Читать книгу Einführung in die anglistisch-amerikanistische Dramenanalyse - Sonja Fielitz - Страница 14
1. Redekriterium
ОглавлениеDas europäische Theater entstand gewissermaßen zwei Mal, und das jeweils aus religiösem Kult: zunächst aus dem Dionysos-Kult der Antike und später aus der kirchlichen Liturgie des Mittelalters. Im klassischen Griechenland gilt Thespis als der erste Schauspieler, da er sich vom Chorus als Einzelperson ablöste und die Geschichte eines Helden nicht nur als einfacher Geschichtenerzähler (Rhapsode) erzählte, sondern vielmehr diesen Helden als Person der Vergangenheit in der Gegenwart verkörperte. Der Chorus reagiert nur noch auf sein Agieren. Thespis trug bei den ersten Festspielen zugunsten des Gottes Dionysos, des Gottes des Weins, der Vegetation und der Fruchtbarkeit, 534 v. Chr. den Sieg davon. Er war also der Erste, der den Schritt vom Erzählen zur Verkörperung einer Rolle vollzog und den Vortragenden zum Charakter machte.
Dichtungstheorie der Antike
In der Literatur wird im dritten Buch von Platons Politeia (3. Jhd. v. Chr.) zwischen Bericht und Darstellung unterschieden, je nachdem, ob der Dichter spricht oder ob er seine Figuren selbst zu Wort kommen lässt.
Aristoteles
Die dichtungstheoretische Schrift der Antike, Aristoteles’ Poetik, definiert im ersten Kapitel u. a. Epos, Tragödie und Komödie als „Nachahmungen“ (vgl. auch Kap. II.1), die sich in drei Aspekten voneinander unterschieden: „sie ahmen nach entweder in verschiedenem Material oder verschiedene Gegenstände oder auf verschiedene Art und Weise.“ (S. 23). Das letztgenannte Unterscheidungsmerkmal, wie man nachahmt, kann danach entweder so geschehen, „daß man berichtet (sei es in der Gestalt einer dritten Person, wie Homer dichtet, oder so, daß man unwandelbar selber der Berichterstatter bleibt), oder so, daß man die nachgeahmten Gestalten selbst als handelnd tätig auftreten läßt“. (S. 25). Dieses so genannte ,Redekriterium‘ legt damit fest, dass in dramatischen Texten – anders als in narrativen Texten! – nicht der Dichter selbst spricht, sondern in diesen die Handlung unmittelbar dargestellt wird. Den Erzähler als vermittelnde Kommunikationsinstanz des Romans gibt es im Drama also üblicherweise nicht. (Die Ausnahme bildet das epische Drama; vgl. Kap. X.7). Graphisch veranschaulichen lässt sich dieser fundamentale Unterschied von dramatischen und narrativen Texten auf der Vermittlungsebene durch folgendes Schema:
Abb. 4: Modell der dramatischen Schreibweise (Weiß, Studium, S. 131)
Mit Autor wird die historische Person des Verfassers bezeichnet (William Shakespeare, Samuel Beckett, Arthur Miller etc.), mit dem Konstrukt Autor’ der Autor, „insofern dieser als gestaltendes Subjekt mit seinen Perspektiven, Interessen und Fähigkeiten in das Werk eingegangen ist“. (Weiß, Einführung, S. 131). Der schraffierte Bereich markiert die Handlungs- oder Geschehnisebene, d. h., die Handlung zwischen den Figuren in ihren wechselnden Konstellationen. Auf der Vermittlungs- oder Diskursebene (äußerer Rahmen) repräsentiert das Konstrukt Zuschauer’ diejenigen Charakteristika des Textes, die im Hinblick auf die Rezeption durch Zuschauer in das Werk eingegangen sind. Mit Zuschauer ist der tatsächliche Rezipient in der empirischen Wirklichkeit gemeint. Natürlich lässt sich dieses Schema nicht exakt so auf jedes Drama anwenden, sondern stellt, wie jedes Modell, eine idealtypische Sichtweise dar.
Absolutheit dramatischer Texte
Wegen des Fehlens des vermittelnden Kommunikationssystems bei dramatischen Texten spricht man von deren Absolutheit, welche in der ,vierten Wand‘ der modernen Guckkastenbühne (vgl. Kap. II.1) ihre konsequenteste Realisierung gefunden hat. Im Gegensatz zum Roman wird die Handlung im Drama nicht durch einen Erzähler, der schildern, begründen, kommentieren und portraitieren kann, vermittelt, sondern in Bühnenaktion umgesetzt (vgl. Kap. II). Während der Epiker ausnahmslos alles, was er vermitteln möchte, erzählen muss, kann der Dramatiker zeigen, was er mitteilen will. Auf der Bühne kann innerhalb von kürzester Zeit ein Vielfaches von dem an Information vermittelt werden, was in derselben Zeitspanne in einem Roman wiedergegeben werden könnte. Will der Romanautor das Aussehen einer Person wiedergeben, so muss er sie in vielen Einzelheiten über Seiten hinweg beschreiben, ohne jeweils Vollständigkeit erreichen zu können. Im Theater wird das Äußere der Person augenblicklich in seiner Gesamtheit durch die Gestalt des Schauspielers und alle Zeichensysteme, die ihm zur Verfügung stehen, gegenwärtig. Insbesondere aber übertrifft – was das Spiel zwischen den Personen angeht – die szenische Präsentation in mancher Hinsicht den epischen Bericht. Was zwei gute Schauspieler in einer Begegnung und in einem Dialog an zwischenmenschlicher Spannung aufzubauen vermögen, und welchen Veränderungen oder oft auch nur atmosphärischen Schwankungen die Interaktion unterliegt, wird auch der wortreichste Epiker nur einen verhältnismäßig geringen Teil vermitteln können. Wenn ihm dies überhaupt gelingt, dann wird er hierzu ungleich mehr Zeit benötigen.
In dem Augenblick, in dem ein Zuschauer den ersten Aufzug eines Dramas sieht, erfasst er die Figuren mit all ihren Details ebenso wie den Raum und die Zeit, in der die Handlung angesiedelt ist. Auch können im Drama zwei oder noch mehr verschiedene Handlungen gleichzeitig ablaufen. Während auf dem einen Teil der Bühne etwas geschieht, kann auf dem anderen Teil etwas ganz anderes passieren. Der Epiker könnte all diese Informationen nur nacheinander vermitteln; er kann zu einem bestimmten Augenblick nur eine Information geben. Freilich kann – wie der Erzähler im Roman mehr oder weniger manifest werden kann – auch im Drama das Kommunikationssystem durch ,episierende Tendenzen‘ eingeschränkt bzw. modifiziert werden. Dies kann manifest werden etwa im Chor in der antiken Tragödie oder in allegorischen Figuren der mittelalterlichen Moralitätenspiele (vgl. Kap. X.7), die ihre Identität direkt dem Publikum verbal vermitteln („Ich bin der böse König Herodes“). Episieren kann auch im Drama durch Nebentexte in Form von Einleitungen, Vorwörtern, ausgedehnten Bühnenanweisungen, Regie- oder Kommentatorfiguren erfolgen, was im Folgenden genauer zu erläutern sein wird.