Читать книгу Einführung in die anglistisch-amerikanistische Dramenanalyse - Sonja Fielitz - Страница 6

2. Interpretatorischer Ansatz: Performance Criticism

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,Drama‘ als Textvorlage wird in diesem Buch in enger Verbindung mit deren praktischer Umsetzung auf dem Theater behandelt und entspricht damit dem gegenwärtigen Lehr- und Forschungsinteresse.

In den meisten akademischen Einrichtungen wurde Drama bis zum Ende der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts noch als Zweig literarischer Studien unterrichtet und damit abgesondert von seiner Vermittlung auf dem Theater. Ein Drama wurde demnach nicht sehr viel anders als ein Gedicht oder ein narrativer (erzählender) Text wie Roman oder short story behandelt. Im Vordergrund der Analyse und Interpretation stand allein der gedruckte Text, den es nach den verschiedensten Kriterien zu untersuchen galt. Diese Kriterien der Textanalyse, mit dem Literaturwissenschaftler und auch Studierende der Philologien an der Universität üblicherweise zunächst konfrontiert werden, sind selbstverständlich bis heute noch unverzichtbar, und sie werden in diesem Buch in den Kapiteln 3 bis 10 behandelt.

Zusätzlich zu diesen Analysekriterien des gedruckten Textes kommt aber seit etwa den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts nicht zuletzt durch die in dieser Zeit aufkommenden literaturtheoretischen Ansätze (diese verstehen – stark vereinfachend gesagt – einen Text stets als Produkt eines Kollektivs) eine zweite Analyseebene für das Drama hinzu. Man untersucht heute beim Drama nicht mehr nur den literarischen Text, sondern fragt auch nach der Vermittlung dieser Textvorlage auf dem Theater und damit nach dem Potenzial, welches der literarische Text für eine Umsetzung auf der Bühne bereitstellt. Welche spezifischen Mittel (Zeichensysteme; vgl. Kap. II) hat das Theater, um dieses Potenzial umzusetzen? In welcher Weise können die Zeichensysteme des Theaters die Interpretation des Textes prägen? Durch Fragen wie diese wurde die akademische Dramenforschung, welche bis dahin Dramen nur als Lesetexte wahrgenommen hatte, hin auf die künstlerische Auseinandersetzung mit diesem Textmaterial auf der Bühne erweitert. Diese ganz neue Form der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Drama verdankt ihre Impulse in England vor allem dem Shakespeare Institute der University of Birmingham in Stratford-upon-Avon unter Leitung von Prof. Dr. Stanley Wells CBE. Prof. Wells begann bereits in den 70er Jahren damit, Dramen nicht nur als Texte zu verstehen, die mit literarhistorischen Methoden zu erschließen sind, sondern er setzte sich mit den Dramen Shakespeares auch unter dem Aspekt auseinander, wie diese auf den Bühnen aufgeführt, verfilmt und in den modernen Medien präsentiert werden. So bildete sich gegen Ende der 70er Jahre in England der Performance Criticism heraus, in dem „das Theatralische nicht länger als negatives Komplement zum Dramatischen, sondern als dessen Bestimmung erkannt wird“. (Höfele, S. 2).

Gedruckter Text und Spielvorlage

So geht man heute also von zwei unterschiedlichen Präsentationsformen des Dramas aus:

a) Als gedruckter Text ist Drama – ähnlich einer Erzählung – eine fiktionale Gattung, die vom Leser fordert, sich eine erfundene Wirklichkeit als etwas tatsächlich Gegebenes vorzustellen. Dabei sind der Fiktion keinerlei Grenzen gesetzt, weil sie in der Phantasie jedes einzelnen entworfen wird.

b) Sobald ein Drama auf einer Theaterbühne gespielt wird, verändert es seinen Gattungscharakter. Da das Geschehen dann gegenwärtig dargeboten wird, fordert es vom Zuschauer keine eigene Fiktion mehr. Die Fiktion wird auf der Bühne erstellt und sie wird zu gegenwärtiger Simulation.

Analyse

Entsprechend dieser beiden Präsentationsformen fordert die Analyse eines dramatischen Textes heute zwei Untersuchungsgegenstände: sie verlangt neben der Untersuchung des literarischen Textsubstrats (,Drama‘) auch die der szenischen Präsentation dieses Sprachmaterials auf der Bühne (,Theater‘): „Drama, …, having one foot in the theatre, is only half a literary form…“ (Nicoll, S. 199). Bei der Analyse eines Dramas wird also immer danach zu fragen sein, ob diese

 einen Text,

 eine Aufführung oder

 die Beziehung von Text und Aufführung

zum Gegenstand hat. Die entsprechenden Kriterien für diese Analyseansätze gilt es in diesem Buch zu erarbeiten.

Lehrsituation in Deutschland

Auch wenn es in Deutschland noch immer Universitäten geben soll, an denen Dramenanalyse vor allem textimmanent betrieben wird, wollen wir uns am etablierten Ansatz des Performance Criticism orientieren. Studierende, die an einem solchen anglistischen Seminar eingeschrieben sind, mögen versichert sein, dass der größte Teil dieses Buches (die Kapitel III–X) die relevanten Analysekriterien für eine rein textimmanente Dramenanalyse liefert, und sie die Kap. II und XI gewissermaßen noch ,zusätzlich‘ bekommen.

Beispiel 1: William Shakespeare, Macbeth

Die Methoden und Kriterien, welche den Ansatz des Performance Criticism auszeichnen, eröffnen gerade in unserer medienorientierten Zeit neue Perspektiven für die Dramenanalyse und -interpretation, was durch einige Beispiele exemplifiziert werden soll. Es ist anzunehmen, dass dem Großteil der Studienanfänger Shakespeares Macbeth aus der Schule vertraut sein wird. Sicherlich wurden dort die Charaktere des Macbeth und der Lady Macbeth aus dem Text heraus analysiert: wie äußern sie sich die beiden Figuren jeweils sprachlich (wie viele Monologe, wie viele Dialoge haben sie?), wie charakterisieren sie sich selbst, und wie werden sie von anderen Figuren charakterisiert, welches Verhältnis der Ehepartner zueinander lässt sich daran ablesen etc. Versucht man nun, mit dem Ansatz des Performance Criticism das Potenzial des Textes für die Umsetzung auf dem Theater zu erhellen, so ergeben sich ganz neue Aspekte. Wir wollen hier nur einen Aspekt herausgreifen (vgl. dazu genauer Kap. II): das Stück bekommt eine ganz andere Bedeutung, je nachdem, welches Alter die Darsteller des Macbeth und der Lady Macbeth in einer Bühneninszenierung haben (der Text gibt hierüber keinerlei Aufschluss, die Entscheidung über die Besetzung liegt allein beim Regisseur). Ein großer Altersunterschied der Schauspieler wird die Beziehung der beiden Figuren ganz anders erscheinen lassen, als wenn beide etwa gleichen Alters sind. So könnte das Handeln einer jungen Lady Macbeth und eines wesentlich älteren Macbeth durch das Geltungsbewusstsein und das Machtstreben der jungen Frau bedingt sein, die ihren Mann als Mittel zur Durchsetzung ihrer eigenen ehrgeizigen Ziele instrumentalisiert. Auch könnte ein solches Verhältnis von sexueller Abhängigkeit des Mannes geprägt sein. Bei einem umgekehrten Altersverhältnis könnte ein junger Macbeth der älteren Frau hörig sein. Gleichaltrigkeit der Schauspieler dagegen könnte die Beziehung der Eheleute als eine ,gleichwertige‘ und gleich gesinnte Partnerschaft mit gemeinsamen Handlungsinteressen zeigen. So wird bereits nur aus diesem einen Aspekt des Alters der Schauspieler deutlich, welch unterschiedliche Deutungen der gedruckte Text durch die spezifischen Möglichkeiten des Theaters erfahren kann. Wie unendlich komplex und vielfältig diese Zeichensysteme des Theaters sind, wird in Kap. II genauer erläutert werden.

Beispiel 2: William Shakespeare, The Merchant of Venice

Auch wenn Shakespeares Kaufmann von Venedig nicht ganz so populär als Schullektüre ist wie Macbeth, mag er uns als weiteres Beispiel für die Bedeutung des Performance Criticism dienen. Das Drama endet damit, dass in der letzten Szene zwei Liebespaare (Bassanio/Portia und Graziano/Nerissa) endgültig zueinander finden, und der Kaufmann Antonio durch einen Brief erfährt, dass seine verloren geglaubten Schiffe entgegen der bisherigen Befürchtungen doch sicher in den Hafen zurückgekehrt sind. Es befinden sich also zum Ende der Handlung fünf Figuren auf der Bühne. Wenn nun Portia sagt, „Let us go in“ (5. 1. 297) und Graziano bestätigt „Let it be so“ (5. 1. 300), so ist das für den Text ein ,runder‘ Abschluss: die Handlungsverwicklungen sind aufgelöst, die Figuren ziehen sich zurück. Was aber macht das Theater mit dieser Figurenkonstellation? Es gilt für den Regisseur, fünf Figuren von der Bühne abtreten zu lassen, und die Bühnenanweisung „exeunt“ lässt offen, wie dies geschehen soll. Gleichgültig, welche Entscheidung der Regisseur trifft, jede wird eine andere Interpretation des Dramas mit sich bringen: Gehen die beiden Liebespaare zur gleichen Zeit gemeinsam ab? Gehen sie zeitlich nacheinander ab? Gehen sie in die gleiche Richtung oder in verschiedene Richtungen? Gehen die Partner jeweils gemeinsam, oder geht einer voraus? Und was wird aus Antonio, dem Kaufmann? Bleibt er allein auf der Bühne zurück? Geht er zusammen mit einem Paar ab? Kommt eine/r der jungen Leute noch einmal zurück, um Antonio, nachzuholen‘? Wie reagiert die/der Partner/in darauf („He will be there for breakfast!“)? Eine Stelle, die dem Leser eines Dramas unbedeutend und selbstverständlich vorkommen wird, da am Ende eines Dramas natürlich alle Figuren von der Bühne abtreten, ist für den Zuschauer im Theater von entscheidender Bedeutung. Je nachdem, wie dieser letzte Abgang der Figuren inszeniert wird, wird das Drama eine ganz andere Deutung erfahren: eine allumfassende Harmonie, in der alle Konflikte gelöst sind (alle Figuren gehen gemeinsam in die gleiche Richtung ab), eine noch instabile oder bereits wieder brüchig werdende Harmonie (die Figuren gehen einzeln ab), die Verlorenheit und das Ausgeschlossensein (eine Figur bleibt allein auf der Bühne zurück) etc., etc.

Beispiel 3: Caryl Churchill, Top Girls

Da die Dramen Shakespeares bekanntlich nicht viele Bühnenanweisungen aufweisen und somit vermeintlich mehr Möglichkeiten für eine Umsetzung auf dem Theater bieten, da sie weniger ,festgelegt‘ erscheinen, sei noch ein Beispiel aus einem modernen Drama gewählt. Schon eine einzige Bühnenanweisung etwa aus Caryl Churchills Top Girls (1982), über die man bei der Lektüre geradezu hinweg liest, kann in einer Aufführung von signifikanter Bedeutung sein. Das folgende Beispiel zeigt, wie wenig, festgelegt‘ ein Drama auch mit Bühnenanweisungen sein kann: eine scheinbar nebensächliche Angabe wie „Marlene sits wrapped in a blanket and has another drink. Angie comes in“ muss auf dem Theater praktisch umgesetzt werden und trägt damit zur Figurenkonzeption und ,Gesamtaussage‘ des Stücks in dieser Inszenierung bei: Wie sitzt Marlene? Entspannt? Verkrampft? Krank? Wie sieht die Decke, in die Marlene gehüllt ist, aus? Entstammt sie einer bestimmten historischen Periode? Ist sie schäbig oder prächtig? Welche Farbe(n) hat sie? Sind diese Farben mit anderen Personen oder deren Kostümen assoziativ verbunden? Was trinkt Marlene? Trinkt sie tatsächlich, oder hält sie nur ein Glas in der Hand? Wenn sie trinkt, trinkt sie hastig oder gelassen? Woher kommt Angie auf die Bühne? Kommt sie von hinten, von rechts, von links oder aus dem Zuschauerraum? Etc., etc. – es könnten sich noch viele solcher Fragen anschließen, die alle die Charakterisierung der Figuren und die Beziehung der Figuren untereinander in immer wieder anderer Weise deuten würden.

Kapitelinhalte

Aus diesen drei Beispielen dürfte deutlich geworden sein, welche Bedeutung die Vermittlungsebene ,Theater‘ für die Interpretation eines literarischen Textes ,Drama‘ hat. Wie komplex diese bisher nur exemplarisch angerissenen Möglichkeiten (Zeichensysteme) des Theaters sind, wird in Kap. II zu erläutern sein. Kap. III bis IX werden Analysekriterien für den Text bieten, in Kap. X werden verschiedene historische Sonderformen des englischen Dramas sowie die a-historischen Sonderformen des absurden und des epischen Dramas besprochen. In Kap. XI wird auf die filmische Umsetzung von Dramentexten einzugehen sein.

Einführung in die anglistisch-amerikanistische Dramenanalyse

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