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4. Weihnachten im Schuhkarton
ОглавлениеJedes Mal, wenn Michael das Schulgebäude betrat, kamen die Erinnerungen an seine eigene Schulzeit wieder hoch. Dieser unverwechselbare Duft aus PVC, Schweiß und altem Mauerwerk. So konnte nur ein Schulgebäude riechen. Das würde sich wahrscheinlich nie ändern. Mit großen Schritten nahm er zwei Stufen auf einmal und ging die Treppe hinauf in den zweiten Stock. Am Ende des Flures lag Bens Klassenzimmer auf der linken Seite.
Es war Elternabend, und er wollte pünktlich sein, um es zu vermeiden, ganz vorne sitzen zu müssen. Auch diese Dinge änderten sich anscheinend nie.
Als er das Klassenzimmer betrat, war es etwa halb voll. Seine Eile hatte sich gelohnt.
Er legte seine Jacke auf einem Stuhl in der vorletzten Reihe ab. Nachdem er sich diesen Platz gesichert hatte, ging er zum Pult, um die Klassenlehrerin zu begrüßen.
»Hallo, Frau Kleinschmidt. Wie geht es Ihnen?«
»Ach, Herr Krüger, schön, dass Sie da sind. Wir haben heute einiges auf der Tagesordnung, und bei unserem Kooperationsprojekt zähle ich auf Ihre Unterstützung.« Frau Kleinschmidt zwinkerte ihm zu.
Was das wohl wieder bedeutete?
Kerstin und er gingen nicht gern zu den Elternabenden oder zu sonst irgendwelchen Elternveranstaltungen. Sie wollten sich an den kräftezehrenden und überflüssigen Kleinkriegen, die permanent an verschiedenen Fronten ausbrachen, nicht beteiligen. Es war schon erstaunlich, welches Engagement einige Eltern aufbrachten, wenn es um eine vermeintliche Benachteiligung ihrer Sprösslinge ging.
Nichtsdestotrotz hielten die beiden es für notwendig, sich zumindest beim Elternabend blicken zu lassen.
In diesem Jahr hatte es Michael getroffen. Er hatte beim Schere, Stein, Papier-Spiel verloren. Auf diese Art trafen Kerstin und er einige ihrer unliebsamen Entscheidungen.
Nach den allgemeinen Worten zum Verlauf des Schuljahres, den krankheitsbedingten Unterrichtsausfällen und dem Stand der längst überfälligen Renovierungsmaßnahmen des Schulgebäudes ging es plötzlich ans Eingemachte: der Weihnachtsbasar.
Einmal im Jahr organisierte die Schule einen Weihnachtsbasar. Dort wurden Bastelarbeiten der Kinder sowie selbstgebackener Kuchen der Eltern verkauft. Der Erlös wanderte in die jeweilige Klassenkasse und wurde für einen Ausflug genutzt. Mit dieser Tradition wollte Frau Kleinschmidt in diesem Jahr brechen. Für einen guten Zweck. Gewagt!
»Wie Sie vielleicht wissen, hat unsere Schule ein Kooperationsprojekt mit Schulen in Namibia. Anlässlich des Weihnachtsfestes schlage ich Ihnen vor, die Kinder in unserer Partnerklasse in Windhoek zu unterstützen; und zwar mit einer gezielten Spendenaktion. Sie nennt sich Weihnachten im Schuhkarton und wird seit vielen Jahren überall auf der Welt praktiziert.«
»Und was ist dann mit dem Weihnachtsbasar?«, fragte eine Mutter aus der ersten Reihe.
»Den würden wir in diesem Jahr dafür ausfallen lassen.«
Ein Raunen zog sich durch die Klasse.
»Dürfte ich Ihnen vielleicht erklären …«
Frau Kleinschmidt wurde von einer anderen Mutter unterbrochen: »Aber unsere Kinder freuen sich doch schon so sehr darauf. Also meine Sophie hat zu Hause schon ganz fleißig angefangen zu basteln.«
»Meine Claudia auch«, stimmte eine andere Mutter ein.
»Jetzt lasst Frau Kleinschmidt doch mal ausreden!«, entfuhr es Michael lauter, als er es beabsichtigt hatte. »Ihre Mädchen können doch trotzdem etwas basteln. Das verbietet ihnen doch keiner.« Jetzt war klar, worauf Frau Kleinschmidt bei der Begrüßung angespielt hatte.
»Vielen Dank, Herr Krüger. Es geht darum, dass jedes Kind dieser Klasse ein Weihnachtsgeschenk an ein Kind unserer Partnerklasse verschickt. Mit Ihrer Hilfe natürlich. Dadurch lernen Ihre Kinder, dass es Teile in der Welt gibt, in denen es nicht allen Menschen so gut geht wie uns hier in Deutschland. Das Geschenk muss in einem Schuhkarton verpackt werden, damit es einfach und unbeschadet transportiert werden kann. Im Deutschunterricht würden wir gemeinsam Briefe für die beschenkten Kinder schreiben und Bilder malen. Wie gesagt, bei den Geschenken brauchen wir Ihre Unterstützung. Das gibt unsere Klassenkasse nicht her. Jedes Präsent sollte etwa 8 – 10 Euro kosten.«
Unruhe machte sich im Klassenraum breit. Die Eltern fingen an, sich halblaut mit ihren Nachbarn zu unterhalten. Es war deutlich spürbar, dass es eine geteilte Meinung zu diesem Thema gab.
Plötzlich meldete sich eine Mutter zu Wort: »Ich möchte eigentlich nicht, dass mein Sohn zu Weihnachten mit dem Leid anderer Kinder konfrontiert wird. Dafür ist er zu klein.«
»Das ist doch albern! Ab wann ist er denn groß genug?«, fragte ein Vater von der hinteren Bank. »Du kannst deinen Sohn doch nicht in Watte packen.«
»Aber warum denn Namibia, in Deutschland gibt es auch arme Kinder«, sagte jemand.
Einige andere nickten bestätigend.
Während sich die Diskussion vertiefte, wurden die Argumente immer haarsträubender. Es zeichnete sich keine Einigung ab.
Frau Kleinschmidt beobachtete das Geschehen und wirkte dabei wie ein scheues Reh.
Michael fragte sich, wann diese Farce ein Ende haben würde.
»Hey Leute, wir drehen uns im Kreis«, sagte er. »Worüber reden wir hier eigentlich? Es geht um Geschenke für bedürftige Kinder. Da kann doch nicht wirklich jemand etwas dagegen haben, oder? Ja, Armut gibt es überall auf der Welt. Da wir aber nicht allen Menschen gleichzeitig helfen können, macht es doch wohl Sinn, zumindest irgendwo anzufangen. Dafür ist jede Lösung gleich gut. Alle, die sich für ein anderes Projekt interessieren, können sich ja gerne außerhalb der Schule dafür engagieren. Wir dürfen unsere Augen nicht vor der Realität verschließen und unseren Kindern eine heile Welt vorspielen. Hilfsbereitschaft und Nächstenliebe, das sollten wir unseren Kindern beibringen. Gerade zu Weihnachten.«
Stille durchflutete den Klassenraum. Einige Eltern sahen betreten zu Boden.
Die Mutter neben Michael reagierte als Erste: »Ja, er hat recht!«, rief sie.
Daraufhin gaben sich auch andere Eltern einen Ruck und stimmten zu.
Das Abstimmungsergebnis lag schlussendlich bei 18:4 für die Aktion Weihnachten im Schuhkarton und damit deutlich gegen den Weihnachtsbasar.
Frau Kleinschmidt atmete hörbar aus und ließ sich mit ihrem Po an der Kante ihres Pults nieder.
Michael fragte sich, wie sie es schaffte, sich den Kindern gegenüber durchzusetzen.
Nach der Abstimmung besprachen sie das weitere Vorgehen und setzten Fristen, bis wann die Geschenke in der Klasse abgegeben werden mussten.
Auf dem Heimweg war Michael zufrieden mit dem Ergebnis und auch ein bisschen stolz auf sich. Über die Engstirnigkeit einiger Eltern konnte er sich nur immer wieder wundern.
»Und, wie war es?«, begrüßte ihn Kerstin mit einem breiten Grinsen, das ihre Schadenfreude verriet.
»Super«, antwortete Michael. »Ich hab den Weihnachtsbasar abgeschafft und mich für notleidende Kinder eingesetzt.«
»Ja, klar«, sagte Kerstin. »Hast du den Weltfrieden auch geregelt?«
»Fast. Und ach ja, ich bin jetzt auch übrigens Elternsprecher.«
»Veräppeln kann ich mich alleine.« Kerstin ging an Michael vorbei und stupste ihn gegen die Schulter.