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WIESO AUSGERECHNET STREICHQUARTETTE?

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Es wird stets angenommen, dass ich selbst Streichquartett spiele, einen anderen Grund, sich derart in Sachen Streichquartett zu spezialisieren, kann es eigentlich nicht geben. So gelingt die Überraschung jedes Mal aufs Neue, wenn ich gestehe, dass ich in keinem Streichquartett spiele, nicht einmal ein Streichinstrument beherrsche und das Klavierspielen längst ad acta gelegt habe.

Ich bin in einer Vorstadt im Süden von Paris aufgewachsen, weil mein Vater dort in einer Anfang der sechziger Jahre gebauten Siedlung seine Kinderarztpraxis eröffnete. Die Erwachsenen sagten, es sei schon Paris, uns Kindern – noch schlimmer Jugendlichen – schien die Stadt in unerreichbarer Ferne zu liegen. Zu Hause sprachen wir nur Französisch, unsere Eltern sagten uns, wir seien Franzosen. Ich fühlte mich dennoch immer fremd. Manches erschien mir rätselhaft. Ich durfte nicht, wie die meisten anderen Mädchen in meiner Klasse, an bestimmten Tagen nach der Schule in die kleine neugebaute Kirche, wo sie auf die erste Kommunion vorbereitet wurden. Ich verstand nicht, warum. Oft telefonierte mein Vater auf Deutsch, und immer wieder kamen Leute, meistens Musiker, mit denen er auch Deutsch sprach. Sie lebten in Amerika oder in Israel oder noch viel weiter weg, waren in Paris für ein Konzert, einen Kongress oder einfach auf ihrer jährlichen Europareise und kamen zu Besuch. An solchen Abenden wurde musiziert, wann immer möglich Streichquartett, und es wurde viel gesprochen, während und nach dem Musizieren. Wenn ich auch die Sprache nicht verstand, spürte ich doch, dass an solchen Abenden ganz andere Welten lebendig wurden. Erst als wir etwas größer waren, erzählte mein Vater von der Zeit vor dem Krieg, von Schlittschuhfahrten auf den gefrorenen Kanälen in Hamburg, von Wochenenden in Lauenburg und von der Talmud-Thora-Schule am Grindel, wohin er hatte wechseln müssen, als er nicht mehr in die öffentliche Schule durfte. Nach seiner Pensionierung kam er unserem Wunsch nach und schrieb seine Erinnerungen auf, seine Kindheit in Hamburg und die Kriegsjahre in Frankreich. Wir kannten schon etliche Geschichten, aber aufgeschrieben sind sie anders. Besonders wertvoll wurde mir das Heftchen, als meine eigenen Kinder groß genug waren, es selber zu lesen.

»In meiner Familie hatte Hausmusik, Kammermusik eine lange Tradition. Mein Großvater,1 ein angesehener Anwalt, spielte wöchentlich Streichquartett mit den Solisten der Hamburger Philharmonie. Das habe ich leider nie gehört, denn er wanderte 1933 nach Antwerpen aus: Da war ich sechs Jahre alt.

Übrigens erfand er eine schlaue List, sein Vermögen mit ins Ausland zu nehmen (was in Nazi-Deutschland streng verboten war). Er kaufte ein ganzes Streichquartett: vier Instrumente der Brüder Hieronymus und Antonio Amati.2 Die wurden leicht über die Grenze gebracht, weil sie nicht neu waren! In den zehn Nachkriegsjahren verwaltete ich dieses Quartett in Paris, bis es für die Erbgemeinschaft verkauft wurde.«

Die Familie meines Vaters floh 1938 – mein Vater war elf Jahre alt – vor dem Nazi-Regime aus Deutschland nach Paris. Wie viele assimilierte Juden hatten sie sich sehr spät entschieden, zu emigrieren. Kurze Zeit danach mussten sie noch einmal vor den einmarschierenden Deutschen weiter nach Süden fliehen. Sie schafften es gerade noch, versteckt und unter falscher Identität in Südfrankreich durch den Krieg zu kommen, und ließen sich danach in Paris nieder.

»Cello hatte ich schon in Hamburg zu lernen begonnen. Während der Kriegsjahre, versteckt in Frankreich, verbrachte ich meine Tage mit Celloüben, denn ausgehen war gefährlich. Nach dem Krieg, in Paris, wurde ich eines Tages auf mein Cello angesprochen: ›Sind Sie Amateur?‹ ›Ja.‹ ›Dann sind Sie der, den ich suche.‹ Thevernot war der Bratschist eines Kriegsgefangenen-Quartetts, das im Lager die klassische Literatur durchgespielt hatte. Pigot, ein Ingenieur, war Erster Geiger, seine Schwester war Berufspianistin am Radio. Der Bratschist, Bijou, war angehender Frauenarzt. Der Cellist war gestorben, und so forderte man mich auf, an seiner statt einzuspringen. Man setzte mir als erstes Mozarts D-Dur-Quartett vor. Eine Zumutung!«

Adorno beschreibt sein Idealbild der musikalischen Erziehung als das des Kindes, das spätabends im Bett liegt und den im Wohnzimmer kammermusizierenden Eltern zuhört; »dieses Kind«, schrieb er 1957, »wird in dieser dem Schlaf gestohlenen Zeit tiefer in die geheimen Zellen der Musik eindringen, als wenn es jahrelang zur Aktivität in Spielkreisen organisiert ist«. Seit jeher hörte ich Streichquartettmusik und die deutsche Sprache, somit gehören sie auch eng zusammen und repräsentieren die verlorene Welt im Exil, die Sprache und die Farbe der Vergangenheit. Ich konnte weder das eine noch das andere, und doch haben sich beide zu Hauptkomponenten meines Lebens entwickelt. Aus dem Streichquartett habe ich meinen Beruf gemacht, Deutsch ist zu meiner Hauptsprache geworden, und es ist die Muttersprache meiner Kinder. So ist das Streichquartett – und die für mich dazugehörende deutsche Sprache – die Brücke zur Welt meiner väterlichen Familie, zu meinem Ursprung im deutschen Judentum und letztlich zum Judentum selbst.

Der Zufall wollte, dass die erste feste Stelle meines späteren Berufslebens, die der Kammermusik-Sachbearbeiterin (so wurde es genannt!) bei der Konzertdirektion Schmid in Hannover war, und die ersten Künstler, die ich zu betreuen hatte, unter anderen das Guarneri Quartet, das Alban Berg Quartett und das Cleveland Quartet waren. Ich stieg in eine sehr durchdachte Organisation ein, in der alles präzise definiert und übersichtlich sortiert war. Allein die Besonderheiten eines jeden Künstlers stehen in keiner Ablage. So mussten meine damaligen Künstler mir – mit mehr oder weniger Geduld – erst den Beruf beibringen, bevor ich mit der Zeit ihr Vertrauen gewinnen konnte und als Partnerin akzeptiert wurde.

Die Künstler beschränkten sich nicht darauf, Direktiven zu erteilen, sie erklärten sie mir, ausführlich und farbig. Sie erzählten mir Geschichten von unterwegs, sie beschrieben mir die Säle, in denen sie spielten, deren Akustik, Größe und Atmosphäre, die Besonderheiten der Veranstalter und der Zuhörer in den verschiedenen Orten und Ländern. Sie beschrieben mir die Stimmung der Werke und erklärten mir, wie sie ihre Programme zusammenstellen, dass ein Programm nicht gut ist, wenn die Zuhörer in düster-depressiver Stimmung nach Hause entlassen werden, so wie wenn man zum Beispiel das 15. Streichquartett von Schostakowitsch und das 6. Streichquartett von Bartók in einem Programm vereinigen würde. Sie machten mir klar, dass Entfernungen zu dem Konzertort und innerhalb des Ortes, ordentliche Garderoben und die Bestellung des Licht- und Bühnenmeisters zur Probe wesentliche Faktoren im Leben eines reisenden Musikers sind und ein gelungenes Konzert auch davon abhängt. Zimmer neben dem Aufzug sind in jedem Hotel eine Nachtplage, ganz egal, wie modern und leise die Aufzüge sind. Für viele der Hotels, die wir für unsere Künstler buchen, versuchen wir, die Nummernendziffer der »Aufzugszimmer« zu erfahren und bitten ausdrücklich, diese nicht an unsere Künstler zu vergeben. All das und noch viel mehr sagten sie mir und jeder ein bisschen anders. Ich verstand, dass ihre Forderungen nicht Divenallüren waren, sondern der schlichte – und manchmal verzweifelte – Versuch, Bedingungen zu schaffen, um ihren Beruf mit großer Konzentration ausüben zu können.

Als ich 1989 mein Impresariat mit dem erklärten Ziel gründete, eine Agentur ausschließlich für Streichquartette zu führen, belächelten viele meinen Entschluss, hielten mich für verrückt und kaufmännisch suizidal. Allein die Streichquartette – nicht nur die, die ich vertrat, sondern auch viele andere, wie ich im Laufe der weiteren Jahre zu hören bekam – dankten mir dafür, weil ihnen damit ein voller Rang und Platz eingeräumt wurde. Sie waren nicht mehr Zierde auf einer Liste, sondern Zentrum.

Den Schritt in die Selbständigkeit hätte ich nicht machen (und finanziell überleben) können, wenn nicht Künstler wie das Alban Berg Quartett, das Guarneri Quartet, das Tokyo String Quartet, das Cleveland Quartet mich hierzu ermutigt und ihrerseits die Entscheidung getroffen hätten, mir zu folgen. Immerhin bedeutete es für sie, eine sehr etablierte und respektierte Agentur zu verlassen, um einer jungen Agentin zu einem eigenen Namen zu verhelfen. Das Risiko, das sie trugen, war kalkulierbar, denn zu diesem Zeitpunkt kannten wir uns schon lang und gut. Sie alle waren meine Lehrer gewesen und wussten, dass ich bereits eine eigene Beziehung zu vielen Veranstaltern aufgebaut hatte. Nach einigen Jahren kamen die ersten Solisten, die das suchten, was sie »die kammermusikalische Betreuung« nannten, etwas, das schwer zu beschreiben ist, aber einen Gegenpol zu der solistischen kommerziellen Hetze bilden sollte.

1Wie ich kürzlich erfuhr, gehörte mein Urgroßvater zu den aktiven Gründern und Förderern der Hamburger Philharmonischen Gesellschaft.

2Die Instrumente befanden sich in der Obhut eines Brüsseler Museums, wo sie zusammen mit Gütern vieler anderer jüdischer Familien auf der Flucht im Keller deponiert und während des Krieges verwahrt wurden, mit einem Munitionsdepot nebenan, wie sich später herausstellte. Alles blieb heil.

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