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3. Der Nachbar und das Rentier

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»Hast du das schon gesehen?«, fragte Michael und betrat das Haus mit großen, stampfenden Schritten.

»Nein, was denn?«, fragte Kerstin.

»Na da drüben, die Weihnachtsbeleuchtung bei den Meyers.« Michael zeigte auf das gegenüberliegende Haus. »Das wird auch jedes Jahr mehr bei denen. Das macht Harald nur, um mich zu provozieren.«

»Ist mir noch gar nicht aufgefallen. Wo denn?«

»Na gleich da drüben!« Michael zeigte mit ausgestrecktem Arm auf die offenstehende Haustür.

»Ach, Schatz. Lass dich davon doch nicht so stressen! Wie war das noch gleich? Ruhe und Besinnlichkeit? Atme einfach tief durch.« Kerstin stellte sich vor Michael und strich ihm über die Schultern. »Oder musst du jetzt auch gleich wieder was Neues kaufen?«

»Was soll das denn heißen?«

»Na ja, im letzten Jahr war es ja auch so. Irgendwie kannst du es nicht auf dir sitzen lassen, wenn Harald Meyer mehr zu bieten hat als du. Also in Sachen Weihnachtsbeleuchtung.«

Ihr Zwinkern konnte Michael nicht aufheitern.

Sie wollte ihn mit dem Spruch eigentlich nur ein wenig triezen, hatte aber voll ins Schwarze getroffen.

»Schön, dass du das lustig findest«, antwortete er.

»Ach, jetzt spiel hier nicht die beleidigte Leberwurst! Vor ein paar Jahren habe ich nur dir zuliebe zugestimmt, dass du diesen komisch leuchtenden Hirsch mit Schlitten im Vorgarten aufstellen darfst. Ich mag dieses kitschige Zeug nun mal nicht. Und was ist seitdem daraus geworden? Mittlerweile haben wir einen Weihnachtsmann, einen Weihnachtsbaum, drei Elfen und diese irre blinkenden Sterne, die eher einen epileptischen Anfall verursachen, als Weihnachtsstimmung zu erzeugen. Jetzt reicht es langsam!«

»Ein Rentier«, antwortete Michael.

»Bitte?«, fragte Kerstin verwirrt.

»Es ist ein Rentier und kein Hirsch.«

»Du meine Güte, dann eben ein Rentier. Wir haben jedenfalls definitiv keinen Platz mehr für ein weiteres Leuchtspektakel im Garten.« Kerstin wollte sich gerade umdrehen, als Michael ihr widersprach: »Seit wann hast du das denn alleine zu entscheiden? Das ist auch mein Garten, in dem definitiv genug Platz wäre. Außerdem war ich der Erste in der Nachbarschaft, der überhaupt eine Weihnachtsbeleuchtung aufgestellt hat. Harald hat es mir nachgemacht und versucht seitdem, mich zu übertrumpfen. Er hat mit diesem Wettstreit angefangen, nicht ich. Du weißt gar nicht, wie unangenehm er sich manchmal verhält.«

»Ach herrje, du armes Opfer! Hörst du dir eigentlich selber zu? Du hättest diesen Wettstreit ja nicht eingehen müssen. Du klingst wie ein kleines Kind. Da ist Ben ja vernünftiger.«

»Schön, dass du immer bei allem so reflektiert bist. Aber es hat jetzt keinen Zweck, mit dir darüber zu diskutieren. Du willst das gar nicht verstehen. Ich bringe jetzt die Weihnachtsbeleuchtung an, die wir haben, und dann sehen wir weiter.« Ohne ein weiteres Wort verließ er das Haus.

Kerstin war genervt. Nein, sie verstand es nicht. Und ja, sie wollte es auch nicht verstehen. Harald war zwar etwas merkwürdig, aber in diesem Fall übertrieb Michael. Harald war eher der ruhige, beobachtende Typ.

Dieses Gehabe sah Michael überhaupt nicht ähnlich. Den heutigen Samstag hatte sie sich jedenfalls anders vorgestellt. Als Familie.

Nach dieser Ansage war es allerdings sinnvoller, alleine mit den Kindern Pläne zu schmieden. Michael würde in den folgenden Stunden beschäftigt sein.

Als sie aus dem Fenster schaute, sah sie, wie Ben draußen um seinen Vater herumwuselte. Er war auch ganz verrückt nach diesem Kitsch. Dann würde sie heute wohl etwas mit Emma alleine unternehmen. Kerstin nahm sich vor, das Thema Weihnachtsbeleuchtung für den heutigen Tag abzuhaken.

Etwa drei Stunden später kamen Emma und sie aus dem Schwimmbad zurück, wo sie riesigen Spaß hatten. Emma machte gewaltige Fortschritte beim Schwimmen lernen.

Kerstin hatte währenddessen den Trubel zu Hause fast vergessen. Das änderte sich schlagartig, als sie in die Einfahrt fuhr oder, besser gesagt, fahren wollte. Kartons, Lichterketten und ein Werkzeugkoffer versperrten ihr den Weg.

Michael stand mit hochrotem Kopf und einer Rolle Isolierband auf der Leiter. Ben schien zwischenzeitlich die Lust verloren zu haben. Jedenfalls war er nicht mehr hier draußen.

Emma und Kerstin stiegen aus. »Was ist denn hier los?«, rief Kerstin in Michaels Richtung.

Michael reagierte nicht und arbeitete stur weiter. Sie sah Harald auf der anderen Straßenseite stehen, der sich augenscheinlich über Michaels Anblick köstlich amüsierte. Dann rief er herüber: »Schau mal, deine Frau ist da! Vielleicht kann sie dir ja helfen. Ihre Finger sehen etwas geschickter aus als deine.«

Hier war etwas ganz und gar nicht in Ordnung. Kerstin verstand diesen Wettstreit zwischen Michael und Harald nicht und hatte ihn vorhin als Ego-Männerkram oder Midlife-Crisis abgetan. Doch aus nächster Nähe mit anzusehen, wie Michael öffentlich angegriffen wurde, das konnte sie so nicht stehen lassen.

Schlagartig setzte ihr Beschützerinstinkt ein. Sie warf Harald einen bösen Blick zu, frei nach dem Motto: Wenn Blicke töten könnten, und schüttelte dabei den Kopf. Der konnte was erleben!

»Ich bin gleich wieder da!«, rief sie Michael zu und brachte Emma ins Haus. Sozusagen in die Sicherheitszone.

Als Nächstes musste ein Schlachtplan her. Deshalb kochte sie erst mal einen Kaffee; der hat noch immer geholfen.

Als sie mit den Bechern vor die Haustür ging, verstand Michael ihre Geste sofort. Ein Lächeln vertrieb sein grimmiges Gesicht, während er von der Leiter stieg.

Die beiden setzten sich auf die Stufe vor ihrem Haus, tranken den Kaffee, währenddessen Michael sein Problem schilderte.

Harald rief wieder irgendwas herüber, doch das ignorierten sie.

Anscheinend hatten Mäuse in den letzten Monaten an den Kabeln der Weihnachtsbeleuchtung genagt. Es funktionierte nur noch eine kleine Elfe. Alle Reparaturversuche waren bisher erfolglos verlaufen.

Während Michael noch sprach, kam Harald zu den beiden herüber, um sich die gewünschte Aufmerksamkeit zu verschaffen.

»Hallo, Nachbar, gibt’s Probleme?«, fragte er in einem solch gehässigen Ton, dass selbst Kerstin ihm am liebsten ein paar Takte erzählt hätte.

Doch Michael hielt sie zurück. »Alles in Ordnung«, antwortete Michael mit aufgesetztem Grinsen. »Einen schönen Tag noch!« Michael deutete ihm mit einer Handbewegung, zurück zu seinem Haus zu gehen.

Die beiden konnten Haralds Gelächter noch hören, als er fast schon wieder bei seinem Haus angekommen war.

»Was ist sein gottverdammtes Problem?«, fragte Kerstin.

»Ich hab doch gesagt, dass er unangenehm ist«, antwortete Michael.

»Unangenehm ist eine maßlose Untertreibung. Aber egal, nicht aufregen. Ist von diesem Zeug hier noch irgendwas zu retten?« Kerstin zeigte auf den Kabelhaufen in der Einfahrt.

Michael zog eine Augenbraue hoch. Die Frage kam überraschend für ihn. »Äh, dafür brauchen wir einen Elektriker, denke ich. Die Kabel müssen ausgetauscht oder geflickt werden.«

»Super, ich rufe meinen Cousin Dietmar an. Der kann das garantiert mal eben erledigen. Ich warte hier auf ihn und zeige ihm alles. Du kannst in der Zwischenzeit in den Baumarkt oder sonst wo hinfahren, um noch etwas aufzurüsten. Dir wird schon etwas einfallen, was wir noch gebrauchen können. Was meinst du?«

Michael war sprachlos. Er umarmte Kerstin und gab ihr einen Kuss. »Ich glaube, meine Frau wurde im Schwimmbad von Außerirdischen entführt. Aber da will ich mich jetzt mal nicht beschweren«, flüsterte er ihr ins Ohr.

»Wir sind doch ein Team. Der da drüben hat das letzte Mal über uns gelacht!«


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