte genau auf Grevens Wortwahl und fand Malfarins Andeutungen bestätigt. Greven sah genügend gute Gründe, um einen Bann gegen Feren zu sprechen. Fürst Torren gab ihm allerdings erst freie Hand, nachdem Mauro König geworden war und das Netzwerk offen für den neuen Herrscher Stellung bezogen hatte. Als sie einander in Amrun begegnet waren, gab es für Greven keinen Grund mehr, auf dem Bann zu bestehen.
Nun musste Feren noch die Richtigkeit seiner Schlussfolgerungen testen. „Warum ließ Fürst Torren mich am Ende fallen?“ fragte er.
Greven war viel zu wütend, um mit der Antwort vorsichtig zu sein: „Dafür hast Du selbst gesorgt – durch Deine schwachsinnige Idee, Dich an Warden von Tolego zu wenden. Damit wurdest Du zu einer Gefahr für den Clan. Zu Deinem Glück wusste Warden nicht, wer Du bist und sah nur, was Du ihm zeigtest. Er gab Dir eine vernichtende Beurteilung. Fürst Torren legte daraufhin Dein weiteres Schicksal in meine Hände. Feren! Ich – habe – keinen – Bann – über – Dich – gesprochen! Hätte ich es getan, wärest Du längst tot.“
Feren brauchte ein Weilchen, um die neuen Erkenntnisse zu verdauen. Nun hatte er die Bestätigung, dass Fürst Torren ihn all die Jahre beobachtet und dass er ihn am Ende fallen gelassen hatte. Der Gedanke, bloß eine Figur im Brettspiel der Mächtigen gewesen zu sein, ließ ihn schaudern.
Greven missdeutete Ferens Schweigen: „Du glaubst mir nicht. Muss ich jetzt um mein Leben fürchten? Soll ich ständig auf der Hut vor Dir sein, wie es Beor zuletzt war?“ Greven hatte genügend Respekt vor Feren, um zu wissen, dass er ihm auf die Dauer nicht entkommen würde. Wenn Feren mit ihm eine Rechnung offen hatte, musste einer von ihnen beiden sterben. Davon war er überzeugt.
Grevens Unterstellung verletzte Feren zutiefst. „Das gegenseitige Misstrauen zerfrisst uns wie ein Krebsgeschwür. Im Gleichgewicht der Schrecken kann jeder jedem alles nehmen. Wie krank war ich damals, dass ich so leben konnte?“ fragte er angewidert. „Das will ich nicht mehr.“
„Dann schließen wir es ab – jetzt, heute und hier“, drängte Greven. „Auf beiden Seiten gibt es Dinge, die vergeben werden müssen. Lass uns ein Vergebungsritual vollziehen und die Sache auf alle Zeit begraben!“
Feren überlegte nicht lange. Die Spiele der Vergangenheit ekelten ihn an. Es war höchste Zeit für einen Schluss-Strich. „Es soll ein Ende haben – jetzt, heute und hier. In Eurer Welt will ich nicht länger leben. Ich entscheide mich für Mauros Welt, wo Vertrauen möglich ist!“ sagte er entschlossen.
„Gut“, sagte Greven und erläuterte die Regeln: „Sprich alles aus, wofür Du Dich mir gegenüber schuldig fühlst, was Du mir vorwirfst und was Du Dir selbst vergeben musst. Eines nach dem anderen – keine Rechtfertigungen, keine Erklärungen. Wir schließen mit einem Blutopfer. Furuk sei unser Zeuge.“
Feren fing an, alles auszusprechen, wofür er sich schuldig fühlte. Gnadenlos ging er mit seinen Irrtümern, Verfehlungen und Grenzüberschreitungen ins Gericht. In seinen Phasen des Zorns und der sinnlosen Rachgier hatte er einiges an Schuld angesammelt. Er schloss mit seiner Verantwortung für Storks Tod, die vor allem darin bestand, ihrer beider Schicksale verbunden zu haben.
Ähnlich kompromisslos, wie er mit seiner eigenen Schuld umgegangen war, konfrontierte Feren den Patron. Er sprach alles aus, wodurch er sich verletzt oder gedemütigt gefühlt hatte. Am Anfang war es mühsam und qualvoll, durch all die gemeinsamen Stationen des Lebens nochmals durchzugehen, all die Enttäuschungen und den Schmerz noch einmal zu erleben. Allmählich jedoch wurde es leichter. Die Zeit war reif, den Ballast loszuwerden.
Feren rechnete schonungslos und frei von Selbstmitleid mit seiner Vergangenheit ab. Er hielt sich an die Regeln und verzichtete völlig auf persönliche Angriffe und Polemik. Teilweise vermittelten seine Worte den Eindruck, als hätte er bereits Distanz zu den Ereignissen. Dann kamen wieder Passagen, wo seine Stimme belegt und heiser klang und wo er Mühe hatte, weiterzusprechen.
Der Part, wo er sich selbst vergeben musste, verlangte Feren noch einmal alles ab. Dann war er durch. Er kniete vor der bereitgestellten Schale hin, sprach die Bekräftigungsformel und rief Furuk zum Zeugen für die Ernsthaftigkeit seines Ansinnens. Dann ritzte er mit dem Messer die Hand und ließ Blut in die Schale laufen. Mit jedem Tropfen fühlte er sich leichter.
Nun ging Greven durch seinen kompletten Part. Da war wenig, was er sich selbst vorzuwerfen hatte. Der Patron war längst mit seiner Vergangenheit ins Reine gekommen. Allerdings gab es eine ganze Menge, was ihm an Feren missfiel. Feren musste erkennen, dass es auf der anderen Seite auch Ärger und Enttäuschung gegeben hatte. Dass manche Dinge aus Grevens Sicht ganz anders ausgesehen hatten. Und dass vieles, was sich zum Schluss angestaut hatte, durch ein frühzeitiges Gespräch hätte vermieden werden können.
Während Greven sprach, erkannte Feren das Ungleichgewicht in ihrer Beziehung. Greven war für ihn der Ersatzvater gewesen, dem er lange bedingungslos vertraute. Deshalb tat er sich so schwer, mit Enttäuschungen umzugehen. Feren hingegen war für den Patron einer von mehreren schwierigen jungen Männern, die er im Laufe seines Lebens begleitet und an ihre Aufgabe für das Netzwerk herangeführt hatte. Greven mochte Feren, doch er war für ihn nie etwas Besonders gewesen. In der Auflösung dieses Ungleichgewichts lag der Schlüssel für die Aussöhnung.
Feren rang mit sich. War er tatsächlich bereit, Greven zu vergeben? Die Kränkung und der Schmerz, den er empfand, beruhten auf der Fiktion eines Vertrauensverhältnisses, das nie existiert hatte. Wenn er die Vergangenheit abschließen wollte, musste er sein Bild von Greven zurechtrücken, musste die Sehnsucht nach einer überlegenen Vaterfigur loslassen und den anderen als Mensch mit Stärken und Schwächen akzeptieren. Das nannte man >erwachsen werden<.
Feren löste sich aus seinem Körper und betrachtete ihre Beziehung aus einer höheren Warte. In diesem Zustand reinen Bewusstseins konnte er sich nichts vormachen. Er sah seine eigenen Irrtümer genauso ungeschminkt wie Grevens Ängste und Sorgen. Da war viel Misstrauen und Schmerz, aber auch Respekt für den durch das Schicksal gereiften Meister.
Greven ritzte seine Hand und ließ sein Blut in die Schale tropfen. Dann sah er Feren prüfend an. War dieser in der Lage, den nächsten Schritt zu tun?
Feren war bereit, sich der Ent-Täuschung zu stellen. Er gab sich einen Ruck und streckte Greven über die Opferschale hinweg die Hand zur Versöhnung entgegen. In der Bewegung hatte er die Empfindung, als wäre in seinem wunden Rücken eine Eiterbeule aufgeplatzt. Der stechende Schmerz, der ihn seit Tagen begleitete, war schlagartig weg. Er fühlte eine klebrige Feuchtigkeit auf der Haut. Ein überwältigendes Gefühl der Erleichterung folgte.
„Ich bin froh, dass wir diese Dinge ausgesprochen haben“, sagte Greven und ergriff die hingestreckte Hand. „So manches, was Du gesagt hast, war mir nicht bewusst. Zu einigen Punkten würde ich gerne etwas sagen. Vielleicht hast Du ja noch Fragen…“
„Keine Fragen und keine Rechtfertigungen“, sagte Feren entschieden. „Es ist vorbei.“ Zum Schluss fügte er hinzu: „Ich möchte, dass Ihr mich nicht länger duzt.“
„Selbstverständlich“, sagte Greven. In Anbetracht der Umstände war diese Forderung nur konsequent. Die kompromisslose Entschlossenheit, wie Feren mit der Vergangenheit aufräumte, machte Greven dennoch misstrauisch. Da er Ferens Entwicklung in den vergangenen Monden nicht miterlebt hatte, wusste er dessen Verhalten nicht einzuordnen. „Mir geht das alles zu reibungslos. Ich kann nicht recht glauben, dass Ihr das alles mit einem Schlag hinter Euch lasst. Gebt mir ein Zeichen, dass Ihr es ernst meint. Senkt Euren Schutzschild ab“, verlangte er.
Feren stellte erstaunt fest, dass Grevens Misstrauen und Zweifel ihn nicht mehr verletzten. Dennoch ließ er sich Zeit und erwog nüchtern die Risiken. Schließlich zog er langsam seinen energetischen Schutzschild zurück.
Greven spürte die tastende Wachsamkeit, mit der der andere ihn im Auge behielt. Längst wusste er, dass Feren ihm nicht mehr vertraute. Trotzdem war dieser bereit, auf Schutz zu verzichten. Trotzdem zeigte Feren sich in seiner ganzen Verletzlichkeit. Erst jetzt konnte Greven erkennen, in welch erbärmlichen Gesundheitszustand Feren sich befand und wie erschöpft er tatsächlich war. Da wurde ihm klar, dass Feren viel stärker geworden war, als er es jemals erwartet hätte. Zum ersten Mal sah er den Jäger in ihm.
„Ich habe Euch unterschätzt“, sagte Greven anerkennend. „Ihr seid weiter, als ich dachte. Ihr könnt tatsächlich einen Schluss-Strich ziehen.“
„Der Feren, den Ihr kanntet, wäre dazu nicht in der Lage gewesen“, bestätigte Feren. „Der, der ich jetzt bin, kann es tun.“
„Ihr habt Beor überflügelt. Das hatte ich nicht erwartet“, bekannte Greven. Dann fügte er wie beiläufig hinzu: „Wann erzählte er Euch die Sache mit dem Bann?“ Irgendetwas kam ihm im Nachhinein merkwürdig vor.
„Beor hat mir überhaupt nichts erzählt. Sein Vater äußerte ein paar Vermutungen. Alles andere habe ich soeben von Euch erfahren.“ Feren lachte trocken: „Goswin von Malfar wollte herausfinden, was ich weiß. Ich habe Euch gefragt, was ich wissen sollte.“
„Ich bin ein verdammter Narr“, ärgerte sich Greven. Über Fürst Torrens Rolle hätte er niemals sprechen dürfen. „Was wollte Malfarin denn herausfinden?“
„Warum ich in Orod Ithryn war – alle anderen Tolegos gingen auf die Zauberschule in Mandrilar oder die Tempelschule in Knyssar. Warum Fürst Torren mir nie das Recht einräumte, seinen Namen zu tragen. Warum er einen seiner vielversprechendsten Nachwuchszauberer an die äußerste Westgrenze verbannte, statt mich in Tolego auszubilden. Warum Patron Greven trotz Beors dringender Warnungen und meiner offensichtlichen Verfehlungen den Bann gegen mich nicht vollstrecken durfte….“
Greven sah Feren ernst an: „Es gibt Antworten auf diese Fragen, doch die bekommt Ihr nicht von mir. Geht zu Fürst Torren. Er wartet darauf, dass Ihr ihn endlich fragt!“
„Ich will die Antworten nicht“, entgegnete Feren ruhig. „Ich will nicht wissen, wer mich wann wozu benutzen wollte und aus welchen Gründen ich am Ende für alle wertlos war. Ich will überhaupt nicht mehr benutzt werden. Sobald ich hier fortgehe, bin ich mein eigener Herr – nur mir selbst und meinem König verpflichtet. Jetzt lasst mich bitte allein.“
Greven nickte. Nach allem, was er gehört hatte, konnte er Feren verstehen. Mit einem besorgten Blick verließ er den Raum. Er sah die Spuren der eiternden Wunde auf Ferens schwarzem Hemd, doch er wusste, dass Feren von ihm keine Hilfe annehmen würde.
Feren sah ihm nach. >Verständnis und Verzeihen. Keine Gefolgschaft. Ihr habt keine Macht mehr über mich.<
Als Greven gegangen war, trat Feren ans Fenster. Von seinem Standort konnte man bis in die Arena sehen, doch er sah blicklos darüber hinweg. In Gedanken ging er noch einmal der Reihe nach durch die Ereignisse der letzten Zeit. Er tauchte ab in den Pool seiner Ängste und fühlte, was sie mit ihm taten. Wie die Sehnsucht nach Zuwendung und Anerkennung ihn zu Grevens willfährigem Werkzeug machte. Wie die Angst zu versagen ihn in Situationen brachte, in denen er fast zwangsläufig versagte. Wie ihn die Sorge um seinen Sohn daran hinderte, Nähe zu ihm aufzubauen. Wie seine Neigung, sich zu viel aufzuladen, an seinen Kräften zehrte. Wie seine Schuldgefühle seine Lebenslust auffraßen. Wie er seine Freunde mit dem Anspruch, alles alleine zu machen, frustrierte. Wie viel leichter hätte sein Leben sein können, wenn es ihm öfters gelungen wäre, die angebotene Hilfe zuzulassen. Sich an schönen Dingen zu erfreuen, die ihm gut taten, statt sie angstvoll von sich fortzuweisen. Er hätte die letzten Wochen mit Kayla genießen oder mit seinem Sohn verbringen sollen, statt sich mit Grübeln und Schuldgefühlen herumzuschlagen, die seine Heilung behinderten. Er erinnerte sich an Segurs Worte über das Loslassen. Da war vieles, das er loslassen sollte, ja loslassen musste, wenn er überleben wollte.
Es galt, Abschied zu nehmen. Von Selbsttäuschung, falsch verstandener Loyalität und scheinbaren Verpflichtungen. Von Stork. Von Furin.
Ein Blatt fesselte seine Aufmerksamkeit, das der Wind auf sein Fensterbrett trug. Er nahm es auf und sprach ein stilles Gebet für die Seelen der toten Freunde. Dann ließ er das Blatt behutsam weitersegeln. Er machte sich frei vom Gefühl der Schuld, das ihn all die Jahre begleitet hatte. Ließ die Last der Verantwortung von seinen Schultern gleiten, die er sich selbst auferlegt hatte. Löste sich aus alten Bindungen, die nur noch Ballast waren. Seine Augen folgten dem Blatt, das vom Luftzug erfasst und umhergewirbelt wurde, bis es schließlich seinem Blickfeld entschwand.
Feren, die Katze, war frei.
Mit einem Male schien alles leichter. Er konnte die Stadt zu seinen Füßen sehen und den feuchten Moder der Herbstluft riechen. Er spürte die tief stehende Sonne auf seiner Haut, den leichten Wind, den Atem in seinen Lungen. Er hörte das Krächzen der Krähen, die zu den abgeernteten Feldern zogen. Das Gefühl für den eigenen Körper kehrte zurück. Bewusst empfand er Müdigkeit und Schmerzen, die ihn schon lange begleiteten. Sie erinnerten ihn daran, dass er noch am Leben war. Er richtete den Blick nach vorne. Was ihm vor kurzen noch als unüberwindbarer Berg erschienen war, schrumpfte zu einem kleinen Hügel zusammen.
Frei wofür?
Das würde sich weisen. Auf einmal erschien es ihm möglich, auf die Sinnhaftigkeit des Schicksals zu vertrauen. Die Talsohle war durchschritten. Feren atmete tief und bewusst. Jetzt gab es nur noch eines, was zählte: Leben.
Einige Zeit später kam Segur mit Beor zur Türe herein. Er brachte Kissen und Decken. Greven hatte über seine Unterredung mit Feren berichtet und Segur gebeten, dem Freund zur Seite zu stehen. „Heute gehst Du nirgends mehr hin.“ Segur half, Feren so zu betten, dass er nach dessen Wunde sehen konnte.
Beor schlüpfte zu Feren unter die Decke und überzeugte sich, dass sein Vater am Leben war. Feren legte begütigend den Arm um seinen Sohn.
Sedh kam mit einem gefüllten Tablett: „Ich habe gehört, dass der Tag ein wenig anstrengend für Dich war. Wahrscheinlich hast Du wieder nichts gegessen!“
„Danke, Sedh!“ Tränen der Rührung schossen in Ferens Augen. Gehorsam nahm er von den gerollten Weinblättern und begann zu essen. „In Orod Ithryn hast Du der Lehrmeisterin versprochen, künftig auf mich aufzupassen, nachdem ich mich beinahe zu Tode gehungert hatte. Ich danke Dir dafür, dass Du es immer noch tust.“
„Sie wusste schon, weshalb sie mich auswählte“, brummte Sedh verlegen. „Ich war der Junge, der Dir am schlimmsten zusetzte. Hinterher sind wir fast Freunde geworden.“
„Fast“, lächelte Feren. Sedh hatte den kleineren Feren nie für voll genommen, doch er behielt ihn ständig an seiner Seite. Mit Sedh als Beschützer und eingebettet in Beors Clique überstand Feren die Jahre nach Mauros Fortgang aus Orod Ithryn.
„Ich trainiere noch ein wenig mit Meister Greven. Wenn Du willst, nehme ich Dich hinterher mit zurück ins Gildehaus. Schläfst Du hier, holt Liu Dich morgen ab.“ Sedh zog sich zurück.
Segur schubste den kleinen Beor zur Seite und rückte näher an Feren, um ihm Energie zu übertragen. „Was wirst Du jetzt tun?“ fragte er bang. Er hatte bereits gehört, dass die Unterredung zwischen Feren und Greven zu keiner Annäherung geführt hatte.
„Es ist an der Zeit, dass ich mich selbst um meinen Sohn kümmere. Sobald es mir ein wenig besser geht, nehme ich Beor an der Hand und kehre dem allen hier den Rücken“, erwiderte Feren.
Das hatte Segur befürchtet. „Wirf nicht alles weg“, sagte er. „Denk an unsere Freundschaft, an die schlimmen Zeiten, die wir gemeinsam durchgestanden haben!“
Feren lehnte den Kopf an Segurs Schulter und fühlte dessen wohltuende Unterstützung. Schließlich sagte er: „Ich schätze mich glücklich, Freunde wie Dich und Sedh zu haben. Mit eurer Hilfe schaffe ich den Neubeginn. Ich will wieder vertrauen. Du hast es immer wieder angemahnt, darum möchte ich bei Dir den Anfang machen.“ Schließlich sagte er leise: „Da ist etwas, was Du von mir selbst erfahren solltest. Ich habe den Fememord an Hanoks Gefährten nicht vollstreckt. Der Patron schickte einen anderen…“
Segur sah Ferens Sohn streng an: „Das ist nichts für Deine Ohren. Jetzt gehst Du besser…“
Der kleine Beor dachte gar nicht daran. Er duckte sich weg und schüttelte trotzig den Kopf.
Segur sah ein, dass es sinnlos war, Beor fortzuschicken. Er wandte sich wieder Feren zu und schloss seine Arme fester um ihn. Über die Berührung teilte sich ihm mit, wie erschöpft der Freund war. „Ich hörte es bereits. Eigentlich hätte ich es schon damals wissen müssen. Es wäre gegen jegliche Regel gewesen. Du hättest meine Hilfe gebraucht, um über Deinen Zorn und Deinen Schmerz hinwegzukommen. Ich habe den einfacheren Weg gewählt. Ich wollte, dass es endgültig vorüber ist. Du warst völlig durchgedreht und ich dachte bloß, Dir wäre der Erfolg zu Kopf gestiegen. Es hätte Dich beinahe umgebracht. Verzeih mir, Feren. Auch ich habe Dich im Stich gelassen.“
„Erst jetzt ist es endgültig vorbei“, sagte Feren und ließ sich tiefer in Segurs fürsorgliche Wärme einsinken. „Ich möchte schlafen!“