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HINTER DER TÜR. INNENANSICHTEN

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Lange Zeit wohnte ich den Proben des Brahms Quartetts im wahrsten Sinne des Wortes bei. In erster Ehe war ich mit Dieter Göltl, dem Cellisten des Quartetts, verheiratet. Mein erstes kleines Büro befand sich in unserer Wohnung und grenzte an den Raum, der zum Quartettproberaum wurde. Ich verfolgte notgedrungen und manchmal widerwillig das Ringen der vier Herren um das Sich-Zusammenfügen der vier Stimmen. Es konnte furchtbar quälend sein. Ein paar Takte, gefolgt von langen Diskussionen. Die Worte konnte ich nicht im Einzelnen verstehen, aber die Musik und das, was sie übertrug, drangen klar durch die Wand. Immer wieder die gleichen Takte, mal langsamer, mal schneller. Ein abruptes Unterbrechen, wobei der eine oder andere einige Takte allein weiterspielte. Das erahnte genervte Bitten, er möge doch aufhören, es gebe da doch etwas zu besprechen. Wenn man die Worte nicht versteht, die gesprochen werden, sondern nur die Stimmlage und Töne, entsteht eine eigentümliche Musik, eine andere Form des Quartettspielens: Erst sagt einer etwas, dann vermischen sich alle vier Stimmen, legen sich übereinander, eine Stimme wird lauter, einer redet schneller, um nicht unterbrochen zu werden, dazwischen blitzen kurze, bissige Töne. Es konnte passieren, dass sich dann einer nicht mehr an der Diskussion beteiligte und sein Schweigen lauter wurde als die Stimmen der anderen, das Gleiche, wenn inmitten des Spielens einer aufhörte. Es dauert einen Moment für den Außenstehenden, der weder zusieht noch die Partitur wirklich kennt, dieses Fehlen zu erkennen. Nur etwas klingt anders, wird bedrückend. Im Gesprochenen wie im Spielen konnte die latente oder offene Aggressivität eine schier unerträgliche Spannung übertragen. Auch beim Nichthinhören oder Nichthinhören-Wollen konnte sich die Zeit manchmal lang hinziehen, bis die vier Herren entweder mit dem vorläufigen Ergebnis sich für heute zufriedengaben oder sich mit anderen Passagen Sauerstoff oder neuen Zündstoff holten. Es gab auch andere (Hör-)Bilder, wenn sie anfingen zu spielen und einfach weiterspielten, sich an ihrem Spiel freuten, und ich die Vereinigung, das natürliche Miteinander-Atmen mitbekam. Ihre Freude, ihr erleichtertes Lachen übertrug sich auf mich. Ich konnte die leichte Verlegenheit spüren, die sie beschlich, weil sie sich erkannt hatten, wie frisch Verliebte.

Zu Hause konnte ich so den Alltag eines Streichquartetts miterleben und gewann dadurch wertvolle Innenansichten eines Streichquartettlebens, auch wenn kein Quartett dem anderen gleicht. Lange Zeit, die ich hier meine Lehrzeit nennen möchte, konzentrierte ich mich darauf, meinen Beruf zu erlernen, die Mechanismen im Spiel zwischen den Künstlern und den Veranstaltern und die Nöte beider Seiten zu verstehen, das Katastrophenmanagement zu beherrschen, indem ich mir für die täglichen »Unfälle« stählerne Nerven zulegte und vor allem mit der Zeit zu dem tröstenden Schluss kam, dass, solange es nicht um Leben und Tod geht, es für fast alles eine Lösung gibt.

Was tun, wenn zum Beispiel die Eisenbahner in den spontanen Streik treten und kein Zug fährt, also auch nicht derjenige, der die Künstler zum nächsten Ort fahren sollte? Die Autovermietungsstellen sind überfüllt. Wen kennt man in der fremden Stadt, der ein Auto leihen kann, das groß genug ist für vier Personen mit Instrumenten – immer das Cello! – und Gepäck?

Oder wenn dem Bratschisten im Bahnhof von Mailand die Tasche aus der Hand gerissen wird, in der er seine Noten hat, und die sofort eingeschaltete Polizei verständnisvoll den Fall aufnimmt, aber keinerlei Hoffnung auf ein Wiedererlangen der Tasche lässt? Was steht auf dem Programm? Zwei der Werke liegen beim örtlichen Musikalienhändler vor, der sich bereit erklärt, die Bratschenstimmen kopieren und im Hotel hinterlegen zu lassen, damit der Bratschist bei seiner Ankunft noch das eine oder andere aus dem Kopf eintragen kann. Aber das dritte Werk gibt es nicht im Laden zu kaufen. Wer könnte das noch im Repertoire haben, den man anrufen kann, der zufällig zu Hause ist, die Noten kopieren und faxen kann?

An einem Montagmorgen läutet das Telefon schon Sturm, als ich die Tür zum Büro aufschließe. Ich verstehe zunächst nicht, was gesagt wird, ich habe noch nie mit Japan telefoniert, die Leitung ist schlecht, der Akzent, mit dem Englisch gesprochen wird, sehr gewöhnungsbedürftig, ich bin noch nicht wirklich da. Quartett, Visa, Gefängnis … Plötzlich verstehe ich nur zu gut. Eines meiner Quartette war am Sonntag nach Japan geflogen, hatte kein Visum, saß im Flughafengefängnis und wurde nicht ins Land gelassen. Ein riesiges Missverständnis: Die notwendigen Visapapiere hatten wir ihnen geschickt, per Einschreiben, um sicherzustellen, dass sie nicht verloren gehen. Der Angeschriebene bekam zwar die Meldung per Post, fürchtete jedoch eine ihm unangenehme Sendung und holte den Brief einfach nicht ab. Der Konsul wurde bemüht, der Kulturminister des Landes, aus dem die Künstler kamen, der Tag verging mit hektischen Telefonaten, das Quartett kam frei, zwei Stunden vor seinem ersten Konzert.

Ich machte fast jedes Mal die wunderliche Erfahrung, dass Konzerte, denen eine wirkliche oder Beinahe-Katastrophe vorausgegangen war, besonders erfolgreich waren, obwohl dem Publikum die Schwierigkeiten verschwiegen worden waren: der berühmte Adrenalinstoß.

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