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Meine Haare

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Wer ein Warum zu leben hat, erträgt fast jedes Wie.

Viktor Frankl

Niemand hat mich darauf vorbereitet, dass das Ausfallen der Haare auch körperlich weh tun würde. Es fühlt sich an wie damals, als ich als kleines Mädchen manchmal meine langen braunen Locken zu zwei Rossschwanzerln gebunden trug, die ich mit Haargummi ganz straff zusammengezurrt hatte. Beim Auflösen der Zopferln hat die Kopfhaut genau so weh getan wie jetzt. Ich stehe auf – auf dem Kopfpolster bleibt ein leicht verfilzter Schleier brauner Haare zurück.

Mir wird flau im Magen. Wie beim Abwärtsfahren auf der Hochschaubahn. Mein Herz ist ein Sack voll Tränen, weich, schwer. Doch zwischen meinem Herz und den Augen gibt es eine unsichtbare Barriere. Die Tränen kommen nicht bis zu den Augen. Ich bin trocken wie ein Stück Holz. Ich würde so gerne weinen können. Das würde mich erleichtern. Aber ich bin im »Funktionsmodus«, im »Ich-ertrage-alles-Modus«, im »Nur-nichts-anmerken-lassen-Modus«, auch gegenüber mir selbst. Mir ist schlecht. Ich möchte schreien.

Ich streiche das feine Haarvlies mit den Fingern vom Kissen. Meine Haare!

Nichts wird mich in den folgenden Jahren meiner Krankheit noch einmal so erschüttern.

Die Kältehaube hat nicht verhindern können, dass ich eine – das Wort ist furchtbar – eine Glatze bekommen werde. Seit dem Beginn der Therapien hat mir eine der freundlichen Krankenschwestern immer die Eishaube auf den Kopf gepresst, die aussieht wie eine unförmige Schimütze oder wie ein riesiger Eierwärmer. Zwischen zwei Silikonschichten wird ein Gel auf vier Grad abgekühlt. Durch die Kälte sollen sich die Blutgefäße unter der Kopfhaut verengen, sodass die Medikamente nicht an die Haarwurzeln herankommen und die Haare erhalten bleiben. Die enganliegende Haube hat während der mehrstündigen Infusionen immer Kopfschmerzen ausgelöst, aber ich wollte alles dafür tun, um meine Locken zu retten, die Onkologieschwestern haben mich darin bestärkt und mir Mut zugesprochen.

Ich gehe ins Bad, zögere, in den Spiegel zu schauen – aber ich sehe aus wie immer in den letzten Wochen: mein Gesicht unnatürlich rosig und schwammig vom Cortison, Ringe unter den Augen. Ich wage nicht, meinen Kopf zu berühren, will nicht, dass noch mehr Haare ausfallen. Mir ist gleichgültig, was Ärzte und Freunde mir beteuert haben: »Sie werden sehen, Frau Knoll, selbst wenn Ihre Haare ausfallen sollten, sie wachsen wieder nach, das kann ich Ihnen versichern!«, »Mach dir keine Sorgen, Sonja, die kommen wieder! Bei meiner Freundin sind sie schöner nachgekommen als vorher!« Mir ist das alles scheißegal. Meine Haare sind wunderschön, ich will sie nicht schöner. Ich will sie nicht verlieren! Mein Magen verkrampft sich in ohnmächtiger Wut.

Unter dem warmen Wasserstrahl der Dusche rinnen meine Haare in braunen Schlieren den Körper hinunter. Beim Föhnen fliegen sie, leicht wie Löwenzahnfallschirmchen, einfach so vom Kopf. Ich muss nachher das Bad saugen. Aber jetzt muss ich mich zusammennehmen. Ich schminke mich ein bisschen, ziehe mich an, bereite das Frühstück vor. Dominique muss in die Schule.

Ich mache mich auf den Weg nach Bern zum Frisör. Zuerst muss ich noch zum Onkologen, dem kleinen zynischen Mann, der die Beckenkammstanzung zwar gut hinbekommen hat, aber der mich weder ernst nimmt noch mir richtig zuhört. Und der mir ungefragt eine Lebensspanne von »maximal 10 Jahren« zumisst.

»Genießen Sie’s, Frau Knoll, alt werden Sie nicht mit dem Krebs!«

Später werde ich zu einem Kollegen wechseln, einem der gewissenhaftesten Ärzte, die ich im Laufe der Jahre kennenlerne, mit ruhigen Augen und einem liebevollen Lächeln. Aber noch sitze ich in der Ordination des Kleinen. Er fragt mich nicht, wie es mir geht, sagt nur: »Aha, hat die komische Eishaube nix gebracht, hab ich Ihnen gleich gesagt!« Er kommt auf mich zu, greift mir auf den Kopf, zupft mit spitzen Fingern ein Büschel frisch gewaschener Haare heraus und wirft meine Haare achtlos in den Papierkorb. »Na, dann ...« murmelt er – soll heißen, ich muss jetzt zum Perückenmacher.

Der Frisör, der auf Perücken für Krebskranke spezialisiert ist, hat mir Wochen zuvor bei meinem Besuch in seinem Laden gesagt, sollten die Haare trotz Eishaube ausfallen, könne ich ihn immer am Handy erreichen. Ich könne wirklich jederzeit anrufen. Auch am Wochenende. Sicher!

Ich bin berührt vom Einfühlungsvermögen dieses Mannes, der mit mir, wie schon mit Hunderten Kranken vor mir, miterlebt, wie weh meine Seele tut, wie ohnmächtig ich mich fühle, wenn die Haare einfach so ausgehen, ohne dass ich es verhindern kann.

Er erklärt mir, dass ich nicht warten darf, bis alle Haare endgültig ausgefallen sein werden, das könne wochenlang dauern. Es sei besser, sie jetzt ganz kurz zu schneiden und gleich eine Perücke anzupassen. Er schaut sich meine Haarfarbe und Frisur an, holt aus dem Lager aus Hunderten Perücken drei zur Auswahl, von denen er später eine meinem Stil anpassen und zurechtschneiden wird. Die ganze Zeit über spricht er ruhig, sachlich und mitfühlend - ich fühle mich gut aufgehoben bei ihm. Er greift zur Tondeuse, wie man in der Schweiz den Haartrimmer nennt, mit dem man schicke Kurzhaarfrisuren schneidet. Er stellt die minimale Schnitthöhe für eine Stoppelglatze ein. Dann fallen meine Haare – es sind immer noch so viele! – in dunklen Büscheln zu Boden.

Ich bin dankbar, dass der Frisör nicht versucht, mich aufzuheitern.

Es gibt keinen Trost.

In ein paar Wochen, wenn auch die Haarstummeln abgefallen sein werden, wird mein Schädel völlig kahl sein. Die Haare werden aber auch sonst überall ausfallen, bis ich keine Augenbrauen, keine Wimpern, keine Achselhaare, keine Schamhaare mehr haben werde. Mein ganzer Körper wird nackt sein.

Wenigstens werde ich mir im Sommer die Beine nicht rasieren müssen.

Es gibt nur deinen Weg

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