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5. Das Lebkuchenhaus

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Kerstin schaute aus dem Fenster und sah, wie Ben freudestrahlend auf das Haus zulief. Sie fragte sich, mit welcher Idee er sie gleich überfallen würde, denn normalerweise hatte er es nicht so eilig, von der Schule nach Hause zu kommen. Von der Neugier gepackt, ging sie zur Tür, um ihm schon mal zu öffnen.

»Mama, Mama!«, rief er ihr entgegen und war dabei völlig außer Atem. »Können wir ein Lebkuchenhaus backen? Claas hat heute eins mit in die Schule gebracht, das so toll aussah. Und lecker war es auch. Wir durften alle davon naschen.«

»Jetzt mal langsam, kleiner Mann, hol erst mal Luft!« Sie streichelte ihm über den Kopf. Dann hoffte sie, dass sie sich verhört hatte. Doch das war relativ unwahrscheinlich. Backen also. Backen gehörte nicht unbedingt zu ihren Lieblingsaufgaben. Genauso wenig wie Basteln.

Im letzten Jahr hatte sie ihre Mutter eingespannt, um mit den Kindern Kekse zu backen. Da das ganz gut lief, hatte sie gehofft, dass sich das etablieren könnte.

»Wir können ja mal schauen, wann wir das hinbekommen«, sagte sie, um sich ein wenig Zeit zu verschaffen. Vielleicht würde Ben es bis heute Abend auch wieder vergessen haben. »Wie war es denn sonst so in der Schule?«

Ihr Ablenkungsmanöver funktionierte nicht. Sie konnte die Enttäuschung in Bens Augen nicht nur erkennen, sondern spüren.

»Och menno, ich wusste, dass du wieder keine Lust dazu hast. Nie machst du die Sachen mit uns, die andere Mütter machen.« Ben ging mit gesenktem Kopf an ihr vorbei und warf seine Schultasche unter die Treppe.

Das war für Kerstin wie ein Stich ins Herz. Ihr blieb also nichts anderes übrig, als zurückzurudern. »Hey, das hab ich doch gar nicht gesagt. Ich weiß nur nicht, wann es zeitmäßig passt.«

Mit weit aufgerissenen Augen sah Ben sie an. »Es passt heute, wir haben heute nichts vor.« Ohne Kerstins Antwort abzuwarten, lief er zu Emma in die Küche. »Emma, wir backen heute ein Lebkuchenhaus!«

Damit war die Entscheidung gefallen. »Dafür müssen wir aber zuerst noch einkaufen!«, rief sie ihm hinterher.

Im Supermarkt angekommen, lotste sie die beiden zielstrebig in Richtung Backartikel. Sie hoffte, ihre Kinder von einem Backset mit bereits fertigem Lebkuchen überzeugen zu können. Woher sollten sie schon wissen, dass man Lebkuchen auch selber backen konnte?

Es gab drei Sets zur Auswahl, und es sollte natürlich das größte sein. Zusätzlich packte sie Schokolinsen und Gummibärchen für die Verzierung ein.

Kurz überlegte sie, ein zweites Set als Plan B zu kaufen, verwarf diesen Gedanken dann aber. Immer optimistisch bleiben!

Als sie wieder zu Hause ankamen, stürmten die Kinder direkt in die Küche. Das sollten sie mal machen, wenn es um die Frühstücksvorbereitung ging, dachte Kerstin und musste schmunzeln. Der Anblick ihrer freudestrahlenden Kinder war schon schön und sorgte für ein wohliges Gefühl.

»So, ihr zwei. Bevor wir anfangen: Händewaschen nicht vergessen! Ich mache in der Zwischenzeit etwas Weihnachtsmusik an.«

Emma lief Kerstin hinterher, um sicherzustellen, dass auch ja ihre Lieblings-Weihnachts-CD gespielt wurde.

Als beide in die Küche zurückkamen, hatte Ben sich bereits über die Verpackung hergemacht. Er las die Anleitung und stapelte die einzelnen Lebkuchenstücke nebeneinander auf. Sogar nach Größe sortiert. Was Begeisterung so alles bewegen konnte …

Fünfzehn Minuten später: Es kam, wie es kommen musste. »Emma, zum hundertsten Mal, lass sie liegen! Du sollst die Gummibärchen nicht schon alle vorher essen«, sagte Kerstin und bemühte sich, nicht die Beherrschung zu verlieren.

»Aber mir ist langweilig«, antwortete sie und trat mit ihren Füßen gegen das Tischbein. »Wir machen gar nichts.«

»Geht ja gleich los, ich muss nur noch dieses Puderzuckerzeug fertigmachen.«

»Ich glaube nicht, dass das so aussehen soll«, mischte Ben sich in das Gespräch ein.

»Woher willst du denn wissen, wie das aussehen soll? Wir haben das doch noch nie gemacht.« Kerstins Ton wurde schärfer.

»Aber ich dachte, das soll kleben!« Ben nahm den Rührlöffel aus dem Topf, woraufhin die Plörre sofort daran herunterlief.

»Ja, es ist vielleicht etwas zu flüssig, okay. Dann rühren wir eben noch etwas Puderzucker hinein.«

Anschließend fügte Kerstin wieder etwas Wasser hinzu, weil der Rührlöffel feststeckte. Dann wieder Wasser … und Puderzucker … ein Teufelskreis. Nachdem das eine ganze Weile so weiterging, hatte der Zuckerguss plötzlich wie von Zauberhand eine einigermaßen akzeptable Konsistenz angenommen. Auch wenn die Menge jetzt wahrscheinlich für drei Lebkuchenhäuser reichen würde. Aber es konnte ja nicht schaden, etwas mehr davon zu haben. Die Angaben in den Rezepten stimmten ohnehin nie. Zumindest aus Kerstins Sicht.

Dass Emma sich zwischenzeitlich über die Schokolinsen hergemacht hatte, bekam niemand mit.

Ben nahm den Lebkuchen und bestrich die Ränder mit dem Zuckerguss.

»Jetzt noch die Wände aufstellen und alles kurz festhalten, bis es angetrocknet ist«, wies Kerstin ihn an.

Ben versuchte es, aber die Seitenteile rutschten immer wieder von dem Lebkuchenboden ab oder kippten zur Seite. Dabei verschmierte der Zuckerguss und verteilte sich über den gesamten Lebkuchen inklusive dem Holzbrett.

Kerstin strich immer wieder Zuckerguss nach, in der Hoffnung, dass es das besser machte. Nach dem dritten Versuch wurde auch Ben langsam ungeduldig.

»Oh Mann, das hält überhaupt nicht! Du hast das nicht richtig vorbereitet, Mama.«

Kerstin versuchte, ruhig zu bleiben. Natürlich ging ihr durch den Kopf, dass es nicht ihre Idee war, dieses Lebkuchenhaus zu bauen, aber das sagte sie nicht. »Wir müssen etwas anderes versuchen. Wir ritzen Kerben in die Bodenplatte, damit wir die Wände da reinstecken können. Dann müsste es halten«, schlug sie vor.

Ben nahm einen Löffel und machte sich ans Werk. Kerstin trat einen Schritt vom Küchentisch weg, um Ben genügend Platz zu geben. Dabei fiel ihr Blick auf Emmas leeren Stuhl. »Emma? Emma, wo bist du?« Kerstin hörte ein leises Kichern aus dem Wohnzimmer. »Was machst du denn hier?« Sie ging ins Wohnzimmer und sah auf dem Laminat die Spur, die sie hinterlassen hatte.

Emma saß schokoladenverschmiert auf dem Boden und blätterte in einem Buch, das daraufhin ebenfalls schokoladenverschmiert war. »Backen ist doof«, antwortete sie.

Auch wenn Emma ihr aus der Seele sprach und der Anblick wirklich lustig war, durfte sie ihr das Verhalten nicht durchgehen lassen. »Wer etwas anfängt, muss es auch zu Ende bringen!« Sie nahm Emmas klebrige Hand und zog sie zurück in die Küche.

Wie lange war sie fort gewesen? Kerstin traute ihren Augen kaum. Nun glich auch die Küche einem Schlachtfeld. Ben hatte die Lebkuchenkrümel über den kompletten Tisch und Fußboden verteilt.

Bevor Kerstin etwas sagen konnte, rief Ben: »Ich bin gleich fertig!«

Es war zwar alles etwas krumm und schief, aber das war Kerstin egal. Perfektion hatte hier keinen Platz. Sie setzte Emma auf ihren Stuhl zurück und schnappte sich die Schüssel mit dem Zuckerguss, um bei den Ecken nachzubessern. Nachdem sie diesen großzügig verteilt hatte, schien es zu halten. Ihre Hände klebten, sie hasste dieses Gefühl. Aber das Häuschen stand.

»So, jetzt noch verzieren, aber seid vorsichtig. Ich mach das hier nicht noch mal.«

Ben und Emma schnappten sich die übriggebliebenen Schokolinsen und Gummibärchen und tauchten sie in den Zuckerguss.

Als Michael von der Arbeit nach Hause kam, überfiel Ben ihn direkt an der Tür. »Papa, wir haben ein Lebkuchenhaus gebacken!«


»Tatsächlich?« Er warf einen fragenden Blick in Richtung Kerstin.

»Ja, schau es dir an!« Ben zog ihn in die Küche.

»Das habt ihr aber toll gemacht.« Michael streckte seine Hand aus und pulte an einer Schokolinse. »Die sind aber fest.« Er verstärkte den Druck ein wenig, worauf die Lebkuchenwand zur Seite kippte. Das Dach fiel hinunter.

Entsetzt blickten Michael und Ben auf die Trümmer des Lebkuchenhauses.

Michael schnappte seine Jacke und ging zur Tür. »Ich fahr noch mal zum Supermarkt.«


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