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EINE EINGESCHWORENE GEMEINDE

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Für den, der ein Instrument spielen lernt, ohne den Ehrgeiz, daraus seinen Beruf zu machen, kann das Streichquartettspielen das höchste Ziel werden. Wer das Instrument so gut beherrscht, dass er sich an die Partituren der großen Meisterwerke der Kammermusik und insbesondere der Streichquartettliteratur wagen kann, dem steht eine wunderbare Zukunft als Amateurmusiker bevor. Ein großer Schatz, der ihn gegen die Frustrationen und Rückschläge des Alltags Trost finden lässt, durch den er auch mit anderen etwas wird teilen können, das kein Gespräch ersetzen kann.

Streichquartettspielen ist a priori kein Beruf, es gibt das Wort Streichquartettist nicht! Es beschreibt lediglich eine bestimmte Form des gemeinsamen Musizierens und ein Repertoire, dem sich im Prinzip jeder, der eine Affinität zu dieser Musik hat, widmen kann. Das Streichquartett besteht aus zwei Geigen, einer Bratsche und einem Cello. Der Inbegriff von Hausmusik sind die vielen Streichquartette, die sich regelmäßig im privaten Raum treffen, um zu musizieren. Sie tragen keinen Namen, sie treten nicht öffentlich auf und bestehen in unveränderter Formation manchmal über Jahrzehnte.

Diese Amateure sind aber nicht nur eifrige Instrumentalisten, sondern bilden auch den Kern des Kammermusikpublikums. Es ist ein kundiges Publikum, das den musikalischen Text kennt, gnadenlos präzise und fundiert kritisiert, gleichwohl zu großer Begeisterung fähig ist, weil es weiß und einschätzen kann, was zu dieser gemeinsamen Aufführung und Aussage, deren Zeuge man gerade ist, gehört. Immer wieder zückt jemand diskret (oder weniger diskret) eine Taschenpartitur samt spitzem Bleistift, um sich während des Konzertes eifrig Notizen zu machen. Das ist dann aber meist kein Kritiker, der anhand der Partitur pedantisch seine Rezension skizziert, vielmehr wird es sich um einen regen Amateurmusiker handeln, der sich für seine nächste Probe mit Argumenten wappnet. Es kommt vor, dass nach dem Konzert ein Zuhörer mit der Partitur zu den Künstlern geht und die eine oder andere ihm »fremd klingende« Interpretation besprechen, gar diskutieren will. Er wird nicht immer freudig empfangen!

Verglichen mit dem Publikum bei Orchesterkonzerten, großen Solo-Recitals oder gar Opern, die alle mehr oder weniger Events ähneln (oder sind), wirkt das Streichquartettpublikum wie eine kleine eingeschworene Gemeinde von Musikliebhabern, die ins Konzert gehen wie Literaturliebhaber zu einer Lesung oder zu einem philosophischen Abend.

Andächtige Gemeinde! Wenn bei einem Streichquartettkonzert ein Veranstalter auf die Bühne tritt, um eine Programm- oder Terminänderung anzusagen, habe ich immer die Phantasie, dass er gleich eine Predigt halten wird.

Streichquartettmusik ist offenbar nichts für junge Leute. Das ist der Eindruck, den bekommt, wer das Durchschnittsalter des Quartettpublikums zu errechnen versucht. Kommt man auf einen Durchschnitt von ungefähr fünfzig Jahren, hat man ein Konzert erwischt, das von einem erstaunlich jungen Publikum besucht wurde. Besonders bei Konzerten junger Streichquartette fällt die Altersdiskrepanz zwischen Künstlern und Publikum auf. Vielleicht ist der Umstand, dass da so wenige junge Leute anzutreffen sind, darauf zurückzuführen, dass ein Streichquartettkonzert ernst, still und lang wirkt – was nicht heißt, dass es leise ist. Über zwei Stunden dieselben vier Leute auf der Bühne, ohne Umbau, ohne nennenswerte Bewegung, ohne großartige Eindrücke wie den ohrenbetäubenden Lärm eines Riesenorchesters oder die Faszination eines kleinen Menschen (stehend) vor einem Meer von Musikern (sitzend), dessen Stimme sich über das Ganze erhebt. Nein, vier Menschen sitzen mehr oder weniger im Kreis, miteinander »redend«.

Weniger die vermeintliche leise Form schreckt die jungen Leute ab als der Ruf, der das Streichquartett umgibt. Das Streichquartett galt und gilt noch immer als hochintellektuell, eben nicht populär, sondern elitär, weshalb der Hörer, der von Musik nicht viel Ahnung hat, fürchtet, es würde schwer zugänglich und verständlich sein. So ist vielleicht zu erklären, dass die meisten Kammermusikkonzerte von privaten Vereinen – im modernen Sprachgebrauch würde man sie »Selbsthilfegruppen« nennen – veranstaltet werden, zu denen sich Liebhaber dieser Musik zusammengeschlossen haben, um diese überhaupt im Konzert hören zu können.

Aus der Internet-Präsentation der Gesellschaft der Musik- und Kunstfreunde Heidelberg e. V. (2004):

»Die in Heidelberg als MuKuH bekannte Gesellschaft wurde im November 1945 kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs gegründet. Der Hunger nach guter Musik und Kunst, insbesondere solcher, die in der Nazi-Zeit verboten war, ließ engagierte Bürger zur Selbsthilfe greifen: Die Gesellschaft veranstaltete ihre ersten Konzerte und Kunstreisen nach dem Krieg unter schwierigsten Bedingungen (z. B. wurde, wie aus alten Chroniken hervorgeht, darum gebeten, für Konzerte Holz und Kohle mitzubringen, damit der Konzertsaal ein wenig geheizt werden könne). Vorstands- und Beiratsmitglieder besorgen ehrenamtlich in ihrer Freizeit sowohl die Vorbereitung der Konzerte als auch deren Durchführung, von der Kontrolle der Eintrittskarten über den Verkauf der Abendprogramme bis zur Betreuung der Künstler.«

Also ein Publikum, das zum großen Teil sich selbst der Sache verschrieben hat, vor dem der Nichtkenner Scheu hat, weil er sich in der Pause nicht wie die anderen über das richtige Tempo oder die ausgelassene Wiederholung im dritten Satz unterhalten kann, und das junge Leute durch seine Bürgerlichkeit und sein Alter abschreckt. Der Veranstalter, der Verein ist demnach das Publikum selbst.

Ob er mir etwas über seine Motivation schreiben würde, fragte ich Herrn Harry Jahns, Vorsitzender des Vereins Iburger Schlosskonzerte e. V.:

»Verehrte, liebe Frau Simmenauer,

Ich bin leidenschaftlicher Amateurgeiger und Bratscher! Mit zwei Freunden spielen wir seit einem Vierteljahrhundert in gleicher Besetzung Streichquartett, sind aber eigentlich keinen Schritt weitergekommen. Auftritte haben wir gelegentlich bei Ausstellungseröffnungen in der Sparkasse oder bei Vereinsjubiläen.

Anlass zur Gründung unserer Kammermusikreihe waren zwei Dinge: der schöne frühbarocke Rittersaal im Schloss und Eigeninteresse. Zum zweiten Punkt muss ich Ihnen sagen, dass, wenn ich ein Streichquartett, Klaviertrio oder Klavierquartett einlade, immer ein Werk dabei sein muss, das wir in der Besetzung vorbereitend bewältigen können. Das erhöht nicht nur das eigene Hörvergnügen, sondern befähigt mich, Treffenderes über die erwartete Musik vor Konzertbeginn zu sagen – beileibe nicht jedes Mal! – beziehungsweise in meinem Einladungsbrief, den ich vor jedem Konzert an unsere Stammkundschaft verschicke, zu schreiben.

Ein besonderer Glücksfall ist mein Mitarbeiterteam. Vom Einholen der Werbung über Verteilen der Plakate, Kasse und Garderobe machen wir fast alles selbst, aber! Keiner redet mir bei der Programmgestaltung herein! Alle steuerlichen und sonstigen finanziellen Dinge erledigt zum Beispiel die ehemalige Apothekerin. Einziges Prinzip bei der Programmgestaltung ist, dass wir nichts von ›Crossover‹* halten und dichte, ereignisreiche Kammermusik anbieten. Die meisten Besucher kommen aus dem nahe gelegenen Osnabrück, und die Stammhörerschaft hat sich erst allmählich vergrößert, so dass wir erst in den letzten fünf Jahren fast immer ein volles Haus haben.

Ich würde mich wirklich freuen, gelegentlich wieder von Ihnen zu hören und grüße Sie freundlich!

Harry Jahns«

*möglichst keine Bearbeitungen

Vereine haben auch Rituale und Geschichten, auf die ihre Mitglieder stolz sind. Seit Jahrzehnten wird in demselben Lokal derselbe Tisch für das »Essen danach« mit den Künstlern reserviert, oder bestimmte Mitglieder laden »reihum« zum späten Abendessen ein. Alle Quartette, die in Hamburg aufgetreten sind, können von den berühmten Einladungen des jahrzehntelang amtierenden Vorstandsvorsitzenden Herrn Jung und seiner Frau erzählen, zu deren Programmpunkten immer auch die eingehende Betrachtung seines schönen Amati-Cellos gehörte. Herr Jung saß dann immer neben dem Cellisten, und es wurde ein ganzes Stück des Streichquartettrepertoires von Cellist zu Cellist besprochen.

Herr Dr. Sprengel, Inhaber der Hannoveraner Schokoladenfabrik und großer Mäzen, war Vorsitzender der Kammermusikgemeinde Hannover. Er spielte auf dem Register der Streichquartette wie mit geschlossenen Augen auf einem Klavier. Er kannte sie alle, viele auch persönlich, und wusste genau, wer welche Werke wann und vor allem wie in Hannover gespielt hatte. Laut Vereinssatzung sollte jährlich eine Mitgliederversammlung stattfinden, um über das Geschäftsjahr Bericht zu erstatten und durch eine Wahl (oder Wiederwahl) die verschiedenen Posten der Vorstände, Vizes, Schatzmeister etc. zu besetzen. Dr. Sprengel war nicht nur Vorsitzender, sondern in hohem Maße auch Förderer der Vereinigung. Tatsächlich führte er die Kammermusikgemeinde allein, entschied über die Interpreten und Programme. Dabei hielt er sich an die »Vereinsregeln«, jährlich eine Versammlung einzuberufen, per Zeitungsannonce, nur jedes Mal unter einer anderen Rubrik, in der eine solche Nachricht niemals vermutet werden konnte (Umzüge, Tierbetreuung). Die zu Beschlüssen notwendige Anzahl von Mitgliedern wurde persönlich eingeladen, nach seinen eigenen Kriterien.

Es scheint fast so, als seien es hier die Zuhörer, die die Künstler persönlich einladen, um auf der Bühne die Werke exemplarisch vorgeführt zu bekommen, an denen sie sich selbst im eigenen Wohnzimmer abarbeiten. Entsprechend hoch ist der an die professionellen Musiker gestellte künstlerische Anspruch. Eine Anekdote erzählt, dass ein sehr versierter Veranstalter ein berühmtes Quartett aufgrund einer ausgelassenen Reprise für Jahre von seinem Programm verbannte.

Gleichwohl erzeugt die Materie eine große Gemeinschaft, weil alle vor der Partitur, ob auf der Bühne oder im Wohnzimmer, das gleiche Los teilen. Manch ein Amateurstreichquartett wird sein häusliches Repertoire nach den Programmen der örtlichen Konzertreihe aussuchen und die Konzerte als eine Art Vortrag oder Unterricht definieren, andere werden ihren Einfluss im Verein ausüben, um die Künstler einzuladen, die ein Programm nach ihren Vorgaben spielen können. Das »Familiäre«, das auch zu der besonderen Atmosphäre der Kammermusikkonzerte führt und zu dem Vergleich mit den philosophischen Abenden, hat natürlich auch eine Kehrseite, die ich als Konservatismus bezeichnen würde. Die große Freude, der Grund aller ehrenamtlichen Mühe, zielt mehr auf die Pflege und die Aufführung von Bekanntem und lässt nur sehr wenig Raum für das Neue und erst einmal Fremde.

Auch die ehrwürdige und sehr konservative Gesellschaft für Kammermusik Basel war auf das junge Alban Berg Quartett aufmerksam geworden und lud es schließlich ein, sein Debüt bei ihr zu geben. Die Einladung barg Auflagen: Es durften keine modernen Werke auf dem Programm stehen. Eine erstaunliche Tatsache, da zu der Zeit das Musikleben Basels schon lang unter dem Einfluss Paul Sachers gestanden hatte, eines großen Förderers und Interpreten neuer Musik. In dem vom Quartett vorgeschlagenen Programm hatten die Sechs Bagatellen op. 9 von Anton Webern gestanden, die also ersetzt werden mussten. Das Dilemma war groß: Das Alban Berg Quartett hatte es sich zum Prinzip gemacht, kein einziges Programm ohne ein Werk des 20. Jahrhunderts aufzuführen. Andererseits nutzen die Prinzipien wenig, wenn niemand sie wahrnehmen will. Dazu gehörte, dass das Quartett eine Bühne bekam, um überhaupt ein Publikum gewinnen und ihm neue musikalische Wege aufzeigen zu können. Das Quartett gab nach und akzeptierte die Bedingung. Webern erschien nicht auf dem Programm. Als das Publikum sich anschickte, in die Pause zu gehen, nutzte Günter Pichler den Moment des Applauses und wandte sich an das Publikum: Er kündigte an, dass das Quartett jetzt noch die Sechs Bagatellen von Anton Webern spielen würde, aber diejenigen, die es nicht hören wollten, jetzt den Saal verlassen könnten. Ein einziger Zuhörer ging. Das Publikum empfing das Werk mit großer Konzentration und anschließendem tosendem Applaus.

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