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DER WASSERGEIST #HILFERUF

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Niemand weiß, wie groß das Ungeheuer ist, das ich gleich aus dem dunklen Wasser hervorlocken werde. Keiner hat es bislang zu Gesicht bekommen. Unzählige Schaulustige bevölkern deswegen das Ufer. Und hinter jedem der Elfen, Gnome und Tierwesen steckt ein eingeloggter Spieler irgendwo auf der Welt. Mittlerweile spielen alle Exploria. Chinesen im Großraumbüro. Norweger im Blockhaus. Vielleicht sogar Forscherinnen tief in der Antarktis, wenn gerade mal kein Eisbohrkern zu untersuchen ist.


Alle wollen sie sehen, was gleich passiert, wenn ich in die magische Muschel blase. Sie ist das einzige Objekt, mit dem sich das mächtigste aller Wassermonster aus dem Teich der Tausend Tode an die Oberfläche holen lässt.

Um die Muschel zu bekommen, war ich fast achtzig Spielstunden unterwegs. Der Weg führte mich durch Höhlen, in denen das Echo in den Ohren schmerzte, und durch Sümpfe, deren fauligen Gestank ich förmlich riechen konnte. Vielfach starb ich auf der Suche. Ich will sehen, ob es sich gelohnt hat.


Ich hebe die Muschel an meine Lippen. Mein Assistent Samra öffnet das Waffenmenü und lässt die Objekte kreisen. Bazooka, Harpune, Granatwerfer − er kann sich nicht entscheiden.

„Wie kann es sein, dass du noch nicht so weit bist?“, meckere ich. „Du bist ein NPC! Du wirst vom Computer gespielt!“

„Keine Diskriminierung der künstlichen Intelligenz“, antwortet Samra.

Früher habe ich die riesige Welt von Exploria mit Wirrbart erforscht. Bis ich herausfand, dass meine eigene Lehrerin diesen genialen Magier spielte. Deshalb lasse ich mich auf keinen menschlichen Begleiter mehr ein. Die Computerfiguren sind allerdings seit einigen Wochen so schlagfertig, dass man sich denken könnte, es steckten ebenfalls echte Menschen dahinter, also Angestellte des Entwicklerstudios. Aber dann müssten ja Hunderttausende an den Headsets hocken. Kann also nicht sein.

Samra zögert weiter die Wahl seiner Waffe hinaus. Wer so sehr trödelt, hat dafür Gründe. Mir kommt ein Verdacht.

„Sag mal …“, frage ich ihn, „hast du etwa Schiss?“


Also hat er. Unglaublich. Nicht nur, dass die NPCs mittlerweile reden wie Menschen. Die Entwickler haben ihnen sogar Ängste verpasst. Als Upgrade sozusagen.

Verstehen kann ich es ja. Die Gerüchte über das Wassermonster aus dem Teich der Tausend Tode sind Furcht einflößend. Wer es besiegt, sagt man, erhält so viele Erfahrungspunkte, wie man sie sich sonst nur in einem Jahr erspielen könnte. Wer aber unterliegt, dessen Character wird fast bis auf die Werkseinstellung zurückgeworfen. Zudem verschwindet er in dem Wesen und muss sich mühselig wieder aus ihm herauskämpfen.


Den Weg aus dem Ungeheuer heraus zu finden − wer weiß, wie lange das allein dauert. Seine Figur wieder auf das Level von vorher zu bringen? Das kostet einen garantiert Monate.

Dieses Magen-Level soll das zäheste, dunkelste und mühseligste sein, das je programmiert wurde. Wenn’s denn existiert. Den Verlust so vieler Punkte kann ich mir nicht erlauben. Ich habe mir einen Status erarbeitet, um den die meisten Spieler rund um die Welt mich beneiden. Da ich einer der Ersten war, die Exploria gespielt haben, gehöre ich zu den fünfzig besten Spielern weltweit. Gestern stand ich auf Platz 47. Ende vergangener Woche sogar auf Platz 39. Alle kennen meine Figur Modi.


Meine Prominenz ist auch der Grund, wieso so viele Spieler am Uferrand stehen. Unter den Schaulustigen ist gerade auch Gaia Girl aufgetaucht. Sie würde ich selbst dann noch erkennen, wenn sie mitten in einer Schlacht stünde, umhüllt von aufgewirbeltem Staub.

Emma steckt hinter der Figur. Auf ihrem Kanal Emmas Eyecatcher hat sie ein Video daraus gemacht, wie sie sich bei Exploria anmeldet und Gaia Girl gestaltet. Allein für das glitzernde Grün der Haare nahm sie sich zehn Minuten Zeit.


Ich blase in die Muschel. Samra jammert. Das Wasser beginnt zu blubbern. Die Musik schwillt an. Dunkle Trommeln. Finstere Hörner. Dampf steigt auf. Der Teich der Tausend Tode blubbert nicht bloß − er kocht! Die Zuschauer am Ufer raunen. Samra wird bleich. Als Computerfigur! Die Designer denken an alles. Sicher, auch woanders schauspielern die digitalen Gesichter mittlerweile herausragend. Manchmal sogar viel besser, als es echte Darsteller können. Aber das hier, das wirkt irgendwie … spontaner.

Es bildet sich ein Strudel. An seinem Rand zischt es, denn während das Wasser in der Mitte kocht, gefriert es außen. Harte Tropfen steigen auf wie glitzernde Gewehrkugeln. Als ob die drei Monde über uns eine stärkere Gravitation ausüben als der Planet.

Samra ruft: „Schild!“

Er wirft sich vor mich. Einige der glitzernden Gewehrkugeln aus Eis treffen ihn, noch bevor er sich mit einem Schutz aus dem Holz der Weißeiche ausrüsten kann. Verlorene Hitpoints purzeln über den Bildschirm. Ich ducke mich. Nun prasselt das gefrorene Wasser auf das Holz ein, das härter ist als die meisten Metalle im Spiel. Der Klang ist mal wieder unglaublich. Der Norweger in seiner Hütte muss denken, sie würde tatsächlich von außen beschossen.

Der Angriff mit den Eisgeschossen endet. Die Musik bremst ab. Weniger Trommeln, mehr Streicher. Aus dem Auge des Strudels erhebt sich eine Plattform. Rauschend fließt das Wasser von den Rändern ab.


Auf der großen Plattform steht ein winziges schwarzes Gespenst. Seine Gestalt leuchtet in dem tiefsten Schwarz, das ein Monitor jemals dargestellt hat. Aus der Finsternis heraus fixieren uns zwei grelle, pupillenlose Augen.

Einen Augenblick lang geschieht gar nichts, dann beginnt der nasse Schatten zu schreien. Am Ufer zucken die Figuren zusammen. Einige verschwinden, da ihre Spieler sich ausloggen, weil es so in den Kopfhörern kreischt. Die Frequenz ist die Hölle. Fingernägel auf einer Tafel klingen angenehm dagegen. Trotz des Lärms begreife ich die Aufgabe. Die meisten Objekte in Exploria haben größte Bedeutung. Sie ziehen eine Menge nach sich. Sie verbinden sich mit anderen. Sie pflanzen etwas, das man später im Spiel erntet.


Dort, wo ich die Muschel fand, gab es als Dreingabe ein paar Melodien, die ich auf ihr zu spielen lernen sollte. Jede davon trug einen bedeutungsschweren Namen.

Man muss sie ins Mikrofon des Headsets pfeifen. Eine davon hieß Slumber, also Schlummer. Die wird es sein. Durch sie kann ich den schwarzen Wassergeist besiegen. Ihn erlösen. So ist das wahrscheinlich gemeint. Der Geist ist gar nicht böse, er hat Schmerzen. Wer ihn besiegt, befreit ihn davon. Wie ging die Melodie noch? Sie hatte nur vier Töne. Ich versuche ein paar, doch das Kreischen wird nur stärker. Das gibt Kopfschmerzen! Wer soll sich dabei konzentrieren? Sich bei diesem Lärm an ein unschuldiges, kleines Lied erinnern?

Am Ufer lösen sich immer mehr Figuren in Luft auf, doch Emma bleibt stehen. Gaia Girl hält stand. Ich darf sie nicht enttäuschen. Ich darf morgen nicht in die Schule kommen als der, der von einem kleinen Geist durch Kreischen besiegt wurde.

Obwohl, von innen muss das Wesen unendlich viel größer sein als von außen, wenn es einen verschlucken und in ein riesiges Level aus Finsternis werfen kann. Ich konzentriere mich. Atme tief durch. Alt F7. Dann blase ich die richtige Melodie.


Sie klingt traurig und doch nach Hoffnung. Bloß vier Töne, aber gut gewählt. Das Kreischen wird leiser. Die Augen des schwarzen Geistes schauen mich an wie die eines erstaunten Kindes. Sie sind nur grelle Lichter und doch ändert sich was in ihnen.

„Das ist es!“, haucht Samra. Er nimmt den Schild runter.

„Mach weiter!“

Ich wiederhole die Melodie. Ton für Ton. Sitze in meinem Zimmer und pfeife ins Mikrofon, während Modi in die Muschel bläst.


Falls das ein Nachbar hört, durch ein Fenster, das auf Kipp steht, oder meine Eltern … die müssen denken: Jetzt ist er endgültig verrückt geworden.

Der dunkle Geist beginnt zu schimmern. Ich habe recht. Ich befreie ihn, indem ich ihn in den Schlaf singe. Der Teich der Tausend Tode war sein Fegefeuer. Der Schlaf ist sein Aufstieg in den Himmel. Gleich wird er sich auflösen, und ich werde belohnt mit den Erfahrungspunkten von Monaten. Dieser Sieg katapultiert mich in die Top Ten. Auf der ganzen Welt werden sie darüber sprechen. In Zügen, auf Ozeandampfern, in Flugzeugen. Überall dort, wo auch nur ein Hauch von Internet hinreicht.


„Oh, shit!“

Diese zwei Worte kann Samra noch äußern, bevor eine Rakete ihn vor meinen Augen aus dem Bildschirm reißt. Blutspritzer landen von innen auf dem Monitor. Links unten rutscht ein Stück Gedärm langsam das simulierte Glas hinab.

Der dunkle Geist beginnt wieder zu kreischen, schräger als je zuvor. Ich schaue mich hektisch um, drehe den Blick zum Ufer. Gaia Girl zeigt panisch in die andere Richtung. Ich schwenke um.

Auf dem schwarzen Wasser des Sees nähert sich ein Kriegsschiff. Klein, aber effizient. Wie diese Jeeps mit den aufmontierten Gewehren, nur eben als Schnellboot. Auf dem schwarzen Gefährt ist ein Raketenwerfer angebracht.


Es ist Dark Ambush. Ein Troll, der zerstört, was andere sich erarbeitet haben. Seine zweite Rakete verwandelt auch mich in eine Explosion aus Blut.


Bens legendäre Skills - Nächstes Level: Reality Check

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