Читать книгу Violet - Dunkelheit / Entfesselt - Buch 4-5 - Sophie Lang - Страница 8
ОглавлениеKapitel 5
Ich habe es von Fischer nicht erfahren, warum er mir seine liebe Familie offenbart hat.
Stattdessen gehen wir weiter, lassen die Bilder, Erinnerungen an Frau und Kinder bei dem Drachen zurück.
Ich folge ihm, humpelnd.
Wir erreichen nach einer gefühlten Unendlichkeit eine Tür aus feuerfestem Stahl, das verrät mir das Piktogramm an ihrer Seite. Wir gehen hindurch, stehen wieder in einem Korridor. Weiße Fliesen, helle LEDs, kein Rost und Lärm. Hier ist es kälter oder bilde ich mir das nur ein. Die Gänge riechen nach Sauberkeit.
Wir befinden uns wieder im überwachten Bereich, in offiziellen, unterirdischen Sektoren, erfahre ich von Fischer, der mir etwas verheimlicht, der aber auch auf meiner Seite zu stehen scheint. Hoffe ich. Oder will er auch nur, dass ich auf seine Seite wechsle?
Noch eine Tür und ein weiterer Korridor. Diese Anlage ist so unüberschaubar, so groß, so unterirdisch und unnatürlich. Ich vermisse die Bäume und das Spiegeln der weißen Wolken im See. Den blauen Himmel und den Wind, der an meinen Haaren zieht.
Wir sind angeblich da. Kommen jetzt in eine kleine Halle, blicken in etwas hinab, das mich an ein riesiges Hallenbad, nur ohne Wasser, erinnert. Unter mir, in den Wänden des großen Beckens, entdecke ich die gleichen Panzerglasscheiben wie die in meiner Zelle.
Ich kann nicht sehen, wer oder was sich dahinter befindet und hier sind noch mehr Vollstrecker in Rüstungen, die uns gegenüber stehen und ihre Waffen in das Becken und auf mich richten. Ich habe schreckliche Vorahnungen und im Augenblick nur einen Wunsch, nicht an einem solchen Ort sterben zu müssen.
Fischer führt mich in einen weiteren Raum, nebenan. Weiß gekalkte Mauern und eine Scheibe mit Blick in das Becken. Es ist hier so hell, dass sich meine Augen erst daran gewöhnen müssen. Dann sehe ich Screens, wo immer meine Augen hinblicken und Schaltpulte. Ich sehe Korridore auf den Screens und Zellen in denen Menschen, junge Männer wie Sardinen in einer Büchse zusammengepfercht wurden. Ein Schauer läuft mir über den Rücken. Für einen Moment glaube ich, ich habe etwas gesehen.
Nicht etwas, sondern jemanden.
Ich schüttle den Gedanken ab, weil ich mich getäuscht haben muss. Jetzt erst entdecke ich den Mann, der hinter mir steht. Wie ist er da hingekommen?
Der Mann ist mir so nahe, dass ich die Staubkörner auf seinen Brillengläsern sehen kann.
Er ist attraktiv, daran besteht kein Zweifel. Hat eine fast schon dramatische Ausstrahlung, die den Raum in seiner unmittelbaren Nähe zu krümmen scheint, sodass er in noch hellerem Licht erscheint. Als hätte jemand einen Spot auf ihn gerichtet.
Er ist außerordentlich groß, wirkt extrem hoch, groß, breit, kraftvoll, etwas Felsiges geht von ihm aus und wenn ich Fischer neben ihm betrachte, wirkt er noch größer. Seine Gesichtszüge, sein dunkles Haar, die braunen Augen sind bemerkenswert schön. Sein Körper sieht zäh, geschmeidig, muskulös aus, von animalischer Grazie und herausfordernder Sexualität.
Sein Mund ist breit und markant, sein Kinn breit und viereckig, wie es sein muss, um ein Gegengewicht zur Stirn zu bieten.
Es ist seine Ausstrahlung, sein Aussehen, das mir einen Schauer verursacht. Nur der teuflische Ausdruck in seinen Augen macht mir Angst und jagt mir einen Schrecken ein. Wer ist er? Kenne ich ihn oder bilde mich mir das nur ein?
„Fischer, schaffen Sie Ihren verdammten Arsch hier raus und lassen Sie mich mit dieser Missgeburt allein.“
Ich spüre, wie meine Fasern zittern, meine Beine noch wackeliger werden. Ich lehne mich hilfsbedürftig an die Glasscheibe und wünsche mir eine Gelegenheit zum Hinsetzen, die es hier nicht gibt. „Ich bin Halo, der schlimmste Alptraum, den du dir vorstellen kannst.“ Er macht mir solche Angst. Er ist Halo. Der Gesandte, der diese Forschungseinrichtung leitet. Das weiß ich von Fischer. Wollte er mich auf dieses Gespräch vorbereiten? Mich warnen?
Ich blicke Halo an und verfolge ängstlich jede seiner Bewegungen.
„Erstaunlich“, sagt er. „Du siehst aus wie sie. Es gibt nur einen winzigen Unterschied. Du bist noch am Leben.“
Ich habe keine Ahnung, von was er spricht. Oder von wem? „Das hier habe ich gefunden. Es gehört dir“, sagt Halo dann, aber es ist keine Frage, es ist eine Feststellung.
Er hat etwas bei sich.
Zwei Dinge die drohen, meine Gefühlswelt hier auf der Stelle, sofort zu überwältigen. Die mich ihm ausliefern, umstülpen, mein Innerstes nach außen kehren.
Ich blicke auf mein Tagebuch in seinen Händen und die Versuchung ist groß, es ihm aus den Fingern zu reißen, egal mit welchen Konsequenzen ich zu rechnen hätte. Ob sie mich wirklich erschießen würden? Wegen einem Tagebuch? Vermutlich würde er es selbst erledigen, denke ich und blicke auf die Pistole an seinem schmalen Gürtel, auf seine gewaltigen Hände und seine Muskeln.
Aber es mir zurückzuholen, ist natürlich sinnlos. Halo hat es längst gelesen. Weiß, was ich geschrieben habe. Weiß, was mich bewegt, wen ich liebe, was ich vermute, an was ich mich erinnere. Mein Gehirn ist wie schockgefrostet, meine Knie zittern wie Espenlaub, als er weiterspricht.
„Aber ich weiß nicht, wo derjenige ist, dem das hier gehört. Aber du wirst es mir gleich sagen. Du wirst ihn mir ausliefern. In den nächsten paar Minuten“, sagt der Gesandte Halo und bewegt Jesses Flexscreen in seiner anderen Pranke hin und her.
Ich bin taubstumm, teilnahmslos. Das ist wahrhaftig ein Alptraum.
„Deine Schwester und du, ihr habt einigen Staub aufgewirbelt. Aber das kümmert mich nicht. Ich weiß, wer du bist. Was du bist“, sagt er dann. „Du bist eine Missgeburt und für Wesen wie dich gibt es nur eine Bestimmung auf dieser Welt“, sagt er, aber ich bin mir nicht sicher, ob ich ihn richtig verstanden habe. Er hat mein Tagebuch gelesen und er hat Jesses Flexscreen.
Dann zeigt er mit seiner riesigen Hand zur Tür.
„Raus mit dir, Missgeburt!“, lacht er und es ist ein einzigartiges, aggressives und überhebliches Lachen.
Plötzlich will ich ihn nur noch umbringen, dafür, dass er mich Missgeburt nennt, dafür, weil ich spüre wie abgrundtief böse er ist. Ich mache einen Schritt auf ihn zu, will dass meine Tattoos erwachen, aber es passiert nichts. Halo zückt blitzschnell seine Waffe und drückt sie mir mitten auf die Stirn.
„Netter Versuch, aber du musst noch einiges lernen. Jetzt beweg dich, bevor ich es mir anders überlege und dich doch noch abknalle!“
Ich befolge seinen Befehl, denn es gibt nichts entgegenzusetzen. Ich habe nichts entgegenzusetzen.
Ich stehe jetzt direkt über dem kahlen, leeren Becken und mein Tagebuch und Jesses Flexscreen sind in greifbarer Nähe und doch Welten entfernt. Ich wünsche mir, ich könnte zaubern. Die Vollstrecker wegzaubern, damit ich mir das zurückholen kann, was mir gehört.
„Wir führen genaue Statistiken über unser Kapital. Aber in dem ganzen Chaos, das deine Schwester und du angerichtet haben, sind unsere Systeme etwas durcheinander geraten. Ich weiß dennoch genug“, sagt Halo. Er macht eine abfallende Bewegung mit seiner Hand. Wenn sich Menschen kennenlernen, prägt sich zuallererst das Äußere ein. Ich erinnere mich jetzt gerade daran, wie ich Adam das erste Mal sah. Ich fühlte mich angezogen, war irgendwie sofort verliebt. Halo stößt mich ab. Ich hasse ihn, als wären wir Todfeinde aus einem vergangenen Leben.
„Die da sind nicht registriert und haben das passende Alter. Und du wirst mir sagen, wer es ist, dem das Flexscreen gehört“, sagt er und dann öffnet sich plötzlich eine der Trennwände in dem Becken unter uns.
Ein Vollstrecker mit tiefer Bassstimme erteilt einen Befehl und einer nach dem anderen torkeln junge, erwachsene Männer aus dem Raum dahinter heraus in das Becken. Ihre Augen sind leer wie die von Zombies, ihre Bewegungen gequält langsam. Ein gewaltiger Geruch nach ungewaschener Haut steigt zu mir empor und ich zähle sie. Vierzehn, fünfzehn, sechzehn Gelöschte.
Plötzlich höre ich abrupt auf zu zählen. Er betritt den Raum. Mein Herz macht einen Aussetzer. Es ist tatsächlich Jesse, der jetzt das Becken betritt. Und er verhält sich wie die anderen, blickt nicht hoch, sieht mich nicht. Ist wie ein Zombie. Oh Gott, nein!
Mein Herzschlag setzt aus. Schon wieder. Mein Mund ist staubtrocken, ich kann nicht schlucken.
Jesse ist der Vorletzte. Nur noch ein blonder Junge folgt ihm, dann kommt keiner mehr. Ich schaue hinab, unfähig einen klaren Gedanken zu fassen. Unfähig mir auszumalen, was als nächstes passieren könnte. Dort unten steht Jesse. Nur ein paar Meter von mir entfernt. Ich versuche zu atmen, ruhig zu bleiben, mir keine Sorgen zu machen. Plötzlich treffen sich unsere Blicke und ich sehe etwas in seinen Augen aufblitzen, dass mir verrät, dass er nicht so ist wie die anderen.
Er wurde nicht gelöscht. Noch nicht. Verstört schaue ich mich zu Halo um und hoffe, er hat nichts bemerkt und hoffe, er hat nicht die Angst, so wie ich, in Jesses Augen gesehen. Und sieht jetzt nicht die schreckliche Furcht in meinen Augen.
„Es gibt unendlich viele wissenschaftliche Abhandlungen und philosophische Betrachtungen darüber, wie man einen Menschen am einfachsten dazu bringt, mit der Wahrheit herauszurücken. Alles Quatsch. Ich kenne die effektivste Methode.“ Halo zielt mit seiner Pistole auf den Kopf von einem der Jungs und drückt ab. „War er das?“, fragt mich Halo. Oh Gott, der Junge ist tot. Einfach so. Ich weiß, was Halo wissen will, aber ich weiß nicht, was ich antworten soll, was für Folgen meine Antwort hätte. Wie viele wird er noch erschießen?
Ich schweige für einen Moment, versuche Zeit zu gewinnen, mir etwas einfallen zu lassen, die Wahrheit zu verschweigen. Aber mir fällt nichts ein. Nicht in der kurzen Zeit, bis Halo wieder das Wort ergreift, wieder seine Waffe erhebt.
„Ist er dabei. Jesse ist sein Name. Ist er dabei?“, fragt er mich und nicht die Menschen, die wie Schlachtvieh unter uns in dem Becken stehen und auf etwas warten, für das ich in meinem Verstand keinen Raum gewähre. Und dann zittern meine Knie, weil diese Situation so surreal ist und die Schiene an meinem Bein will mein Zittern ausgleichen und summt mechanisch und elektrisch, als hätte sie einen Defekt.
„Schweigen ist auch eine Antwort“, sagt Halo. „Erschießt sie alle“, befiehlt er so plötzlich, ohne mir eine weitere Gelegenheit zu geben. Die Vollstrecker laden die Gewehre durch.
Oh Gott.
Ich sehe Unmengen von Blut vor meinem inneren Auge. Ich kann den Befehl nicht rückgängig machen, dazu ist keine Zeit. Es sind die Bruchteile einer Sekunde, die ich nutze, weil ich es kann, weil ich immer noch ein Symbiont bin, weil sich die Zeiger der Uhren für mich langsamer drehen. Weil eine Sekunde in meiner Welt mehr ist als 100 Hundertstel.
Ich habe keine Gelegenheit, keine Hundertstel für Worte. Der Schall ist zu langsam, das Gehirn der Vollstrecker zu träge, um das Unvermeidliche zu unterlassen, um den Tötungsbefehl nicht auszuführen.
Die Vollstrecker schießen und ich springe im gleichen Augenblick.
Bin über dem Becken und weiß nicht was ich tue, versuche es nur so zu machen, wie Hope es machen würde.
Das Schild, es ist da, tatsächlich und es hält die Kugeln ab, sie alle zu töten. Wie dumpfe Schläge prallen sie auf und ich kann jede einzelne von ihnen spüren, wie sie die Waffen verlassen und in das Schild eindringen und dort alle ihre ballistische Energie verlieren. Und dann schreie ich, während ich weiter hinab falle.
„Oh Gott, nicht schießen. Nicht schießen, er ist es. Er ist dabei.“
Ich stürze, falle, höre Halos Befehl in meinen Ohren nachklingen und die letzten Schüsse explodieren. Ich spüre das Schild verschwinden, das nur für einige Sekunden da war. Zu mehr war ich nicht imstande.
Ich hoffe, bete einsilbig, inbrünstig zu Gott.
Und das alles in dieser kurzen Zeit und dann komme ich auf, weicher als gedacht. Körper haben mich aufgefangen und ich weiß nicht, ob es mit Absicht war, ob sie lebendig sind. Oder tot.
Jesse?
Ich sehe Blut, ein Junge, der in der Brust getroffen wurde, liegt unter mir. Oh Gott, wie schrecklich. Er ist fast tot, aber er ist nicht Jesse. Was ist das nur für ein schrecklicher, egoistischer Gedanke? Ich schaue mich um, sehe noch mehr Jungen die bluten, aber leben. Ich habe sie gerettet.
Alle, wenn sie jetzt schnell ärztliche Hilfe bekommen.
Dann ist er da. Endlich.
Jesse ist über mir, sammelt mich auf. Ich liege in seinen Armen, seinem Gesicht so nah und dann treffen sich unsere Blicke und wir lächeln uns an. Und das Lächeln strengt mich so sehr an. Ich bin so unendlich schwach und habe mich total verausgabt.
Ich lächle gequält. Ich lächle, weil ich Angst habe, dass es das letzte sein könnte, das ich tue. Weil ich mich so freue, ihn wieder zu sehen. Weil ich seinen Wunsch, den er mir über das Flexscreen mitgeteilt hat, nicht vergessen habe. Ich spüre nichts außer Vertrauen und Zuneigung und denke fast nicht daran, wie weich seine Lippen sich anfühlen könnten, oder wieso wir uns nicht jetzt und hier küssen sollten.
Ich bekomme nicht mit, wohin plötzlich alle anderen verschwunden sind. Selbst die Verletzten und der arme, fast tote Junge. Nur Jesse, Halo, Fischer, die Vollstrecker und ich sind noch da, als sich unsere Blicke wie Lippen voneinander lösen. Als ich mich hinstellen möchte, auf eigenen Füßen stehen will, aber ich es nicht aus eigener Kraft schaffe, als ich jemanden in die Hände klatschen höre, als ich noch so vieles andere um mich herum wahrnehme. Als die Welt erneut zusammenzubrechen scheint.
Halo klatscht spöttischen Beifall.
Es sind sein Blick, seine hasserfüllten Augen, seine abgrundtief böse Ausstrahlung, die mir unendlichen Kummer bereiten.
Es ist Halo. Er ist der, der mich ansieht, als wäre er ein Gewinner. Er, der gesehen hat, wie ich versucht habe, alle zu retten, weil ich so dumm war, Jesse nicht zu verraten.
Es sind seine grausamen, schönen Augen, die mir dabei zugesehen haben. Verdammt. Halo.
Er hat das eingefädelt. Er hat den Tötungsbefehl ausgesprochen, er ist ein Monster.
Es ist alles ein Spiel. Mit mir wird gespielt. Ich spüre erneut die Wut und den Hass in mir, mit dem ich eine Lampe zerstören konnte. Wow, eine Lampe. Wie mächtig ich doch bin.
Aber ich weiß, es bedeutet so viel mehr. Ich habe mehr Fähigkeiten, habe Adams Computer mit Energie versorgt und Elektrizität erzeugt, habe Hopes Schild für einige Sekunden erschaffen. Ich bin zu mehr fähig, als nur die Luft anzuhalten und schnell zu rennen. Wenn nur mein Bein wieder funktionieren würde, wenn ich mich doch nur nicht so schwach, leer und ausgesaugt fühlen würde.
Ich will Halo umbringen. Jetzt. Will ihm die Kehle aufschlitzen und sein Leben aussaugen. Ich bin eine Missgeburt, hat er gesagt.
Ich löse mich aus Jesses Armen und mache einen Schritt auf meinen Feind zu und breche einfach nur hilflos auf der Stelle zusammen, bin tatsächlich leer, ausgebrannt, ohne Energie. Habe alle Reste aufgebraucht. Verdammt.
Halo lacht, immer noch. Oder schon wieder?
„Leck doch das Blut vom Boden auf, du Missgeburt. So wie alle anderen Missgeburten“, lacht er und ich habe nicht einmal mehr die Kraft zu weinen. Jesse ist es, der mich wieder aufhebt. Der mich stützt und mir ins Ohr flüstert, dass alles gut wird, bevor sie auch ihn von mir wegreißen und mich fortbringen. Weg von Jesse. Weg von diesem Ort, dem ganzen Blut und meinem Tagebuch.
Zurück, dorthin, wo ich erschaffen wurde.
Eine Missgeburt?