Читать книгу Violet - Dunkelheit / Entfesselt - Buch 4-5 - Sophie Lang - Страница 6
ОглавлениеKapitel 3
Irgendwann später, denke ich, weil sich die Zeit wie zähflüssiger Sirup anfühlt, humple, laufe ich frisch geduscht, gepflegt, nun doch nicht neu eingekleidet, aber dafür mit einer neuen Fähigkeit ausgestattet, die ich noch nicht einzuordnen weiß, zurück in meine Kammer.
Bevor ich beginne, die Welt zu retten, sollte ich wieder richtig laufen können, mich von dieser lästigen Schiene befreien, denke ich, als ich spüre, dass ich nicht alleine bin, dass ich beobachtet werde.
Meine Übersinne funktionieren immer besser.
Ich weiß, es steht jemand hinter der Panzerglasscheibe und beobachtet mich, trotzdem oder gerade deshalb tue ich so, als wüsste ich es nicht. Ich setze mich auf das Bett, rutsche nach hinten bis an die Wand, strecke meine Füße aus und lasse es zu.
Ich fühle es ganz deutlich. Jemand steht dort, studiert mich. Es sollte mir nicht gut gehen. Aber trotz aller Sorgen um Asha, wie sie mich angesehen hat? Um Hope, wie es ihr geht? Um Adam, was sie mit ihm machen und um Jesse und die anderen, wo sie sind? Trotz aller Ängste und Sorgen ist mir das alles hier vertraut. Das ist meine Kammer, meine Zelle. Hier bin ich daheim.
Ich werde beobachtet wie ein Objekt und es ist okay, als wäre es das normalste auf der Welt, wie eine Bestie eingesperrt zu sein und wie eine Laborratte studiert zu werden.
Ich betrachte den Sensor neben der Panzerglasscheibe. Er leuchtet rot. Ich müsste ihn lediglich betätigen und er würde auf grün umspringen. Grün bedeutet, dass die Scheibe zu beiden Seiten undurchsichtig ist. So wie es Asha getan hat. Warum verschließt sie sich vor mir? Vielleicht kennt er, der vor der Trennwand steht, die Antwort?
Ich stehe auf und humple nach vorne. Die Schiene summt mit jedem Schritt. Ich gehe dort hin, nicht um den Sensor zu betätigen, obwohl die Versuchung groß wäre, jetzt ungestört zu sein. Nein, ich will nun doch wissen, wer es ist, der mich anstarrt.
Ich bin da, berühre die Scheibe, fühle wie kalt sie ist. Aber nicht im Entferntesten so kalt wie meine Haut, wenn meine Bestien erwachen. Das Sichtfenster wird größer und ich halte durch, bis die ganze Wand transparent ist, bis ich alles und jeden sehen kann, der sich auf der anderen Seite befindet. Ich wage es nicht, die andere Seite Freiheit zu nennen, weil ich mich nicht eingesperrt fühle.
Der Mann trägt keine Uniform. Keinen roten Panzer, so wie die Vollstrecker. Er ist in einen schwarzen Stoff gekleidet, der mich an Sektion 13 erinnert. An den Finanzdistrikt, an die Menschen, die dort Tag für Tag zur Arbeit gehen und von all dem hier nichts wissen, nicht das Geringste ahnen. Wie unwirklich sich dieser Gedanke anfühlt. Als befände ich mich in einer anderen Welt.
Was die Menschen in Sektion 13 oder in all den anderen Sektionen machen würden, wenn sie über die Wahrheit Bescheid wüssten? Wäre das eine Möglichkeit, die Pfeiler, die Machtstrukturen der Gesandten zu erschüttern? Alle in Kenntnis zu setzen, um zu revoltieren?
Ich betrachte wieder den Mann. Alles an ihm folgt einer klaren Struktur, unbeugsamen, unsichtbaren Linien. Angefangen bei seiner wie aus Stein gemeißelten Nase, bis zu der Schnürung seiner Schnürsenkel. Wenn er Entscheidungen trifft, dann überlässt er nichts dem Zufall, denke ich.
Er lächelt mich an und etwas Wärme scheint von ihm, seinem Herzen zu mir, in mein Zimmer zu rieseln. Das Lächeln ist echt. Ich beobachte ihn ohne zu wissen, wie ich auf ihn, auf die mir geschenkte Freundlichkeit reagieren soll.
Nun begibt er sich zum Schließmechanismus oder Öffnungsmechanismus, wie man es sehen möchte und meine Zimmertür öffnet sich für mich. Jetzt, da er sich bewegt hat, erkenne ich ihn wieder. Er war es, der mir auf dem Dach der Forschungsstation das Leben gerettet hat. Der den Vollstreckern befohlen hat, das Feuer einzustellen, ihre Waffen nach oben gerissen hat, damit sie den Himmel treffen und nicht Hope oder mich. Auf dem Dach trug er etwas Militärisches - erinnere ich mich. Ganz anders als jetzt. Er sieht vielmehr aus, als wäre er ein Geschäftsmann.
Mit mir ist schlecht Geschäfte zu machen. Ich habe nicht viel zu bieten. Außer einem in die Jahre gekommenen, blauen Teddy und ein paar Fähigkeiten. Körperlicher Kram würde Hope sagen und etwas anderes. Etwas, das dort oben auf dem Dach passiert ist und eben im Badezimmer. Etwas, das ich noch weiter erforschen muss. Etwas, das mich dazu befähigte, Hope das Leben zu retten und ich bezweifle, dass es an der Qualität meiner Stimme, meines Gesangs lag, dass sie nicht gestorben ist, sondern ihre Augen geöffnet hat, um einen Scherz zu machen. Gute, alte, lebenslustige Hope.
„Mein Name ist Fischer, ich bin verantwortlich für die Sicherheit dieses Komplexes.“ Für die Sicherheit? Seltsam, dass er immer noch lächelt. Hope und ich müssen ihn in ganz schöne Schwierigkeiten gebracht haben.
„Mein Name ist Freija und ich wurde hier geboren“, sage ich und Fischer nickt mir zu. Ich kann mich nicht daran erinnern, ihn in meiner Vergangenheit einmal gesehen zu haben. Nur an den Professor kann ich mich erinnern, an die acht Jungs und an Asha, die sich jetzt vermutlich hinter der undurchsichtigen Glasscheibe gegenüber befindet. Ob Fischer wohl weiß, dass ich hier geboren wurde und dass Asha und ich Zwillingsschwestern sind?
„Folge mir bitte.“ Es ist das Bitte, der Ton und sein Lächeln, die den Unterschied ausmachen. Ich kann nicht sagen wieso, aber ich vertraue ihm.
Wir verlassen die Halle mit den Kammern? Zellen? Laboratorien! Folgen einem unendlich langen Korridor, an dessen Ende ein Aufzug auf uns wartet.
„Keine Vollstrecker, um mich in Schach zu halten?“, frage ich beiläufig, weil mir auffällt, wie ruhig und furchtlos er in meiner Gegenwart ist.
„Du wirst mir nichts tun, solange du deine Freunde nicht in Sicherheit wiegst. Wir werden sie töten, wenn du etwas Unüberlegtes tust.“ Er sagt das, ohne dass es sich wie eine Drohung anfühlt. Er spricht einfach nur von der Wahrheit.
Vier Sektorebenen höher, zwei nicht enden wollende Gänge mit dutzenden Türen weiter, erreichen wir eine Galerie. Sonnenlicht flutet durch kristallklare Glasfronten und kitzelt mich dort, wo das blütenweiße Hemd meinen Körper nicht bedeckt. Auf meinem Gesicht, meinen Armen und meinen Beinen.
„Wo sind wir?“
„Nach wie vor in der Forschungsstation.“
„Es ist schön hier.“ Fischer sieht mich an, als habe ich etwas Geheimes ausgesprochen. Etwas bewegt ihn, aber er spricht nicht, verrät mir nicht, was es ist, das seine Augen in traurige Ovale verwandelt.
„Wo bringst du mich hin?“
„Freija hör zu, es ist mir nicht gestattet mit dir…“, er stockt mitten im Satz.
„Mit einer Gefangenen zu sprechen?“, helfe ich ihm. Fischer nickt. „Das ist deine individuelle Entscheidung, ob du mit mir redest oder nicht.“
„Nein, das ist es leider nicht. Es schreibt das Protokoll vor.“
„Das Protokoll? Ist das nur ein weiterer Fetzen Papier?“
„Es sind Regeln, an die wir uns zu halten haben.“
„So wie die Sieben Gebote, nehme ich an?“
„Vergleichbar. Die Inhalte sind für Vollstrecker gemacht, aber im Kern sind es die gleichen Grundsätze.“
„Das heißt, du hast auch keine Familie? Ich meine, du kennst deine Familie nicht?“ Fischer schweigt und hält sich an das Protokoll, dessen Inhalt ich nicht kenne, aber ich spüre, dass ich einen empfindlichen Nerv getroffen habe. Wir haben gleich das Ende der Galerie erreicht, abrupt bleibt Fischer stehen.
„Ich werde den Moment nie vergessen, als ich dich zum ersten Mal sah. Deine Haare erinnern mich an das Haar meiner Tochter“, sagt er wie aus dem Nichts. Ich schaue ihn an, bin im Moment gerade sprachlos und dann öffnet sich die Tür, der wir uns die ganze Zeit schon genähert haben. Durch Stockwerke, Gänge, Korridore und zuletzt durch die lichterfüllte Galerie, in der Fischer nun doch mit mir Persönliches ausgetauscht hat. Gegen die manifestierten Regeln, gegen das Protokoll verstoßen hat.
„Du hast recht. Man hat immer eine Wahl. Das ist die Freiheit jedes Menschen“, sagt er leise, als wären wir geheime Verbündete.
„Jedes nicht programmierten Menschen“, flüstere ich, dann wende ich mich von Fischer ab, bin noch immer über die Vertrautheit, diese Wendung seines Verhaltens, seine Entscheidung verwirrt. Auch wenn es nur eine Kleinigkeit ist, scheint es uns beiden dennoch viel zu bedeuten. Ich blicke zur geöffneten Tür und bin gespannt, was oder wer mich jetzt erwartet. Sie geht in diesem Moment ganz auf und ich sehe…
„Trish…?!“
Sie materialisiert sich dort in dem Durchgang zu dem unbekannten Raum und schaut mich mit nüchterner, verdrießlicher Miene an. Ich starre sie an wie ein erschrockenes Reh. Dann überkommt mich ein Gefühl, dass ich ihr jetzt sofort am liebsten um den Hals fallen würde, aber ich tue es nicht, weil ich spüre, dass ich es nicht vermag, ihre eisige undurchdringliche Ruhe anzukratzen. Trotzdem.
Sie sieht gut aus. Gesund und frisch.
Das braune Haar fällt ihr locker über die Schultern, das elegante, in Erdtönen gehaltene Kleid und die hochhackigen Schuhe stehen ihr unwahrscheinlich gut.
Sie gibt mir mit einem gastlichen Wink zu verstehen, dass ich eintreten darf. Ich folge ihrer Einladung.
Es werde Licht.
Der Raum besteht aus goldenen Sonnenstrahlen. Wir müssen uns an dem äußersten Winkel des Gebäudes befinden. Zwei in bernsteinfarbenes Licht getauchte Glaswände vom Boden bis zur Decke trennen mich von der Welt dort draußen. An der gegenüberliegenden Seite recken sich Regale mit tausend Büchern hoch bis zur Decke. Davor wurde ein unglaublich weißes Sofa perfekt, stilvoll im Raum platziert. Der Konferenztisch aus Kristallglas fällt kaum auf. Im Gegensatz zu dem vertrauten Menschen, der mir die Tür geöffnet hat. Ich kann es immer noch nicht fassen. Trish ist hier. Ich trete tiefer ein, aber Fischer kommt nicht mit.
„Trish? Was machst du denn hier?“, frage ich, während sie die Tür hinter mir schließt.
„Ich weiß, ihr kennt euch persönlich. Aber das war, bevor ich Trishtana zu meiner Assistentin ernannt habe und bevor ich von der Existenz dieses Buches erfahren habe“, sagt jemand, der sich mit Trish und mir in dem Lichtraum befindet und der ein kleines weißes Buch auf den riesigen Konferenztisch, quer durch den Raum schleudert.
Ich blicke in die Augen des Mannes, der keine zwei Meter vor mir steht. Sie sind blau. Blau wie das Meer, das ich durch die Scheiben des Helikopters gesehen habe, der mich in die Sektion 0 geflogen hatte.
Seine Augen scheinen sich in mein Inneres bohren zu wollen und ich halte seinem Blick nicht lange stand, lasse es zu. Es ist wie ein Kampf ohne Waffen, nur mit unseren Blicken, den ich verliere.
Vorerst.
Er lächelt mich an, aber es sind nur seine Mundwinkel, die sich zu einem Ausdruck gesellschaftlicher Freundlichkeit verformen. Seine Augen lachen nicht. Sind kalt und frostig und prüfen mich.
Ich lächle nicht, nehme mir stattdessen Zeit, ihn zu mustern. Er ist vierzig, vielleicht etwas älter, vielleicht auch jünger. Schwer zu sagen, denn es ist seine Ausstrahlung, die mir das verrät und nicht seine Haut, die kaum Falten trägt. Sein Gesicht ist kantig, hat die Form eines Raubvogels, seine Haare sind kurz geschnitten und blond, fast so wie meine.
Er ist so groß wie Adam und der maßgeschneiderte Anzug liegt perfekt an seinem schlanken Körper an. Die Ärmel hat er zurückgekrempelt, als wollte er körperlich arbeiten. Ich nehme Notiz von seinen muskulösen, drahtigen Unterarmen. Er ist hässlich, was nicht an seinem Äußeren als vielmehr an seiner Aura liegt. Der Raum in seiner unmittelbaren Nähe scheint das Licht zu verschlucken, sodass er noch finsterer und böser erscheint.
Als wäre er direkt aus der Hölle gestiegen. Ich habe eine Vermutung, wer er ist, auch wenn alles logische Denken in mir rebelliert, wie ein hysterisches Kind.
„Ich grüße dich, Freija. Ich habe die Käfigtür geöffnet und jetzt bist du endlich hier.“ Käfigtür? Der Ausdruck passt zu einer Bestie. Zu mir. Mein törichtes Herz beginnt wild zu klopfen. Ich sehe ihn das erste Mal und auch wenn ich ihn mir schon so oft vorgestellt habe, von ihm gehört habe, wage ich es nun kaum, zu ihm aufzublicken. Er jagt mir Angst ein.
„Glaubst du nicht, dass das gefährlich sein könnte, sich in meiner Nähe aufzuhalten?“, frage ich trotzdem, aber es klingt nach einem piepsenden Vögelchen. Ein Lächeln stiehlt sich auf seine Lippen. Wieder ein unechtes Lächeln.
„Nein, du wirst mir nichts tun.“ Ich schweige, weil mein Herz so stark pocht, dass ich kein weiteres sinnvolles Wort heraus bekomme. Seine Augen scheinen mich auszuhorchen, mich zu durchschauen. Ich höre, wie Trish die Tür verriegelt und beobachte ihn, wie er sich nähert, an mir majestätisch vorbei schreitet, mir den verwundbaren Rücken zuwendet und sich dann an den Konferenztisch setzt.
Er fürchtet mich nicht oder er zeigt es mir nicht. Aber ich fürchte mich.
„Setz dich bitte neben mich“, sagt er und klopft auf den Stuhl neben sich. Er hat bitte gesagt? Aber es hört sich anders an als bei Fischer.
„Ich stehe lieber“, sage ich nervös.
„Das war eine Bitte, kein Befehl.“ Und es ist doch ein Befehl, denke ich.
Ich humple also zu ihm, setze mich neben ihn. Adam duftet hunderttausendmal besser.
„Weißt du, warum du hier bist?“
„Nein“, sage ich ehrlich.
„Weil ich dir ein Geheimnis verraten möchte.“
Ich nicke und weiß nicht wieso.
„Ich bin der Oberste Gesandte. Bist du überrascht über die Tatsache, dass ich hier neben dir an diesem Tisch sitze?“
„Ich könnte überrascht sein, weil ich dachte du wärst älter. Viel älter.“ Er lacht. Dieses Mal echt.
„Der Oberste Gesandte ist ein Titel und kein Mensch. Das Alter spielt nicht die geringste Rolle“, sagt er.
„Hast du den Titel geerbt?“ Er lacht wieder.
„Gott, nein. Niemand erbt diese Position. Ich habe sie mir verdient.“
„Hört sich gerecht an.“
„Korruption, Macht und Angst sind die wesentlichen Faktoren, die den Ausgang bestimmen.“ Ich werde mir langsam sicherer, mein Herz verliert etwas von der anfänglichen Aufgeregtheit und ich bin in der Lage, meine Gedankengänge zu kombinieren und zu ordnen.
„Dann musst du sehr reich sein“, stelle ich fest. Er schweigt.
„Wie gesagt, du bist hier, weil ich dir etwas zeigen will. Kannst du dir vorstellen, was es ist?“
„Ich nehme an, du wirst es mir gleich verraten.“
„Hast du denn keine Vermutung?“
„Es gibt einen Grund, warum Asha und ich erschaffen wurden und der Grund bist du.“
„Du weißt es also?“
„Ja, ich habe mich erinnert.“
„Erinnert? Das ist interessant. Ich dachte, wenn man einmal gelöscht wurde, dann wäre das nicht möglich. Mir ist kein einziger Fall bekannt, dass das einem Vollstrecker oder einem Sektionsteammitglied jemals gelungen wäre.“
„In Anbetracht dessen bin ich anscheinend zu Erstaunlichem fähig.“
„Offensichtlich. Ich habe mir Fischers Bericht auf dem Weg hierher durchgesehen. Ist das wahr? Kannst du tatsächlich fliegen?“ Ich nehme erstaunt Notiz davon, wie sorgfältig gefeilt seine Fingernägel aussehen. Meine sind gerissen und gebrochen. Nicht abgenagt.
Fliegen hat er gesagt. Ich denke an den Kampf mit den Drohnen.
„Nein. Hope hat mich geworfen“, sage ich und schaue zu Trish, die uns regungslos beobachtet.
„Hope? Das ist also ihr Name.“ Mich beschleicht das Gefühl, ihm bereits zu viel verraten zu haben.
„Ist das ein Verhör?“, frage ich und denke, dass ich nichts mehr über Hope sagen werde.
„Diese Hope, wie hast du sie kennengelernt?“ Ich schweige.
„Und er? Ihren Bruder? Liebst du ihn?“
„Was?“, rutscht mir das Wort aus dem Mund.
„Er fragt die ganze Zeit nach dir. Ohne Zweifel empfindet er sehr viel Zuneigung. Ich gehe soweit und sage, dass er sich mit dir identifiziert. Identifikation kann Liebe auslösen. Man teilt Freude und Kummer. Empfindet mit dem anderen und versteht ihn. In einem solchen Prozess werden unsichtbare Kräfte wach, die in den besten menschlichen Eigenschaften – Treue, Hingabe, ja sogar Selbstaufopferung – zum Ausdruck kommen. Was haben Menschen nicht schon alles auf sich genommen. Was haben sie alles ertragen. Nun, davon spreche ich. Und? Liebst du ihn?“
Ich bin stumm.
„Und Asha? Liebst du sie?“
Sein Verstand scheint mich zu benebeln. Ich denke, es ist das Beste, wenn ich weiter schweige.
„Verstehe. Du vertraust mir nicht und du hast allen Grund dazu. Kann ich etwas für dich tun? Wasser? Etwas zu Essen? Etwas anderes? Willst du Adam sehen?“, fragt er. Er kennt seinen Namen. Ich darf ihn sehen? Damit er mein Vertrauen gewinnt? Das wird niemals geschehen, denke ich.
„Das Licht im Bad in meiner Kammer muss repariert werden“, ist das Absurde, was ich sage, aber er geht nicht darauf ein.
„Freija, ich will mit offenen Karten spielen. Ich will deine Hingabe, Loyalität. Ich will, dass du kooperierst.“
Der Oberste bedient ein Touchfeld am Rand des Konferenztisches und im nächsten Augenblick erscheinen auf der Oberfläche Gebirgszüge, Flüsse, Täler, ganze Landschaften, Städte und Felder und an den Seiten ein blauer Ozean. Ein Miniaturmodell so realistisch, als könne man es tatsächlich anfassen.
„Weißt du, was das ist?“, fragt der Oberste. Trish bleibt weiter stumm. Die Frage ist an mich gerichtet.
„Eine Karte eines Kontinents. Nordamerika“, sage ich.
„Vor 60 Jahren wäre diese Frage eine der einfachsten auf der Welt gewesen. Heutzutage ist es keine Selbstverständlichkeit, das zu wissen. Aber ich muss gestehen, ich habe damit gerechnet, dass du die Antwort kennst. Genauso wie du bestimmt weißt, dass es nicht die Bestien sind, denen dieses Land gehört, sondern dass ich es bin.“
Ich sage nichts, schaue zu Trish, die mir direkt in die Augen sieht. Nicht wie damals im Skygate, sondern interessiert, neugierig, ja fast schon so, als würde sie jede meiner Bewegungen, meiner Gebärden und Äußerungen studieren. „Weißt du, warum das so ist? Warum es wichtig ist, dass sich die Anzahl der Wissenden in überschaubaren Grenzen hält?“ Ich sitze da und sage, wie schon fast die ganze Zeit über, nichts, komme mir vor wie bei einer Prüfung der Gesandten.
„Weil Wissen Macht bedeutet“, antwortet Trish anstatt mir. Es ist das erste, das sie sagt. Sie hört sich an wie immer.
„Würdest du sagen, dass ich mächtig bin?“, fragt er mich jetzt. Wieder eine Frage, die für mich nichts bedeutet, außer dass ich mehr über meinen Feind erfahre, dem ich noch nie so nahe war.
Könnte ich alles beenden, wenn ich ihn hier und jetzt umbringen würde? Wäre Nordamerika dann frei? Ist es das, was die Prophezeiung von mir erwartet? Das Ende, das in dem kleinen Buch beschrieben wird, das direkt vor mir auf dem Tisch liegt. Er hat es gelesen und fürchtet sich nicht vor mir. Warum fürchtet sich niemand vor mir?
Wegen meiner Freunde, fällt mir Fischers Erkenntnis wieder ein. Wegen Adam, denke ich. Plötzlich habe ich einen Gedanken, der mich aus der Spur wirft. Der Oberste ist im Besitz des weißen Buches, der Prophezeiung. Hat er womöglich auch Jesses Flexscreen mit den geheimen Botschaften und hat er auch mein Tagebuch? Er weiß, dass ich Adam liebe. Hat er mich dadurch in seiner Hand?
„Ja, ich denke du bist mächtig“, sage ich dann und hoffe, dass meine plötzliche, zurückgekehrte Nervosität niemand bemerkt. Bei Trish bin ich mir da nicht sicher, sie hat eins ihrer Augen wie früher verengt und sieht mich scharf an. Der Oberste tippt etwas Neues auf dem Touchfeld ein und die Karte von Nordamerika schwebt jetzt über dem Tisch und verformt sich, erweitert sich, bis sich daraus eine Kugel, ein blauer sich drehender Ball manifestiert. Die Kugel ist der Planet Erde, nur hunderttausendmal kleiner.
„Falsch“, sagt der Oberste und ich schrumpfe unwillkürlich ein paar Zentimeter zusammen. „Der, dem das alles gehört, der kann sich wahrhaftig mächtig nennen.“
Er spricht von der ganzen Welt. Er ist geisteskrank.
„Sieben Kontinentalplatten werden von sieben Obersten regiert.“ Ich denke, Regieren ist nicht der richtige Ausdruck, aber ich schweige. „Überall gibt es Bestien. Hier und hier und hier“, sagt er und tippt wahllos auf die Erde, die dabei flimmert, als gefiele es ihr, der Projektion, nicht von ihm berührt zu werden. „Und jeden Tag kommen Tausende dazu. Wir halten sie überall auf allen Kontinenten in Schach.“ Genauso wie alle unwissenden Menschen, ergänze ich in Gedanken. „Aber stell dir vor, es gäbe eine Möglichkeit, sie zu mobilisieren, alle zu kontrollieren.“ Jetzt weiß ich, was er vorhat.
„Asha“, purzeln die zwei Silben über meine Lippen. Trish zieht eine Augenbraue hoch. Der Oberste sieht mich verwundert an, dann spricht er weiter. Mist, denke ich, sie wissen nicht, dass ich es weiß. Dass ich Ashas Fähigkeiten kenne. Sie können nicht im Besitz von Jesses Flexscreen sein, denn sonst wüssten sie, dass Asha mit Bestien kommunizieren kann.
Aber wer hat es stattdessen? Fischer, überlege ich. Der Mann, der für die Sicherheit zuständig ist und die Röhren hat durchsuchen lassen, aus denen Hope, Neo, Adam und ich gekrochen kamen.
Ich folge wieder den Ausführungen des Obersten und wünsche mir, ich hätte keine Ohren, wäre taub für seine Ansichten der Dinge. Während er von der Herrschaft über die Erde spricht, blicke ich immer wieder zu Trish. Erkennt sie mich tatsächlich nicht wieder? Und kann sie das gut finden, was dieser kranke Geist neben mir von sich gibt?
Als sich unsere Blicke wieder treffen, lächle ich. Ein Versuch, die alten Zeiten zurückzuzaubern. Wir haben uns nie gut verstanden, fällt mir jetzt ein. Aber sie hat mich ans Ende der Liste bei der Prüfung gesetzt, als ich schwer verletzt war. Ich war ihr nicht gleichgültig. Ich weiß, sie wurde gelöscht, aber sie ist immer noch Trish.
Ich weiß nach dem Aufenthalt in Kristens Einrichtung nur zu gut, wie sich die Welten, die äußere und die innere anfühlen, wenn man gelöscht wurde. Aber ich weiß auch, dass ich einen freien Willen hatte. Zumindest bis zu dem Zeitpunkt, als ich Adam an die Kehle gesprungen bin. Ich frage mich, wie ich einen Zugang zu ihr bekommen kann? Eine Tür aufstoßen kann, denn meine innere Stimme sagt mir, dass wir sie mehr brauchen als sie ahnt. Nun, vermutlich lächle ich genau aus diesem Grund und weil mir nichts Besseres einfällt. Trish lächelt aber leider nicht zurück. Sieht mich stattdessen nur weiterhin ununterbrochen kühl und forschend an. Ich könnte sie etwas fragen, aber ich will nicht, dass der Oberste das Vertrauen in seine Assistentin in Frage stellt. Sie kann uns allen helfen, wenn sie nur auf der richtigen Seite stehen würde.
„Du erinnerst dich, hast du gesagt. Du weißt also, dass Asha deine Schwester ist. Du liebst deine Schwester und ich will, dass du deine Schwester überzeugst, dass sie mir dient“, sagt der Oberste jetzt. „Ich habe Symbionten erschaffen und ihr beide seid die einzigen Überlebenden. Bis vor wenigen Tagen dachte ich, dass ihr keine Fähigkeiten entwickelt habt, dass ihr nichts wert seid. Bis Asha die Bestien kontrolliert hat. Das ist mehr wert als tausend Symbionten. Ich will, dass sie die Bestien für mich in den Krieg schickt und du wirst sie davon überzeugen, dass es richtig ist, das für mich zu tun.“
Ich bin taubstumm. Er weiß es doch.
„Freija, hör mir zu, ich werde dir keine zweite Chance geben zu kooperieren. Entweder bist du für oder gegen mich. Es gibt kein Dazwischen. Entweder identifizierst du dich mit mir, oder ich werde Adam und Hope und alle, die dir lieb sind, vernichten“, sagt er und ich bemerke, wie er zu Trish sieht. Sie nimmt davon keine Notiz. Ich schon.
„Ich habe die Lampe im Bad aus Versehen kaputt gemacht“, sage ich wieder.
„Was?“
„Die Lampe im Bad ist kaputt“, sage ich.
„Was erzählst du da für einen Schwachsinn?“
„Die Lampe muss repariert werden…“, flüstere ich.
„Ganz wie du meinst“, sagt der Oberste.
Ich befürchte, er wird die Lampe nicht reparieren.