Читать книгу Die Rose und der Schwan - Sophie Oliver - Страница 10
5.
ОглавлениеDie hochgewachsene Birke, die sich widerstrebend als Maibaum geopfert hatte, und nun entblättert, von ihrer Rinde befreit und kerzengerade auf dem Dorfplatz in den Himmel ragte, war mit bunten Wiesenblumen geschmückt, die die Leute bereits im Morgengrauen gesammelt hatten. Als Alice ankam, wurden gerade die letzten Bänder für den Maitanz am Stamm befestigt.
Alice hatte gleich nach dem Aufstehen ihren Vater beim Beating the bounds begleitet, beim Abschreiten der Grenzen ihrer Ländereien. Traditionell tat das der Gutsherr am ersten Tag des Monats Mai, um symbolisch seinen Anspruch auf das Land zu erneuern. Hinterher war es ebenso Tradition, sich mit den Leuten aus der Gegend auf dem Dorfplatz zu treffen und den Übergang zwischen Frühling und Sommer zu feiern. Niemand ließ sich das Fest entgehen, alle kamen sie, egal ob groß oder klein, alt oder jung, reich oder arm, und so wimmelte es schon am frühen Morgen von Menschen. Es würde ein herrlicher Tag werden, keine Wolke stand am Himmel. Die Temperatur war so mild, dass Alice nur ein kornblumenblaues Seidenkleid mit weißem Unterkleid gewählt, das Mieder lediglich locker geschnürt und auf die meisten ihrer Unterröcke ganz verzichtet hatte.
»Trägt man das so in Frankreich?«, fragte ihr Vater mit hochgezogenen Augenbrauen und einem kritischen Blick auf den in französischer Manier tief und viereckig vernähten Ausschnitt.
»Das tut man, lieber Vater«, antwortete Alice artig. »Ich kann mir gern englische Kleider nähen lassen, würde dir aber diese Ausgaben ersparen, falls du dich mit meinem französischen Stil anfreunden könntest.«
Daraufhin murmelte er nur etwas von »zehn Jahre nicht unter anständigen Leuten gewesen«, »diese freizügigen Franzosen« und »das Kind kann ja nichts dafür« und versicherte, Alice könne sich jederzeit landestypisch zurückhaltendere Kleider anfertigen lassen, was seine Tochter zum Schmunzeln brachte.
»Ich sehe mich um«, sagte er schließlich und deutete auf einen Mann mit ausladendem Bauch und weißem Haarkranz. »Das ist unser Schmied, mit dem habe ich was zu bereden. Pass auf dich auf, Kind, ja?«
Die Wahrheit war, Lady Alice genoss es, ein wenig mit ihrem Auftreten zu provozieren. Hatte sie während der ersten Jahre in Frankreich darunter gelitten, von zu Hause weggeschickt worden zu sein und sich in der Fremde als Ausländerin behaupten zu müssen, war sie nun stolz darauf, es geschafft zu haben. Auch wenn sie es nicht zur Schau trug, ihre Umgangsformen waren makellos, sie sprach perfekt Französisch, und man hatte ihr dank der modernen Lebenseinstellung ihrer Verwandten eine umfassende Bildung angedeihen lassen, die sie hier in Gloucestershire niemals erfahren hätte. Das war ihr Schatz, ihr Trumpf, den sie im Ärmel trug. Da konnte man es sich schon einmal erlauben, nicht gekleidet zu sein wie Hinz und Kunz, sondern ein wenig aus der Masse hervorzustechen. Besonders wenn – wie in ebenjenem Augenblick, als Alice den Maibaum betrachtete – Henry Sheldrake mit seiner Mutter und Sir Edward auf dem Dorfplatz auftauchte, selbstredend mit großem Gewese.
Die Leute jubelten ihnen zu, weil Henry drei Ochsen und zahlreiche Fässer Ale für das Fest gestiftet hatte.
Lady Mildred saß auf ihrem Pferd, als hätte sie einen Stock verschluckt. Wahrscheinlich weil ihr straff geschnürtes Mieder, zusammen mit dem schweren dunklen Brokatstoff des Kleides, sie in diese Position zwang. Auf dem Kopf trug sie eine zweikegelige Haube, unter der ihr graues Haar komplett verschwand und die in Frankreich längst schon aus der Mode war. Sie sah aus wie die personifizierte Strenge.
Kurz blickte Alice an sich selbst hinunter. Von einem Bauernmädchen hatte sie einen Blumenkranz bekommen, wie fast alle Frauen und Mädchen ihn heute trugen. Der saß nun auf ihrem Kopf, und sie fand es herrlich. Ihre langen, blonden Locken fielen lose über ihre Schultern, lediglich an den Schläfen hatte sie zwei Strähnen nach hinten gezwirbelt und festgesteckt. Als Lady Mildred an Alice vorbeiritt und diese grüßend knickste, warf sie ihr einen Blick zu, der Bände sprach. Mit derselben Wärme hätte sie sicher auf ein Rattennest hinabgeschaut.
Ganz anders hingegen Henry und Edward, in deren Augen begeisterte Bewunderung stand.
Besonders Edward konnte die Begrüßungsrunde auf dem Dorfplatz kaum schnell genug absolvieren. Sobald er von seinem Pferd abgestiegen war, gesellte er sich zu Alice. »Einen wunderschönen guten Morgen, Mylady«, begrüßte er sie überschwänglich. »Eure Schönheit strahlt mit der Sonne um die Wette, wenn ich mir dieses bescheidene Kompliment erlauben darf.«
Alice brach in schallendes Lachen aus. »Oh, Sir Edward, Ihr seid wirklich ein Schmeichler. Gibt es Damen, die Euch glauben?«
»Damen nicht, aber manche Frauen schon«, antwortete er entwaffnend ehrlich, woraufhin Alice erneut lachen musste.
Er stellte sich neben sie, als die jungen Mädchen zum Spiel einer Flöte mit dem Bändertanz um den Maibaum begannen. Eine Weile sahen sie ihnen zu, dann sagte Alice: »Wisst Ihr, ich habe über Euch nachgedacht …«
»Wunderbar!«
»Lasst mich doch zu Ende reden! Ich habe über Euch nachgedacht, weil Ihr mir von Anfang an bekannt vorkamt. Kann es sein, dass wir uns in der Kindheit schon einmal begegnet sind? Vor zehn, elf Jahren? In einem Sommer hier in Gloucestershire?«
»Das ist gut möglich. Als ich etwa dreizehn war, schickte mich mein Vater nach Morannis Castle, um den damaligen Lord, einen entfernten Verwandten meiner Mutter, kennenzulernen. Wahrscheinlich plante man damals schon, mich hier auf dem Land kaltzustellen.«
Stirnrunzelnd sah Alice Edward von der Seite an. »Ihr wart ein kleiner blonder Junge, der nicht schwimmen konnte und ständig jammerte, weil ihm langweilig war.«
Überrascht kniff Edward die Augen zusammen. Dann riss er sie weit auf und nickte. »Und Ihr wart ebenso blond und noch viel kleiner, aber rotzfrech und hieltet Euch selbst für einen Jungen. Jedenfalls erinnere ich an eine Göre, die unten am Fluss von den Felsen ins Wasser sprang und schneller reiten konnte als der junge Herr Henry.«
»Ich habe mich verändert«, räumte Alice ein wenig peinlich berührt ein, »und mache nun nicht mehr so wilde Sachen.«
»Und ich bin ein ordentliches Stück gewachsen und finde es hier auf dem Land noch immer langweilig. Aber schwimmen kann ich mittlerweile.«
Mit einem ironischen Seufzen zupfte Alice Edward ein Stück Moos aus einer gebauschten Stofffalte seines Wamsärmels. »So schlimm kann es nicht sein, wenn Ihr an den örtlichen Gepflogenheiten teilnehmt und in der Nacht vor dem ersten Mai im Wald auf Mädchenfang geht.«
Es sprach für Edward, dass er den Anstand besaß und ein wenig rot wurde. Auch wenn er versuchte, das Ganze abzuwiegeln. »Von Mädchenfang kann keine Rede sein. Die Damen, die während der Beltane-Nacht in den Wald gehen, leben nur die Bräuche ihrer heidnischen Vorfahren aus. Das Aufeinandertreffen der jungen Menschen in dieser Nacht wird seit Jahrtausenden praktiziert. Wer bin ich, dass ich mich dem verwehre?«
»Offensichtlich kein gläubiger Christ.« Henrys Stimme erklang hinter ihnen.
Die beiden fuhren herum.
Mit gespielter Betroffenheit schlug Edward sich die Hand vor die Brust. »Mea culpa, Mylord!«
Grinsend legte Henry seinem Freund den Arm um die Schulter und drückte ihn kurz. »Alter Heuchler. Ich kenne dich zu gut. Und diese zwei jungen Ladys dort drüben anscheinend auch.« Er deutete auf ein paar Bauernmädchen in schwingenden Leinenkleidern, ebenfalls blumenbekränzt, die die Köpfe zusammensteckten, in ihre Richtung lachten und kokett zu Edward herüberwinkten.
»Ach du meine Güte. Nur die nicht. Ich darf mich verabschieden. Henry, du kümmerst dich doch gut um unsere Lady Alice, nicht wahr?«
Damit verschwand er in der Menge, bevor einer der beiden ihn davon abhalten konnte. Ein wenig verlegen blieben Henry und Alice zurück. Sie wusste nicht recht, was sie sagen sollte, daher sah sie ihn einfach nur an. Frisch rasiert wie heute gefiel er ihr gut, aber den leichten Bartschatten, den er sonst trug, fand sie noch anziehender. Zu seinem braunen Wams trug er ein weißes Hemd und dunkle Beinkleider. Er war schlicht gekleidet, ohne den Pomp, mit dem der Adel sich gerne ausstaffierte, lediglich der massive goldene Ring an der Hand mit dem Wappen der Earls of Blackford verriet seinen Stand. Im Gegensatz zu Edward befanden sich an Henrys Sachen keine verräterischen Spuren, die darauf hindeuteten, dass er sich des Nachts im Wald vergnügt hatte, aber das wollte nichts heißen. Sein noch feuchtes, aus dem Gesicht gekämmtes Haar bedeutete lediglich, dass er heute Morgen ein Bad genommen hatte.
Als könne er ihre Gedanken lesen, sagte er: »Beltane ist die einzige Nacht im Jahr, in der es Edward bei uns auf dem Land besser findet als in London, wo er sonst gerne wäre. Da nimmt er mit Freuden an den Sitten und Gebräuchen der Bevölkerung teil.«
»Und du?«, entfuhr es Alice, bevor sie sich deswegen auf die Zunge beißen konnte.
Amüsiert ließ Henry seinen Blick über sie schweifen. »Für den Earl schickt es sich nicht, sich mit irgendwelchen Mädchen auf dem Waldboden herumzuwälzen.«
Alice zuckte die Schultern. Schon viele Earls hatten Dinge getan, die sich weiß Gott nicht schickten, da wäre Henry nicht der Erste.
Gerade marschierte eine Gruppe Morris-Tänzer ein, die mit ihren Schellen und Stöcken einen Heidenlärm verursachten, als sie sich den anderen Tänzern anschlossen. Dazu spielten weitere Musikanten auf, und das Ale floss in Strömen. An einigen Ständen wurde Schmalzgebackenes verteilt, um die Hungrigen zu versorgen, bis die Ochsen über dem Feuer gar gebraten waren. Das würde allerdings noch ein paar Stunden dauern, bis dahin war ein Großteil der Bevölkerung sicher betrunken.
»Wollen wir ein Stück gehen?«, schlug Henry vor, als würde er Alices Unwohlsein im Menschengewirr spüren. Sie nickte zustimmend, und er begann, für sie beide einen Weg aus dem Gewühl zu bahnen. Kurz spähte Alice suchend in die Ferne, aber sie sah weder ihren Vater noch ihre Zofe. Ohnehin hatte man zuvor abgesprochen, dass an diesem besonderen Tag ein jeder seinen Weg nach Hause selber finden müsse – am ersten Mai galt überall auf dem englischen Land der Ausnahmezustand.
Auch abseits des Dorfplatzes, in den Gassen zwischen den Häusern, herrschte enges Gedränge. Um nicht verloren zu gehen, nahm Alice dankbar Henrys angebotene Hand. Mit festem Griff umfassten seine Finger die ihren, und er führte sie sicher immer weiter weg von dem Lärm.
»Heute gibt es in ganz Blackford keinen ruhigen Platz«, rief er ihr nach hinten zu. »Aber ich weiß schon, wohin wir gehen können.«
Einen Moment lang befürchtete Alice, er wolle allen Ernstes mit ihr auf den Friedhof, als Henry den Weg zur Kirche einschlug. Doch er kürzte lediglich über den Gottesacker ab, um zur daneben liegenden Wiese zu gelangen, die sie rasch überquerten.
»Gehen wir zum Fluss?«, fragte Alice. Mittlerweile musste sie nicht mehr schreien, um sich mit ihm zu verständigen, weil die Musik und die Tänzer längst hinter ihnen zurückgeblieben waren. Lediglich junge Paare begegneten ihnen, ebenfalls Hand in Hand wie sie. Als Alice diese vertraute Geste bewusst wurde, wollte sie Henry loslassen, aber er hielt sie einfach weiterhin fest, bis sie ihren Widerstand aufgab.
»Genau.«
»Zur alten Weide?« Dort waren sie früher immer in den Fluss gesprungen.
Er schüttelte den Kopf. »Die gibt es nicht mehr. Ist vor einigen Jahren umgefallen. Aber unser Angelplatz, der ist noch da.«
Dabei handelte es sich um eine flache Stelle, an der die Wiese fast bis zum Wasser reichte und in eine Art schmalen Strand überging, auf dem wie zufällig verstreut ein paar Findlinge lagen. Am Ufer wuchsen Büsche und Pappeln, in deren Schatten sie oft Schutz vor der Sommersonne gesucht hatten.
Tatsächlich sah alles noch genauso aus wie in Kindertagen, musste Alice wenig später zugeben, als sie den Fluss erreichten. »Wie schön!«, rief sie. »Als wäre die Zeit stehen geblieben. Weißt du noch, wie ihr Jungen euch immer darüber aufgeregt habt, dass wir Mädchen beim Angeln weder still sitzen noch den Mund halten konnten?«
Er lächelte sie an. »Wie könnte ich das vergessen?«
Sie gingen zu den Steinen und setzten sich darauf. Wie früher zog Alice die Knie an und schlang ihre Arme darum, Henry nahm neben ihr Platz.
Er stupste sie mit seiner Schulter an. »Obwohl du wirklich eine Plage warst, Alice Cranley, und ein paar Jahre jünger als ich, habe ich dich damals als einziges der Mädchen respektiert.«
»Wahrscheinlich, weil ich kein Mädchen sein wollte, sondern einer von den Jungen. Wie geht es eigentlich deinen Schwestern?«
»Beide verheiratet.«
»Und dein Cousin, der so oft hier war?«
»Wurde von einem Lancaster Anhänger getötet.«
»Das tut mir leid, Henry.«
Eine Weile blickten sie hinaus auf den Fluss, der träge im warmen Wind vorbeifloss. Die Sonne stand nun hoch am Himmel, und es war heiß geworden.
»Lass uns in den Schatten gehen, wenn es dir nichts ausmacht«, schlug Alice vor.
Im Gras unter dem Blätterdach einer Pappel ließ es sich besser aushalten.
»Seit damals hat sich viel verändert«, sagte Henry leise. »Wie ist es dir in Frankreich ergangen? Warst du glücklich dort?«
Diese persönliche Frage erstaunte Alice. »Als Vater mich nach Mutters Tod zu ihren Verwandten schickte, bedeutete das für mich das Ende der Welt«, gab sie zu. »Ich war elf Jahre alt, hatte meine Mutter verloren und dazu noch meine Heimat. Die erste Zeit verbrachte ich im Haus meines Onkels in der Bretagne. Als ich älter wurde, ging ich an den Hof von Herzog Franz, die letzten beiden Jahre sogar an den von König Karl. War ich glücklich?« Während sie Henry ansah, überlegte sie, was sie darauf antworten sollte. »Nach einer Weile fand ich mich mit meiner Situation ab, aber die Franzosen betrachteten mich nie als eine der Ihren und ich mich selbst auch nicht. Ich lebte immer nur für den einen Tag, an dem ich nach Hause zurückkehren durfte.«
Gebannt hing Henry an ihren Lippen. »Und wie war dein Heimkommen?«
»Ich verließ England als Kind. König Edward saß auf dem Thron und mein Vater hatte noch kein graues Haar in seinem Bart. Zurück kam ich als Frau, Papa ist mittlerweile ein alter Herr geworden, und das Land wird von einem Thronräuber regiert.«
»Alice!« Henry sog die Luft ein. »So was darfst du niemals laut sagen. Wenn das in die falschen Ohren gerät, könntest du deinen Kopf dafür verlieren.«
Sie machte eine wegwerfende Geste mit der Hand. »Ich weiß, ich weiß. Aber wer gibt schon etwas auf mein Geschwätz, bin ich doch nur ein dummes Weib.« Bei den letzten Worten troff ihre Stimme vor Bitterkeit. Um das Thema zu wechseln, fragte sie nun Henry, was er die vergangenen zehn Jahre gemacht hatte.
»Vermutlich ging es mir ähnlich wie dir.«
»Das bezweifle ich.«
»Doch! Nur wurde ich an den Königshof nach Westminster geschickt, zu einflussreichen Verwandten, die einen Höfling aus mir machen sollten. Leider war ich dafür überhaupt nicht geeignet. Zu wenig diplomatisch, ließ man mich wissen. Zu eigenwillig. Wenigstens traf ich dort Edward wieder. Erinnerst du dich nicht an ihn? Er war mal für einen Sommer hier bei uns auf dem Land.«
»Ja, darüber sprachen wir vorhin.«
»Jedenfalls, als Vater krank wurde, kam ich zurück nach Hause, und nach seinem Tod wurde ich der Earl. Das ist jetzt ein Jahr her.«
»Ich denke nicht, dass man deine Erziehung mit der meinen vergleichen kann«, beharrte Alice. »Du warst ein Junge aus dem englischen Hochadel am Königshof. Ich nur ein Mädchen vom niederen Adel in einem fremden Land.« Alice ließ sich auf ihre Ellenbogen zurücksinken und blickte nach oben in die Baumkrone. Ein leichter Wind spielte mit den Blättern der Pappel und brachte sie zum Wispern.
»Und jetzt sind wir beide erwachsen geworden.« Bei diesen Worten stützte sich Henry auf einem Arm ab und beugte sich über Alice.
Sein Gesicht war dem ihren plötzlich sehr nah. So nah, dass sie die kleinen hellbraunen Sprenkel in seinen dunklen Augen sah, und wie lang seine Wimpern waren. Er machte keinen Hehl daraus, wie anziehend er sie fand, was für ein aufgeregtes Kribbeln in Alices Bauch sorgte. Wenn sie ihn ließe, würde er sie sicher küssen.
»Bist du das? Warum verprügelst du dann einen Schwächeren?«, fragte sie stattdessen unvermittelt.
Irritiert blinzelte er und setzte sich auf. »Sprichst du von John Fairbanks? Alice, du verstehst es wirklich, einen Mann wieder auf den Boden der Tatsachen zu befördern.« Seine Stimme klang verärgert.
Nun setzte sich auch Alice kerzengerade hin. »Wenn das der Name des Bauern ist, den du geschlagen hast, dann spreche ich von ihm, ja.«
Henry stand auf und reichte ihr die Hand. Sein Gesicht sah wie versteinert aus, der weiche Ausdruck um seinen Mund war weggewischt. »Ich bringe dich nach Hause.«
»Zuerst schuldest du mir eine Antwort.«
»Ich schulde dir überhaupt nichts!«
Alice ignorierte die angebotene Hand, erhob sich so würdevoll wie möglich und strich ihren Rock glatt. Am liebsten hätte sie ihn angeschrien, doch sie bemühte sich um Beherrschung. »Dann sind wir wohl auch nicht weiter als vor zehn Jahren. Du bist der große Herr, der tun und lassen kann, was er will, und sich vor niemandem dafür rechtfertigen muss. Ich hatte gehofft, du würdest wenigstens ein wenig Respekt vor mir haben, aber anscheinend beschränkt sich dein Interesse auf meinen Körper, nicht auf das, was ich denke.« Damit drehte sie sich um und ging davon.
»Warte! Ich bringe dich nach Hause.« Er machte Anstalten, ihr nachzulaufen, doch sie herrschte ihn an: »Wage es ja nicht!«
»Es ist der Tag des Maitanzes, Alice, hier wimmelt es von paarungswilligen Betrunkenen.«
»Ich kann gut auf mich selbst aufpassen.«