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1. Der Adventskalender – genug ist genug

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»So ein Mist!« Kerstin versuchte, klebrige Pappstücke von ihren Fingern zu lösen. Sie schüttelte die rechte Hand, doch nichts geschah. Dann zupfte sie mit den Fingern der anderen Hand daran herum. Wunderbar, nun klebte eines der Pappfetzen am Zeigefinger der linken Hand. »Ich dreh durch! Das wird doch hier niemals was!« Kerstin schnaufte, schüttelte den Pappfetzen mit einer energischen Bewegung ab und knüllte danach die restlichen, vor ihr liegenden Papp- und Papierstücke zusammen.

Michael saß auf dem Sofa und las Zeitung. Zumindest hatte er das bis vor Kurzem getan. Jetzt beobachtete er das Schauspiel heimlich aus vermeintlich sicherer Entfernung. Die Zeitung verdeckte sein Schmunzeln. Am Tonfall seiner Frau erkannter er, dass es im Moment besser für ihn wäre, sich nicht bemerkbar zu machen. Also verhielt er sich still. Jegliche Einmischung konnte nur zur Eskalation der Situation führen.

»Kannst du noch mal schnell zum Bastelladen fahren?«, fragte sie Michael, ohne aufzusehen. »Ich brauche neue Pappe für diese bescheuerten Schachteln. Und einen anderen Kleber. Dieses Zeug hier funktioniert nicht. Es ist zu alt.«

Als Michael nicht sofort reagierte, blickte Kerstin von ihrem Papierhaufen auf. Sie starrte in Richtung Michael, als ob sie mit ihrem Blick ein Loch in die Zeitung brennen wollte. Gleichzeitig schüttelte sie die Flasche mit dem Kleber so wild, dass es wahrscheinlich ein Unglück gegeben hätte, wäre dieser nicht so eingetrocknet gewesen. Eine Haarsträhne fiel ihr ins Gesicht, und auf ihrem Hals waren deutliche Stressflecken zu sehen. Wäre die Situation nicht so brisant gewesen, hätte Michael lauthals losgelacht. Kerstins Anblick war wirklich zu komisch.

»Eigentlich wollte ich gleich zum Sport«, antwortete Michael gespielt beiläufig und wusste, dass er so leicht nicht aus dieser Nummer rauskommen würde. Aber allzu einfach wollte er es ihr auch nicht machen.

»Echt jetzt?« Kerstin stellte den Kleber ab. »Das kannst du doch später machen. Ich muss auch noch die ganzen Geschenke für die Adventskalender kaufen. Ich weiß nicht, wie ich das alles noch rechtzeitig schaffen soll! Morgen ist der Erste …«

Ärger stieg in Michael auf. Wieder gab es das gleiche Theater wie im letzten Jahr. Und im vorletzten. »Du hast mich doch gefragt. Und wer eine Frage stellt, muss mit der Antwort leben. Entschuldige, aber jedes Jahr gerätst du in Stress wegen der ollen Adventskalender.«

»Ja, weil du mir ja auch nicht hilfst. Weißt du eigentlich, wie viel Arbeit da drinsteckt? Vierundzwanzig kleine Geschenke pro Kind. Ich fahre dafür mindestens in drei verschiedene Läden. Es soll ja wohl auch nicht nur Süßigkeiten geben.«

»Keiner zwingt dich dazu. Lass es doch einfach sein! Ben und Emma werden kein Trauma erleiden, wenn sie keinen Adventskalender bekommen.«

Kerstin starrte Michael mit weit geöffneten Augen an. »Das ist doch jetzt nicht dein Ernst!? Die Kinder müssen auf ihren Adventskalender verzichten, weil du lieber zum Sport willst?«

»Es liegt wohl eher daran, dass du zu spät damit angefangen hast.« Michael duckte sich sicherheitshalber weg, falls Kerstin auf die Idee kommen sollte, etwas nach ihm zu werfen. »Ich denke, dass diese ganze Adventskalendersache mittlerweile überhandnimmt. Darüber sollten wir mal nachdenken.«

»Wenn du meinst«, antwortete Kerstin, stand von ihrem Stuhl auf und verschränkte die Arme.

Michael hatte das Geschäft um die Adventskalender schon seit langem satt. In den Supermärkten standen seit Wochen die Adventskalender diverser Hersteller in den Regalen. Von billiger Schokolade bis zu Marken-Plastikspielzeug war alles dabei. Jeder Kalender musste größer, bunter und toller sein. Er vermied schon, seine Kinder überhaupt mit in den Supermarkt zu nehmen, um Diskussionen vorzubeugen. Was am Ende von den Kalendern übrigblieb, war Krimskrams, der nach kurzer Zeit unterm Bett oder bestenfalls im Mülleimer endete. Wann hatten Eltern aufgehört, ihren Kindern sinnvolle Geschenke zu machen?

»Ich bin mit einem simplen Schokoladenkalender aufgewachsen«, sagte Michael. »Es war das Größte für mich, morgens noch vor dem Frühstück das Türchen zu öffnen und dieses besondere Stückchen Schokolade zu essen.«

»Das war bei mir doch genauso«, antwortete Kerstin. Ihre Stressflecken verblassten langsam. »Die Zeiten haben sich aber geändert. Früher gab es diese Auswahl nicht.«

»Aber nur, weil es diese Vielfalt jetzt gibt, müssen wir da doch nicht mitmachen.« Michael schüttelte seinen Kopf.

Kerstin erklärte Michael, dass sie sich aus diesem Grund dazu entschlossen hatte, die Adventskalender selber zu basteln. »Nur deshalb habe ich doch diese ganze Arbeit damit. Spaß macht mir der Bastelkram bestimmt nicht, das weißt du. Ich finde es aber wichtig, dass die Kinder merken, dass die Vorweihnachtszeit etwas Besonderes ist. Und ein Adventskalender gehört für mich dazu.«

»Dann lass uns doch eine andere Lösung finden«, sagte Michael.

Während sie nach einer Alternative suchten, kochte Michael erst mal einen Kaffee. Die beiden hatten schon viele Probleme mit Kaffee gelöst. Während des weiteren Gesprächs stellten sie fest, dass ihre Meinungen gar nicht so weit auseinander lagen. Die selbstgebastelten Kalender waren schon eine gute Lösung. Allerdings waren sie am Ende auch viel teurer als Fertigprodukte.

»Wir überschütten unsere Kinder mit Geschenken. Hier eine Kleinigkeit, dort eine Kleinigkeit. Und am Ende wundern wir uns, dass sie nicht damit zurechtkommen, wenn wir ihnen mal einen Wunsch abschlagen«, stellte Michael fest.

Kerstin konnte ihm da nur zustimmen. Der Prozess ließ sich nur schwer aufhalten, war er erst einmal in Gang gesetzt.

Plötzlich hatte Michael eine Idee. Es sollte ab sofort einen Familien-Adventskalender geben. Die Rechnung war simpel: vier Personen und vierundzwanzig Tage. Das bedeutete sechs Geschenke pro Person.

»Spürst du das auch?«, fragte Kerstin. »Ich glaube, der Geist der Weihnacht hat uns gerade bei der Lösung unseres Problems geholfen.«

»Oder der Kaffee«, antwortete Michael und zwinkerte Kerstin zu. »Aber du hast recht. Wir müssen uns viel häufiger darauf besinnen, was wichtig ist.«

Nachdem alle Geschenke gekauft und in kleinen Baumwollsäckchen verpackt waren, riefen Michael und Kerstin die Kinder ins Wohnzimmer, um den neuen Familien-Adventskalender zu präsentieren.

Ben und Emma freuten sich über den Anblick des Kalenders. Aber wahrscheinlich hatten sie mit ihren acht und vier Jahren noch nicht sofort verstanden, dass es in diesem Jahr weniger Geschenke gab. Die nächsten Tage würden es zeigen.

Gemeinsam suchten sie einen Platz im Wohnzimmer, um den Kalender aufzuhängen.

Plötzlich blickte die kleine Emma erschrocken auf. »Lucy, wir haben Lucy vergessen!«

Wie aufs Stichwort schlenderte Katze Lucy ins Wohnzimmer. Als sie die Säckchen an der Wand entdeckte, lief sie freudig darauf zu. Veränderungen machten sie immer sehr neugierig. Prompt fing sie auch an, mit dem Schleifenband, das um eines der Säckchen gebunden war, zu spielen.

Kerstin krauelte Lucy am Köpfchen und sagte: »Wir haben sie nicht vergessen. Lucy hat jetzt einen Monat lang ein fantastisches Spielzeug.«

Zur Bestätigung setzte ein wohliges Schnurren ein.

Die familiäre Stimmung wurde von der Türklingel unterbrochen. Als Michael öffnete, konnten die anderen bereits die unverwechselbare Stimme von Oma Annemarie hören. Zielstrebig kam sie ins Wohnzimmer. »Schaut mal Kinder, was ich euch mitgebracht habe!« Voller Stolz streckte sie ihnen zwei riesige Adventskalender entgegen.

Ben und Emma grinsten über beide Ohren und liefen ihr entgegen.

Kerstin und Michael blickten sich wortlos an – so viel dazu.


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