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Kapitel 1

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Die Sonne ging gerade über Las Vegas auf, als Evie das Forty-Seven durch den Hinterausgang verließ. Die Woche war verdammt hart und lang gewesen und sie damit zu beschließen, spärlich bekleidet, in einem Night-Club in Vegas die Leute zum Tanz zu animieren, ließ sie regelmäßig an ihrem Verstand zweifeln.

Seit sechs Jahren lebte sie nun schon in der Zocker-Metropole und verdiente ihr Geld damit vier Mal die Woche, zu später Stunde, in verschiedenen Clubs als Go-Go Tänzerin aufzutreten. Das Forty-Seven war dabei immer ihre Samstag-Nacht Adresse und das, obwohl das etwas in die Jahre gekommene Etablissement nicht gerade einer der vorzeige Clubs der Stadt war. Es gehörte eher zu der Sorte Clubs, in denen sich die Besoffenen weit nach Mitternacht noch zu einem letzten Absacker gönnten, ehe sie mit irgendeiner Nutte vom Strip in irgendeinem Hotel verschwanden.

Dennoch arbeitete Evie gerade dort sehr gern, weil die Atmosphäre nicht einem Kriegsschauplatz glich, wie in anderen, größeren Läden, wo die Mädels untereinander um jeden Auftritt fighteten. Im Forty-Seven waren sie eher so etwas wie eine Familie und die Türsteher sorgten dafür, dass keines der Mädchen angetatscht wurde, wenn die das nicht wollte. Und Evie gehörte nicht zu denen, die sich durch Gefälligkeiten irgendwelcher Art etwas dazu verdienten. Um über die Runden zu kommen stand sie sechs Tage die Woche in einem der Kleinen Casinos der Stadt hinter der Bar und mixte Drinks. Dies tat sie bis zu zehn Stunden am Tag, je nach Schicht und wenn sie am Sonntagmorgen über den leeren Parkplatz zu ihrem schäbigen, alten Jeep schlich, war das Einzige, worauf sie sich wirklich freute, ein entspannendes Bad und ein weiches Bett. Doch die Fahrt aus der Stadt zu dem kleinen Haus, in dem sie mit ihrem Kumpel Jay in einer Zweier WG lebte, dauerte beinahe 30 Minuten und war, nachdem sie beinahe 24 Stunden auf den Beinen war, ohne einen Coffee-to-Go kaum zu überstehen,

„Hey Babe“, Jay kam Evie bereits entgegen ehe sie recht aus dem Wagen gestiegen war und versprühte wie immer so schrecklich gute Laune, dass ihr beinahe spontan das Kotzen kam.

„Wie kannst du um 6 Uhr morgens nur so fürchterlich gut drauf sein?“ Genervt zog Evie die Sport-Tasche vom Rücksitz ihres Wagens. Sie war so müde, dass sie kaum einen Fuß vor den anderen setzen konnte, während Jay in Sportklamotten an seinem Trekking-Bike herum schraubte. Sie wusste, dass sie das Haus für den Rest des Tages für sich haben würde, wenn er mit dem Bike auf Tour ging.

Der 1,80m große, blonde Sunny-Boy achtete sehr auf seinen Körper und Evie bewunderte ihn fast ein wenig dafür, dass er nach einer harten Arbeitswoche noch die Kraft fand den ganzen Sonntag sein Bike zu malträtieren. Sie dagegen freute sich darauf ihren erschöpften, mit blauen Flecken übersäten Körper in die Badewanne zu legen und dabei möglichst nicht einzuschlafen. Die Ansprüche, die sie an den einzigen freien Tag stellte, den sie in der Woche hatte, waren eher bescheidener Natur und beschränkten sich hauptsächlich darauf, regelmäßig zu atmen und beim Essen nicht zu ersticken.

Evie liebte es den halben Tag zu schlafen, vielleicht mit ihrem kleinen Bruder zu telefonieren, wenn er die Zeit fand ihr anzurufen, und abends mit Jay vor dem Fernseher zu liegen und Essen vom Lieferservice zu genießen. Generell stellte sie kaum Ansprüche an ihr eigenes Leben. Über die Runden kommen und genug Geld bei Seite schaffen, um ihrem Bruder Tobias das Studium finanzieren zu können, war im Grunde genug. Für die Zukunft ihres kleinen Bro tat sie beinahe alles, war sogar bereit ihr eigenes Leben hintenanzustellen. Irgendwann war Tobias soweit auf eigenen Beinen zu stehen. Irgendwann würde er ihre Hilfe nicht mehr brauchen und dann war sie immer noch jung genug um Vegas hinter sich zu lassen.

Während Jay sich auf sein Rad schwang, ließ Evie Wasser in die Wanne laufen und warf nebenbei ihre Tanz-Klamotten, die generell sehr spärlich ausfielen, in die Waschmaschine. Evie war kein Mensch, der ständig Sport trieb wie Jay, aber sie nannte einen wundervoll definierten Körper ihr Eigen, dem es genügte, vier Nächte die Woche zu tanzen. Ihr Boss vom Forty-Seven wollte sie schon des Öfteren dazu überreden mit Pole-Dance anzufangen, doch das hätte bedeutet, dass sie täglich trainieren musste und dazu blieb ihr bei der Arbeit in der Bar und in den Clubs nun wirklich keine Zeit. Andererseits konnte sie als Pole-Dancerin sehr viel mehr Geld verdienen. Vielleicht sogar soviel, dass sie sich endlich einen etwas neueren Wagen hätte leisten können und nicht mehr jeden Tag darauf hoffen musste, dass der alte Jeep seine Dienste nicht völlig verweigerte. Schon viel zu oft war sie mit der alten Kiste bereits liegen geblieben und wenn sie nicht einen Automechaniker zu ihren besten Freunden zählen würde, hätte der Jeep sie sicher längst ruiniert. Aber Trevor drückte regelmäßig ein Auge zu, wenn es darum ging die Reparatur-Rechnung zu begleichen. Er fand immer irgendwo günstige, gebrauchte Teile, die er verwenden konnte und die Arbeitsstunden rechnete er ihr ohnehin nie an. Dafür gab Evie seiner 12jährigen Tochter Lily kostenlosen Nachhilfeunterricht. So wusch in Vegas, unter Freunden, eine Hand die andere und jeder war am Ende zufrieden.

Evie war gerade dabei in die Wanne zu steigen, als Jay ins Bad platzte. Sie erschrak fast zu Tode, weil sie sich sicher gewesen war, dass er längst auf seinem Bike saß und irgendwohin radelte, dennoch dachte sie im Traum nicht daran sich vor ihm zu verstecken. Dazu kannten sie sich viel zu gut.

„Hey Evie“, wie selbstverständlich standen sie sich gegenüber, „Manny hat gerade angerufen. Er hat einen Gig … heute Abend.“ „Das ist großartig“, natürlich freute Evie sich für ihn, als sie in die Wanne stieg, aber nachdem sie nun mehr als einen Tag auf den Beinen war und nichts mehr herbeisehnte, als ein entspannendes Bad, hielt sich die Euphorie, die sie auszudrücken im Stande war, wirklich in Grenzen.

„Ja, für uns beide. Ich leg die Platten auf und du tanzt“, Jay lehnte mit vor der strammen Brust verschränkten Armen in der Tür. Er hatte durchaus ein wenig mehr Begeisterung erwartet, kannte Evie aber lange und gut genug um zu wissen, dass das einzige woran sie an solchen Sonntagen denken konnte, ihr Bett war.

„Was“, entsetzt starrte sie ihn an, „das ist doch sicher wieder eine dieser Privat-Partys. Du weißt, dass ich das hasse. Diese reichen Typen glauben, sie könnten sich alles erlauben.“ „Ich weiß Süße, aber der Gig bringt uns 3 Riesen. Wir brauchen die Kohle.“ „Scheiße“, deprimiert schlug Evie sich die Hände vors Gesicht, „ich weiß … wirklich 3 Riesen?“ „Ja, mit der Kohle könnten wir endlich die Klimaanlage reparieren lassen und hätten immer noch genug übrig um was auf die Seite zu packen. Komm schon … bitte, ich brauch dich dabei.“ „Na schön“, genervt tauchte Evie in der Wanne unter, prustete sich das warme Wasser aus dem Gesicht, gerade, als Jay ihr beim Auftauchen einen dicken Kuss auf die Lippen drückte und sie ihm so die volle Ladung Wasser ins Gesicht spritzte.

Beide lachten sie aus voller Brust: „Los verschwinde endlich.“ Evie schubste Jay von sich.

„Ich liebe dich“, noch einmal küsste er sie wie ein verknallter Kerl seine Freundin küsste, ehe er seinen Luxuskörper endlich aus dem Bad entfernte und Evie schmunzelnd zurückließ.

Ja, … sie wusste, dass das nicht einfach nur ein Spruch war. Jay liebte sie wirklich, aber er hatte schon vor sehr langer Zeit akzeptiert, dass sie diese Gefühle eben nicht erwiderte. Sie hatten sich damals bei ihrem ersten Auftritt im Forty-Seven kennengelernt und sich sofort super verstanden, aber für Evie war das nie mehr als eine wundervolle Freundschaft, während Jay keinen Hehl daraus machte, dass er sie wirklich gern abgeschleppt hätte. Aber Evie war damals mit gerade einmal 20 Jahren der Vormund ihres 14jährigen Bruders und hatte alle Hände voll damit zu tun, ihn vor Dummheiten zu bewahren und nicht mit ihm im Strudel Las Vegas zu versinken.

Sie erinnerte sich noch gut daran, wie minderwertig sie sich fühlte, als sie das erste Mal im Forty-Seven auftrat und die besoffenen Kerle ihr wie einer Stripperin, die Scheine in den Bund ihres mehr als kurzen Mini-Rockes steckten. Beinahe 500 Dollar hatte sie in dieser Nacht gemacht. Geld, mit dem sie für sich und Tobi endlich ein vernünftiges Motel bezahlen konnte, … ein Motel, in dem es wenigstens einen Fernseher gab und ihnen nicht die Kakerlaken im Schlaf über das Bett rannten. Dennoch hatte sie an diesem Morgen, nachdem sie Tobi zur Schule brachte, heulend in ihrem Wagen gesessen. All ihre Träume waren zerplatzt. Nichts in ihrem Leben war so, wie sie sich das jemals wünschte, doch sie wusste, dass sie für Tobias da sein musste. Der dumme, aufsässige Teenie brauchte sie, weil sie alles waren, was sie an Familie noch besaßen. Weil es außer ihnen niemanden mehr gab, den interessierte, was aus ihnen werden würde.

An jenem Morgen schloss Evie mit ihrer eigenen Zukunft ab und schwor sich zugleich um die Zukunft ihres Bruders zu kämpfen. Ganz egal wie viele besoffene, geile, alte Säcke sie dafür noch antatschen würden, Tobi war all das wert.

Punkt neun stand Evie abmarschbereit im Flur, während Jay immer noch Zeug zusammensuchte, was ihr ein hilfloses Kopfschütteln entlockte. Wäre er im Umgang mit seinen Sachen nur halb so penibel wie mit seinem Körper, wäre ihr Zusammenleben um ein Vielfaches einfacher, aber Evie hatte sich längst an das chaotische durcheinander gewöhnt, dass Jay für gewöhnlich hinterließ. Und genau so hatte sie sich abgewöhnt ihm hinterher zu räumen, weil das ohnehin nichts nutzte.

„Wir kommen zu spät, wenn du nicht endlich in die Puschen kommst“, Evie tippte auf ihre imaginäre Armbanduhr und sah Jay dabei mit vorwurfsvollem Blick an. Sie liebte seinen strammen Hintern, aber wenn er den selbigen nicht bald in Richtung Auto bewegte, kassierten sie einen ordentlichen Anschiss. Manny verstand, was Pünktlichkeit anging mal so überhaupt gar keinen Spaß und Jay wusste das eigentlich auch. Wenn der Gastgeber einer Party 3 Riesen für 2 Stunden Arbeit springen ließ, dann war das Mindeste, was er verlangen konnte, Pünktlichkeit und bis zur Location waren sie durch den abendlichen Verkehr mindestens 1 Stunde unterwegs. Bis Jay dann noch sein ganzes Zeug aufgebaut hatte und mit dem Sound zufrieden war, dauerte es mindestens noch einmal so lange.

Die Party war für halb zwölf angesetzt. Keine ungewöhnliche Uhrzeit in Vegas. In der Stadt der Spieler gingen die Uhren in vielerlei Hinsicht anders und Evie musste sich damals, als sie mit Tobi in der Wüste Nevadas strandete, erst einmal daran gewöhnen.

„aran gewöhnen. is zur Lokation w, als sie mit Tobi in der Wüste Nevadas strandete, erst einmal daran gewöhnen. is zur Lokation wSo, …“, Jay sah sich noch mal nach allen Seiten um, „jetzt können wir los.“ „Na endlich“, Evie griff nach der Tasche, die er ihr entgegenstreckte, und trug sie zu seinem Wagen.

Im Gegensatz zu ihrem alten Jeep war Jays Dodge ein richtig neuwertiges Fahrzeug, wobei selbst der dunkelblaue Lieferwagen die besten Tage längst hinter sich hatte. Dennoch erfüllte er seinen Zweck und der hieß, Jay und seine komplette DJ Ausrüstung von A nach B zu bringen.

Jay war, wie Evie auch, mehr oder weniger in Las Vegas gestrandet und schlug sich seither als Gelegenheits-DJ und Croupier durch. Er saß tagsüber im Mandalay an einem der Spieltische und verteilte die Karten und er war verdammt gut darin, den Spielern die Chips abzuluchsen. Evie hatte sich von ihm im Laufe der Jahre einige Tricks zeigen lassen und dabei schnell festgestellt, dass es besser war, wenn sie hinter der Bar blieb.

„Hast du alles?“ Evie saß längst im Wagen, als Jay einstieg, sie besorgt von der Seite ansah und ihr diese völlig überflüssige Frage stellte.

„Natürlich habe ich alles. Ich bin schon seit 20 Minuten fertig“, Evie fühlte sich fast gekränkt, als ihr Handy klingelte.

Sie wusste, dass das nur Tobi sein konnte: „Hey Bro … alles okay bei dir?“ „Hallo Schwesterchen, ja, bei mir ist alles klar. Was treibst du?“ „Ich fahr mit Jay gerade zu einem Auftritt.“ „An einem Sonntagabend? Hast du mir nicht mal erzählt, der Sonntag wäre dir heilig?“ „Ja, was soll ich sagen? … ich kann die Kohle gut gebrauchen. Die Klimaanlage im Haus ist kaputt und der alte Jeep gibt wohl bald endgültig den Geist auf. Trevor meinte, wenn noch mehr Löcher ins Blech rosten, kann er die Kiste bald nicht mehr zusammenschweißen.“ „Ich schwör dir, … von meinem ersten Gehalt kauf ich dir ein neues Auto. Du tust so viel für mich.“ „Spar dein Geld Tobi. Ich habe dich lieb.“ „Ich dich auch Schwesterchen“, Tobi hauchte einen liebevollen Kuss durch die Leitung und legte auf.

Evie sah das Handy in ihrer Hand an und dabei kämpfte gegen den Drang an, hemmungslos zu heulen. Tobi fehlte ihr, … mehr, als sie jemals geglaubt hätte, als sie ihn damals, als er noch ein Teenager war, verfluchte und geradewegs zum Teufel wünschte. Die erste Zeit allein war für die beiden sehr schwer gewesen, aber selbst ein rebellischer Jugendlicher wie Tobi hatte irgendwann eingesehen, dass es vernünftiger war mit seiner großen Schwester am selben Strang zu ziehen. Und je älter er wurde, desto besser verstanden sie sich, waren bald nicht mehr nur Geschwister, sondern auch Freunde und genau das fehlte Evie.

Tobi war ein überdurchschnittlich intelligenter Junge, der Zeit seines Lebens zu wenig gefördert worden war. Erst eine Lehrerin in Las Vegas, erkannte sein Talent und nahm ihn unter ihre Fittiche. Was Evie in den folgenden Jahren ein kleines Vermögen kostete, da er plötzlich nicht mehr auf eine normale High School ging, sondern in einer Begabten-Klasse unterrichtet wurde. Diese Klasse, die nur aus etwa 8 Schülern bestand, war Tobis Chance wirklich etwas aus seinem Leben zu machen und so ging seine Schwester bald Tag und Nacht arbeiten, putzte die Klinken sämtlicher Ämter, von denen sie sich Hilfe erhoffte, nur um Tobi die bestmögliche Ausbildung zu ermöglichen. Dabei beklagte sie sich nie.

Wozu denn auch?

Weshalb hätte sie mit ihrem Schicksal hadern sollen?

Als sie damals vor der Wahl stand die Vormundschaft zu übernehmen oder Tobi in ein Heim abzuschieben, zögerte sie keine Sekunde. Schließlich war er ihr kleiner Bruder, alles was ihr an Familie blieb. Und für ihn tat sie alles.

„Scheiße, … in so einer Bude möchte ich auch mal leben“, fast andächtig sah Jay an der Fassade hinauf, nachdem er den Lieferwagen geparkt hatte. Schon in der Auffahrt war er ganz still geworden. Sie Beide lebten am Existenzminimum, mussten jeden Cent zusammenkratzen, wenn sie sich mal was leisten wollten und dann in solch imposanten Häusern zu arbeiten war schier unerträglich. Evie konnte spüren, dass Jay vom Neid schier zerfressen wurde, als er ausstieg und die Seitentür öffnete, damit sie das Equipment ausladen konnten. Dabei konnte Evie ihn verstehen, ging es ihr doch ähnlich. Diese Prachtbauten, in denen die reichen Stars und Möchtegerne lebten, waren für sie so unerreichbar wie eine bemannte Mission zum Mars für die NASA, und machten ihr schmerzlich bewusst, wie sehr die Menschen, die dort lebten, auf Leute wie sie herabblickten.

Am schlimmsten waren dabei die Starlets, die sich einen der reichen Knacker angelten und das für eine beeindruckende Leistung hielten. Evie konnte diese überheblichen Tussis nicht leiden. Von ihnen wurde sie immer behandelt als sei sie ein Mensch zweiter Klasse, obwohl diese, meist auf blond getrimmten Ladys, kein Stück besser waren als sie selbst, sich lediglich für etwas Besseres hielten. Dennoch gab es diese Augenblicke, wenn sie hinter der Theke stand und die auffälligen Pärchen beobachtete, in denen sie sich einen solchen Mann wünschte. Einen Mann, der ihr die Angst vor der Zukunft nehmen konnte, der ihr finanzielle Sicherheit bieten würde … wenigstens für eine kleine Weile. Auch sie wollte in einer dieser Villen am Lake Las Vegas leben, die davon zeugten, dass es Menschen gab, für die Geld wirklich keine Rolle spielte.

„Meine Fresse“, als würde er das erste Mal eine Villa betreten, drehte Jay sich staunend im Kreis, als die Haushälterin ihnen die Tür öffnete und sie eintreten ließ.

„Hier würde ich gern mal die Sau rauslassen“, Jay schien sich gar nicht mehr einzukriegen, als Evie ihn gegen die Schulter boxte: „Krieg dich endlich wieder ein. Wir sind zum arbeiten hier.“ „Man Evie, diese Häuser sind der totale Hammer.“ „Ich weiß, aber für Leute wie uns ist das nur ein Traum, also los. Lass uns endlich das Zeug aufbauen sonst werden wir wirklich nicht fertig“, Evie wollte sich von Jays Euphorie nicht anstecken lassen. Er war wirklich ein herzensguter Mensch, aber wenn der Neid Besitz von ihm ergriff, mutierte er mitunter zum Volltrottel. Ein Wesenszug, den Evie trotz allem irgendwie süß fand, aber das würde sie ihm niemals sagen.

Evie fühlte sich immer unwohl, wenn sie in einer dieser Villen auftrat. Bei solchen Privatpartys ging es meist ziemlich hitzig zur Sache. Vor allem, wenn sie sozusagen der Ausklang eines heiteren Abends unter Geschäftsleuten waren. Sie mochte es nicht, von diesen Typen angetatscht zu werden, wenn sie zu viel getrunken hatten. Aber was tat sie nicht alles für 1500 Dollar? Selbst wenn sie ihren Anteil an der Reparatur der Klimaanlage an Jay abdrücken musste, blieb genug übrig um wenigstens einen Teil von Tobis Studiengebühren für das nächste Jahr zu begleichen. Und diese Finanzspritze war dringend notwendig, denn die erste Rate wurde bald fällig und über den Rest machte sie sich Gedanken, wenn es soweit war.

Manchmal fragte Evie sich schon, warum Tobi ausgerechnet am MIT studieren musste. Aber er träumte genau davon, seit Mrs. Fletcher ihn in die Hochbegabten Klasse steckte. Aber ohne ein Teil-Stipendium hätte Evie die jährlichen Studiengebühren von über 36.000 Dollar niemals aufbringen können. Sie hatte nicht einmal eine Ahnung, was Tobi dort alles tat, aber sie wusste, dass es ihn glücklich machte und das war das einzig wichtige.

Während Jay seine Anlage aufbaute und den letztem Sound-Check machte, zog Evie sich in einem der riesigen Badezimmer um. Wenn sie in den extrem kurzen Minirock schlüpfte und sich das silberfarbene Glitzer-Bustier anzog, fühlte sie sich wie eine andere Frau. Bevor sie nach Vegas kam, zeigte sie sich nicht einmal gern in einem Badeanzug, doch nach sechs Jahren als Go-Go Tänzerin machte ihr das Bauchfreie Outfit und der kurze Rock, unter dem ein silberfarbenes Höschen hervor blitzte, nichts mehr aus. Sollten die Typen doch glotzen, vielleicht steckten sie ihr dann ein paar extra Scheine zu, wenn sie nur genügend mit dem Hintern wackelte. Extra-Scheine, die sie direkt auf das Konto einbezahlen würde, auf dem sie die Studiengebühren ansparte.

Evie sah sich heimlich im Haus um, während Jay immer noch an den Soundeinstellungen feilte. Sie empfand es als seltsam, welch schrecklich, kitschigen und unnützen Kram die Reichen so anhäuften. Das Haus war riesig, aber Evie wusste, dass sie dort niemals leben wollte. Es gefiel ihr einfach nicht. Das Haus war viel zu überladen, zu protzig, zu … sie konnte gar nicht beschreiben, was ihr durch den Kopf ging, als sie die Räume inspizierte. Die Einrichtung war zwar mit Sicherheit sehr teuer gewesen, aber ihrer Meinung nach zeugte sie nicht von sonderlich viel Geschmack … aber, was wusste ein Mädchen aus San Diego schon?

„Evie“, Jay stand plötzlich hinter ihr, als sie gerade eines der Kunstwerke an der Wand betrachtete und erschreckte sie beinahe zu Tode.

„Herr Gott Jay, musst du dich denn so anschleichen? Deinetwegen krieg ich noch einen Herzinfarkt.“ „Sorry Süße“, wie selbstverständlich legte er seinen Arm um Ihre Taille und zog sie an seinen Körper, „die Party geht los. Wir sollen uns zurückhalten, bis wir ein Zeichen kriegen.“ „Von mir aus. Erinnere mich bitte dran, dass ich mich nie mehr zu sowas überreden lasse.“ „Komm schon, wir können die Kohle verdammt gut gebrauchen. Hat Tobi sich eigentlich inzwischen entschieden, was er in den Semesterferien machen will?“ „Er wartet noch auf die Zusage seines Professors. Er würde gerne bei einem Hilfsprojekt mitmachen.“ „Ein Hilfsprojekt? Ist dein kleiner Bruder ein Heiliger, oder was?“ „Nein, aber wenn er den Sommer über mit seinem Professor Brunnen in Afrika baut macht sich das in seiner Vita doch gut, oder meinst du nicht?“ „Doch, bestimmt. Aber ihr beide habt euch schon so lange nicht mehr gesehen.“ „Erinnere mich nicht daran“, traurig lehnte Evie ihren Kopf an Jays Schulter.

Musste er sie denn nun wieder mit der Nase darauf stoßen, dass das MIT über 2700 Meilen von Vegas entfernt lag?

Evie hasste das. 2700 Meilen waren mehr, als sie an einem Tag mit dem Wagen fahren konnte nur um ihren dummen, kleinen Bruder mal wieder in den Arm nehmen zu können. Tobi fehlte ihr … und das würde auch noch eine ganze Weile so bleiben. Gerade erst ein Jahr war vergangen, als er freudestrahlend durch das Haus gehüpft war, weil er die Zusage aus Massachusetts in Händen hielt. Das Massachusetts Institute of Technology war sein Traum gewesen, die einzige Uni, an der er sich überhaupt bewarb und während Evie inständig hoffte, dass er sich letztlich doch für eine etwas günstigere Uni entscheiden würde, war Tobi stur geblieben. Er wollte lieber als Straßenkehrer arbeiten, als an einer anderen Uni zu studieren. Wobei er sich in all seinem Überschwang überhaupt keine Gedanken darüber machte, woher das ganze Geld für die Studiengebühren und seinen Lebensunterhalt kommen sollte. Tobi machte sich über solche Dinge keine Gedanken. Er war ein hoffnungsloser Optimist, der immer und ständig der Meinung war, es würde sich schon alles fügen. Evie dagegen war nicht mehr so euphorisch … dazu war in ihrem Leben bereits zu viel passiert. Dinge, die Tobi offenbar zu verdrängen schien. Vielleicht hatte der Verstand eines Kindes auch einfach vergessen was damals geschah. Evie hoffte darauf. Tobi sollte so bleiben wie er war … ein unbekümmerter, junger Mann, dem alle Türen offenstanden.

Evie war schrecklich müde, als die Party endlich losging. Während Jay für Stimmung sorgte, vergrub sie ihren Verstand in der hintersten Ecke ihres Gehirns und begann zu tanzen. In den Jahren, die sie nun schon ihr Geld auf diese Weise verdiente, hatte sie längst gelernt, dass es besser war, nicht nachzudenken, sich die Menschen um sie herum nicht anzusehen, sich nicht vorzustellen, wer die Männer waren, die sie vehement anfeuerten sich auszuziehen.

Das kam absolut nicht in Frage … schließlich war sie doch keine Stripperin. Und im Notfall, sollte einer der Typen zudringlich werden, konnte sie sich sicher sein, dass Jay auf die Kohle pfeifen und sie beschützen würde. Schon einmal hatte er das getan und anschließend den Rest der Nacht im Knast verbracht. Jay war wirklich ein guter Kerl … ein Freund fürs Leben, ein Mensch, auf den sie sich immer zu 100 % verlassen konnte.

Evie realisierte sehr schnell, dass es sich bei der Party wohl um den Abschluss eines Junggesellenabschieds handelte, denn im Mittelpunkt des Abends stand ein Kerl, so ungefähr Mitte 30, der die ganze Zeit mit einer dicken Zigarre im Mund herum lief, sie aber nicht wirklich rauchte und genau ihm widmete sich deshalb auch Evie, wie es ihr Job in dieser Nacht war. Mit lasziv kreisenden Hüften forderte sie ihn zum Tanz, schmiegte sich an ihn, als sie sich näherkamen.

In den Clubs, in denen sie arbeitete tat sie das für gewöhnlich nicht … nicht in diesem Maße, in dem sie es auf diesen Partys tat. Denn, obwohl sie sich niemals ausziehen würde, hatte auch Evie, das naive Mädchen aus San Diego, längst begriffen, dass sie mehr Kohl abgreifen konnte, wenn die Herren zufrieden waren und so erschrak sie nicht einmal, als der Typ, der nach teurem Rasierwasser roch, ihr mit beiden Händen an den Po griff und sie an sich zog. Evie zwang sich, während sie ein Bein ein wenig zwischen die seinen schob und dabei zur Musik tanzte, zu ignorieren, was sie da zu spüren glaubte und als er seine Zigarre aus dem Mund nahm und sie sogar küssen wollte, wich sie ihm geschickt aus, drehte sich im Takt der Musik in seinen Armen und presste ihren Po gegen seine Hüften. Dabei entging ihr nicht, dass Jay sie genau beobachtete, dass er bereit war einzuschreiten. Es war sein starrer Blick, der ihr das verriet und genau dieser Blick ließ sie sich trotz der entwürdigenden Situation, beschützt fühlen. Sie wusste, dass der Moment, in dem der Kerl, der sie nun bei den Hüften packte und sich stoßweise gegen ihren Po presste, einen winzigen Schritt zu weit ging, der Moment sein würde, in dem Jay die Party sprengte. Niemand fasste seine kleine Prinzessin an. Dabei war es egal, ob sie Beide wussten, dass genau das zum Geschäft gehörte, wenn sie sich für Privat-Partys engagieren ließen. Seine Evie war keine Stripperin. Sie war eine Tänzerin und mehr als ein wenig anheizen, die Jungs ein wenig scharf machen, lief nicht.

Evie verließ sich in diesem Augenblick, als die Kerle um sie herum grölend ihren Freund anfeuerten, auf ihr Gespür. Das Gespür, das sie im Laufe der Jahre entwickelte und das sie meist zuverlässig wissen ließ, wann die Stimmung zu kippen begann und genau das tat sie in dieser Nacht nicht. Klar tatschte der Typ in ihrem Rücken ein wenig zu forsch an ihrem Körper herum, doch Evie spürte auch, dass er sich trotz des Alkohols immer noch im Griff hatte, dass er selbst noch zurückwich, wenn er sie etwas zu intim berührte.

Also versuchte Evie Spaß an der ganzen Sache zu haben. Doch, als sie sich zu dem offensichtlichen Bräutigam umdrehte, ihm die Arme um den Hals schlang und provokativ ihre Hüften kreisen ließ, sah sie über seine Schulter hinweg in die grünsten Augen, die sie kannte. Für eine Sekunde schien dieses Grün sie zu durchbohren. Der Blick des Mannes, der als einziger gelangweilt, an die Wand gelehnt dastand und diesem lasziven Zeitvertreib offenbar nichts abgewinnen konnte, traf Evie wie ein Blitzschlag. Weil sie ihn kannte, weil er sie mit einem Schlag an das Leben erinnerte, das sie für ihren Bruder aufgegeben hatte. Weil dieser Blick sie sich schmutzig und billig fühlen ließ.

Evie wäre am liebsten davongelaufen. Auf der Stelle wollte sie im Erdboden versinken, doch der Herr im Himmel tat ihr diesen Gefallen nicht.

Was, … um Himmels Willen machte Tristan Jeffrey in Las Vegas?

Was, … zum Teufel, tat ausgerechnet er auf dieser Party?

Evie spürte, wie ihr Körper funktionierte, weil er einfach funktionieren musste, aber sie spürte auch, dass diese Augen, dieser intensive, strafende Blick sie nicht mehr losließ, sich in ihre nackte Haut brannte und sie für das, was sie tat, verurteilte.

Ihr Verstand wiederholte in Dauerschleife immer wieder, dass es nichts gab, wofür sie sich schämen musste. Und doch war es genau das, was sie empfand. Denn dieser Mann kannte sie aus einem anderen Leben und dass er sie zweifelsohne erkannt hatte, machte sein strafender Blick nur zu deutlich.

Warum muss denn ausgerechnet er in Vegas auftauchen?

Evie fühlte ganz deutlich, wie sich ihr, vom tanzen, erhitzter Körper mit einem Schlag abkühlte. Sie fühlte, wie der feine Schweiß auf ihrer Haut förmlich zu einer hauchdünnen Eisschicht gefror. Seit vielen Jahren schämte sie sich nicht mehr dafür zu tun, was sie tat um für sich und Tobi zu sorgen, aber Tristans grüne Augen, dieser vernichtende Blick, sorgte dafür, dass sie genau das tat … sie schämte sich. Und als sie sah, wie er den Drink in seiner Hand nicht einmal leerte, sondern einfach beiseitestellte, bevor er den Raum verließ, hätte sie am liebsten geheult.

Tristan verachtete sie für das, was aus ihr geworden war.

Aber wie kam er dazu sich ein Urteil zu bilden?

Evie konzentrierte sich mit aller Macht darauf ihren Job zu tun, die Jungs bei Laune zu halten. Doch die Party war trotz allem schneller vorbei, als eigentlich ausgemacht gewesen war. Nach und nach zogen sich die Jungs zu ruhigeren Gesprächen an den Pool zurück, oder gönnten sich irgendwo ein kleines Nickerchen, während Jay langsam sein Equipment zusammenpackte. Evie half ihm so weit ihr verwirrter Verstand dies zuließ. Immer wieder suchten ihre Augen nach Tristan, doch er blieb verschwunden und Evie zwang sich dieses seltsame aufeinandertreffen zu vergessen. Sie bemühte sich krampfartig darum sich einzureden, dass es keine Rolle spielte, was Tristan von ihr hielt, was er über sie dachte. Und doch tat es genau das doch. Natürlich spielte es eine Rolle. Damals hatten sie sich gerade kennengelernt, sich angefreundet und Evie spürte ganz deutlich, dass hätte mehr daraus werden können, als nur miteinander in der Mensa Kaffee zu trinken oder sich auf dem Campus zu unterhalten. Und genau diese Erkenntnis war, was sie so sehr schmerzte. Sie, für ihren Teil, war in den 6 Jahre älteren, gutaussehenden Kerl bis über beide Ohren verknallt gewesen, als ihre Welt von einer Sekunde zur anderen zusammenbrach.

Evie zwang sich an etwas anderes zu denken. Sie wollte nicht darüber grübeln, was hätte werden können, wenn nicht geschehen wäre, was nun mal geschehen war.

Wozu sollte das denn auch gut sein?

Wem nützte diese Grübelei denn schon?

Niemandem, … ihr Leben war, wie es war und selbst, wenn Tobi, der bittere Rest ihrer Familie, am anderen Ende der Vereinigten Staaten studierte, war sie kein einsamer Mensch. Evie hatte viele Freunde. Freunde, auf die sie sich verlassen konnte, die ihr zur Seite standen, wenn sie Hilfe, oder einfach Zuspruch brauchte. Und so streckte sie den Rücken gerade, hob die Nase in den Wind und half Jay, seinen ganzen Kram zum Transporter zu tragen.

„Hey Evangeline“, der Bräutigam folgte den beiden in die Auffahrt, wo Jay mit all seinem Kram Laderaum-Tetris spielte.

Verwundert drehten sich beide zu dem unscheinbar wirkenden Kerl um.

„Danke“, der Bräutigam war sichtlich angeschlagen, „hier, das hast du dir verdient. Hat echt Spaß gemacht. Ich werde euch weiterempfehlen.“ „Danke“, Evie nickte höflich, als sie nach dem Umschlag griff ohne hineinzusehen. Sie war sich sicher, dass darin die vereinbarte Summe zu finden war. Ein reicher Kerl, wie dieser Typ, hinterging sie sicher nicht.

Jay jedoch sah das anders, stupste sie an, als der Bräutigam davon wackelte: „Willst du wohl nachzählen?“ „Oh Jay, nerv nicht. So ein Typ wird uns schon nicht bescheißen.“ „Du lebst offensichtlich noch nicht lange genug in Vegas um deine Naivität abzulegen. Los, zähl nach.“ „Du nervst“, kopfschüttelnd öffnete Evie den Umschlag, zählte im Schnellverfahren die Geldscheine und sah Jay dann überrascht an: „Scheiße.“ „Was? Hat er uns doch beschissen?“ „Nein, da sind 4 Riesen drin“, ungläubig zählte sie nochmal, doch sie wurde nicht fertig damit ehe Jay ihr den Umschlag aus den Händen riss um selbst nachzuzählen.

„Scheiße, …echt … da sind wirklich 4 Riesen drin. Du hast den Typen echt beeindruckt.“ „Wen interessierts … damit können wir nicht nur die Klimaanlage reparieren. Sondern auch endlich das Bad renovieren.“ „Nein“, Jay steckte das Geld in den Umschlag zurück, „gib mir meine 1000, wir flicken die Anlage und den Rest legst du für Tobi bei Seite. Du brauchst die Kohle wirklich dringender als ich.“ „Bist du sicher?“ „Ja, absolut“, Jay nahm Evie wie eine kleine Schwester in den Arm und genoss wie sie ihre Arme dankend um seine Hüften schlang: „Ich danke dir.“ „Gern geschehen Süße. Komm, lass uns endlich verschwinden“, Jay wandte sich zum Transporter um und gerade, als Evie einsteigen wollte, sah sie auf der Terrasse Tristan stehen. Einen winzigen Augenblick lang sahen sie sich in die Augen, dann wandte er sich abermals ab und verschwand im Haus.

Evie schauderte.

Warum nahm sie seine Ablehnung nur so sehr mit?

„Wer ist dieser Kerl?“ Jay startete den Wagen während er Evie beinahe beiläufig dabei beobachtete, wie sie scheinbar darauf wartete, dass dieser seltsame Kerl wiederauftauchte. Ihm war durchaus aufgefallen, dass der Typ in seinem schwarzen Anzug Evie mit Argusaugen beobachtete und sich dabei nicht nur ein Glas Scotch hinter die Binsen kippte. Irgendetwas stimmte mit dem nicht und offenbar war er auch Evie nicht verborgen geblieben.

„Wer?“ Evie hatte mitten in der Nacht keine Lust Jay von Tristan zu erzählen. Er wusste, wie die meisten so gut wie nichts von ihrem Leben vor Vegas. Sie war immer sehr darauf bedacht gewesen, ihre Vergangenheit für sich zu behalten und im Grunde interessierte es auch niemand wer sie früher gewesen war. Niemand fragte danach, warum sie die Vormundschaft für ihren minderjährigen Bruder trug. Sicher, inzwischen war Tobi längst erwachsen, im selben Alter, wie es Evie damals gewesen war, als sie mit dem alten Jeep nach Las Vegas kam und sich mehr schlecht als recht durchschlug. Dennoch war sie für ihn verantwortlich.

„Schätzchen“, glaubte sie wirklich er sei blind: „Ich mein den Typen, der dich die ganze Zeit beobachtet hat. Kennst du den etwa?“ „Nein“, Evie wollte wirklich nicht darüber reden und das verdeutlichte sie, indem sie sich von ihm abwandte, den Kopf an die Fensterscheibe lehnte und die Augen schloss. Jay musste verstehen, dass die Unterhaltung beendet war. Irgendwann würde sie vielleicht einmal mit ihm über die Evangeline Graham reden, die sie einmal gewesen war, … aber auch nur vielleicht.

Evie musste diese seltsame Begegnung erst einmal selbst verdauen. Die Begegnung mit samt den Gefühlen, die wieder hoch schwappten. Mit geschlossenen Augen hing sie ihren Gedanken nach, erinnerte sich daran wie sie Tristan das erste Mal begegnete, wie sie den sportlichen Kerl mit den stechend, hellgrünen Augen anhimmelte und sich fühlte wie eine Königin, als er sie in der Mensa das erste Mal ansprach. Beinahe eine Stunde saßen sie gemeinsam an einem Tisch, unterhielten sich über Gott und die Welt, diskutierten über Jura und Politik. Evie war sich, mit über 6 Jahren Abstand sicher, dass da von Anfang an etwas gewesen war. Sie mochten sich, verstanden sich auf Anhieb als würden sie sich schon viele Jahre kennen. Damals fühlte Evie sich in Tristans Nähe einfach wohl, so wohl, dass sie ihr eigenes, trauriges Leben für eine Weile vergaß und wenn ihnen nur ein wenig mehr Zeit geblieben wäre, wäre aus ihrer Freundschaft vielleicht sogar Liebe geworden.

Aber das würde sie wohl niemals erfahren und letztlich spielte es auch keine Rolle mehr. Sicher war Tristan inzwischen Anwalt in der Kanzlei seines Vaters und sie war, was sie war … eine Go-Go-Tänzerin, die alles tat um ihrem Bruder einen vernünftigen Start in ein besseres Leben zu ermöglichen. Dabei gab es schon durchaus Momente, in denen Evie sich ihre Zukunft ausmalte und feststellte, dass sie einsam und verarmt irgendwo in Vegas ihr Dasein fristete. Als sie sich entschied in Nacht-Clubs zu tanzen, schlug sie eine Richtung in ihrem Leben ein, die so einfach nicht wieder zu ändern war und doch bereute sie sie nicht.

Tristan hatte ihr damals von seinem angespannten Verhältnis zu seinem Vater erzählt. Davon, dass sie eigentlich beste Freunde gewesen waren, als er noch ein Kind war, das Verhältnis aber immer schwierigere Züge annahm, je älter er wurde. Weshalb er sich nach der High School und dem Grundstudium, zwei Jahre Auszeit nahm um sich darüber klar zu werden, was er mit seinem Leben wirklich anfangen wollte. Dabei war Tristan dem Wunsch seines Vaters, ebenfalls Anwalt zu werden und eines Tages in seine Kanzlei einzusteigen, nicht einmal abgeneigt gewesen. Was ihm jedoch missfiel und offenbar auch zu vielen Streitigkeiten führte, war die Tatsache, dass Harper Jeffrey dies wohl grundsätzlich voraussetzte und Tristan schon aus Prinzip nicht gehorchen wollte. Damals zumindest nicht. Aber wie war das nun, wo er stoisch ruhig dastand und sie nichts sagend und doch strafend ansah? Alles an ihm, aber vor allem der perfekt sitzende schwarze Dreiteiler, wirkte wie bei einem Anwalt, wie bei einem Mann, der auf dieser Junggesellenabschiedsparty nichts zu suchen hatte, dem die ganze Show nicht einmal Spaß machte. Oder war sie etwa der Grund, warum er so überhaupt keine Regung zeigte, während die anderen Jungs völlig aus dem Häuschen waren?

Evie dachte daran, wie sie damals von der Polizei aus dem Studenten-Wohnheim geholt wurde. Daran, unter welchen Umständen sie bald darauf ihr Zimmer auf der Uni räumte, weil ihr gar keine andere Wahl blieb. Nur wenige Monate war sie an der UCLA gewesen und hatte sich damals schon gefragt, was ein Junge aus wohlhabendem Haus wie Tristan auf einer staatlichen Uni tat, wo seine Familie sich sicher auch hätte Harvard, Yale oder die Brown leisten können.

Damals hatte Evie sich keine Gedanken darüber gemacht, wie ihr plötzliches Verschwinden angekommen sein mochte. Niemandem erzählte sie, warum sie das Studium schmiss, obwohl es ihr größter Wunsch gewesen war einmal Anwältin zu werden. Schon damals wusste sie, dass dieser Weg hart, steinig und verdammt lang werden würde, aber sie wollte eines Tages als Staatsanwältin für Recht und Ordnung sorgen.

Wo sind nur all deine Träume geblieben?

Diese Frage war im Grunde sehr schnell und sehr einfach beantwortet, … sie waren wie Seifenblasen zerplatzt. Einfach verpufft, hatten sich in Luft aufgelöst. Damals weinte Evie sich oft in den Schlaf, weil sie den Verlust ihrer eigenen Zukunft einfach nicht ertragen konnte. Aber inzwischen hatte sie mit der Rachsucht und der Aggressivität ihres Vaters abgeschlossen, die ihr all das einbrockte und um ihres Bruders Willen ein neues Kapitel in ihrem Leben aufgeschlagen. Ein Kapitel, mit dem sie im Grunde zufrieden war. Aber wenn sie Menschen aus ihrer Vergangenheit traf, Menschen wie Tristan, dann wurde ihr schmerzlich bewusst, dass es dieses andere Leben, dieses andere Ich tief in ihrem Herzen immer noch gab und sie es sich zurückwünschte.

Während Jay den Wagen lenkte und dabei sichtlich mit der Müdigkeit kämpfte, malte Evie sich aus, wie ihr Leben aussehen könnte. Mit 26 stand sie in der Blüte ihres Lebens, war eine hübsche Frau mit dunkelblonden Haaren, die ihr etwas über die Schulter reichten und Kastanien braunen Augen, die von langen, dichten Wimpern umrandet wurden. Jay bezeichnete sie mit ihren weichen, feinen Gesichtszügen immer als wunderschöne Frau. Doch Evie konnte diesem Kompliment nie mehr als ein schüchternes Lächeln abgewinnen. Ja, sie war definitiv hübsch, eine Frau mit einem Durchschnittsgesicht, aber wirklich schön?

Zumindest wurde sie in all den Jahren noch nie von einem Model-Scout angegraben oder von einem Produzenten zu einer Karriere im Showbusiness gedrängt. All das geschah nur den wirklich schönen Frauen. Evie war zufrieden damit sich selbst als Gesamtpaket hübsch zu finden.

Wirklich schön waren für Evie Menschen wie Tristan. Er war einfach perfekt. Als sie ihn das erste Mal auf dem Campus sah, verschlug es ihr den Atem und als er sie in der Mensa ansprach, fühlte sie sich, als hätte ihr der Präsident der Vereinigten Staaten gerade eine Ehrenmedaille verliehen. Ihr Herz konnte sich einige Sekunden lang nicht entscheiden, ob es nun explodieren oder doch stehen bleiben wollte, derart verschlug dieser Kerl ihr die Sprache. Sein bezauberndes, spitzbübisches Lächeln ließ ihren Körper zittern und seine hellgrünen Augen, die sie ansahen wie die eines erwartungsvollen Fünfjährigen, raubten ihr sofort den Verstand. Tristan war ein richtiger Mann, sehr viel mehr Mann, als alle die sie sonst kannte, und doch sah er, mit den etwas zu langen, dunkelbraunen Haaren, aus wie ein schelmisches Kind. Dennoch wirkte er extrem selbstsicher, eine Spur überheblich sogar. Er war ein Kerl, der absolut mit sich selbst im Reinen war und Evie beeindruckte das damals sehr. Genau so sehr, wie es das in der Villa getan hatte. Seine Augen, sein stechender Blick, fuhren ihr durch Mark und Bein.

Warum nur war sie nicht beharrlich geblieben und schlug Jay die Bitte ab, mit ihm zu diesem Job zu gehen?

Es war ihr einziger freier Abend in der Woche gewesen. Der Abend, den sie eigentlich mit den Füßen auf der Couch und der Fernbedienung in der Hand verbringen wollte. Aber wie immer ging es ums Geld, darum frühzeitig genug Kohle zusammenzukratzen um das nächste Semester finanzieren zu können und sie war verdammt nochmal auf einem guten Weg. Auch, weil die 2500 Mäuse, die sie an diesem Abend dank Jays Großzügigkeit abgegriffen hatte, verdammt guttaten, sie ein wenig besser hätten schlafen lassen sollen. Doch Evie dachte selbst im Bett, in den wenigen Stunden, die ihr noch zum schlafen blieben, ständig an diese grünen Augen, die sie verachtend und doch bemitleidend angesehen hatten. Tristan ging ihr einfach nicht mehr aus dem Kopf.

Summer Rose

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