Читать книгу Die Rose und der Schwan - Sophie Oliver - Страница 8
3.
ОглавлениеDie Zinnen von Morannis Castle glühten im Abendrot weithin sichtbar. Der seit Tagen andauernde Regen hatte vor Stunden endlich aufgehört und einem prächtigen Sonnenuntergang Platz gemacht. Eine ganz besondere Stimmung ergriff Alice, wann immer sie den Burgberg hinaufritt und in den Schatten der trutzigen Anlage eintauchte. Das war schon in Kindertagen so gewesen.
Morannis Castle war ein mittelalterliches Meisterwerk. Die sechseckige Hauptburg mit ihren imposanten Türmen wurde zu drei Vierteln von einer Vorburg umschlossen, lediglich die Rückseite blieb unverstärkt, denn die fiel senkrecht in eine Steilwand aus Granitfelsen ab, uneinnehmbar für Feinde, außer es würde sich dabei um Eidechsen handeln. Innenhöfe und Wehrgänge unterteilten die Vorburg in gut zu verteidigende Abschnitte, und eine schwere Zugbrücke schützte die Bewohner vor ungebetenen Gästen. Dieses Haupttor war nur über eine künstlich angelegte schmale Rampe im Gelände zu erreichen, die an ihrem Ende die Auflage für die Zugbrücke bildete. Der Burggraben war mit Wasser geflutet und wurde aus dem nahen Fluss Severn gespeist. An sonnigen Tagen gleißten die Mauern aus hellem Sandstein im Licht, und Morannis Castle schien regelrecht zu leuchten.
Verständlich, dass Henry stolz auf seine Ahnen ist, dachte Alice. Ich wäre es jedenfalls, wenn meine Familie so etwas geschaffen hätte.
Zusammen mit ihrem Vater und einem Bediensteten passierte sie die Zugbrücke und gelangte in den ersten Innenhof. Sie hatte darauf bestanden, die Kutsche zu Hause zu lassen und stattdessen zu reiten. Weil Alice ohnehin nicht vorhatte, besonders lange zu bleiben, war es ihr egal, ob das Wetter später erneut umschlagen würde oder nicht. Außerdem zog sie das Gefühl, frei auf einem Pferd zu sitzen, immer der Enge einer Kutsche vor.
In der Dämmerung hatte man Fackeln entzündet, die den ankommenden Gästen den Weg wiesen. Sie mussten ihnen einfach nur folgen. Es sah alles noch so aus wie in Alices Erinnerung. Nicht dass sie als Kind besonders oft hier gewesen wäre. Kleine Mädchen hatten in einer großen Ritterburg nichts zu suchen. Außer sie wurden hier hineingeboren, dann beschränkte sich ihr Lebensraum allerdings auf die Kemenate sowie den Kräutergarten, und bei speziellen Anlässen gab es Zugang zur großen Halle.
In diese traten Alice und ihr Vater nun ein. Wandteppiche schmückten die roh behauenen Steinwände. Man hatte einen neuen Holzboden verlegt und zusätzliche Feuerstellen eingebaut, fiel ihr auf. Rings herum stand eine stattliche Anzahl an Kerzenleuchtern, die warmes Licht spendeten. Irgendjemand hatte sich anscheinend darum bemüht, den riesigen Raum wohnlicher zu gestalten.
Sicher nicht Henrys Mutter, dachte Alice, die ist bestimmt sauertöpfisch wie eh und je.
Tatsächlich saß am Kopf der Tafel eine ältere Dame mit versteinerter Miene. Jahrzehntelanger Missmut hatte ihre Mundwinkel unumkehrbar nach unten gezwungen und ließ sie älter aussehen, als sie eigentlich war. Früher einmal eine bekannte Schönheit, wirkte sie jetzt nur noch verhärmt. Henry neben ihr sah dagegen freundlich aus. Er redete gerade mit einem anderen Mann. Während Alice und Sir Oswin näherkamen, brach die Unterhaltung aber sofort ab.
»Es freut mich zu sehen, dass du meine kurzfristige Einladung angenommen hast«, sagte er zur Begrüßung. Im Schein der Kerzen leuchteten seine Augen in einem dunklen Braunton, der einen interessanten Kontrast zu seiner hellen Haut bildete. Weil sie nicht verhindern konnte, ihn einen Moment länger anzusehen, als es sich für eine Dame gehörte, ärgerte sich Alice über sich selbst. »Vielen Dank«, sagte sie, »aber es wäre wirklich nicht nötig gewesen …«
Henrys Mutter schnitt Alice das Wort ab. »Ich bin mir sicher, mein Sohn hat die Einladung nur ausgesprochen, um den guten Ton zu wahren.«
Sir Oswin bemerkte offenbar das ärgerliche Einatmen seiner Tochter und mischte sich schnell ins Gespräch ein, als stünde zu befürchten, dass Alice die Burgherrin sonst brüskieren könnte. Das schien auch Henry aufgefallen zu sein, denn ein kleines amüsiertes Lächeln stahl sich auf seine Lippen.
Nach einem kurzen, belanglosen Wortwechsel durften sich die Cranleys auf ihre Plätze an der langen Tafel zurückziehen, und das Essen wurde aufgetragen.
»Sie führt ein strenges Regime hier auf der Burg«, sagte Alices Tischherr, der die Szene ebenfalls beobachtet hatte, mit einem Kopfnicken hinüber zu Mildred Sheldrake.
Erst jetzt fiel Alice auf, dass sie neben Henrys Begleiter saß, demjenigen, der ihr Einmischen in die Rauferei miterlebt hatte. Mit seinem flachsfarbenen Blondschopf und dem kantigen Kinn war er leicht wiederzuerkennen. Kurz hoffte sie noch, er möge die Diskretion besitzen, die gestrige Angelegenheit zu übergehen, da brachte er auch schon das Gespräch darauf. Wenigstens tat er das so leise, dass niemand sonst es hörte. »Den Bluterguss auf Eurer Wange habt Ihr sehr geschickt abgedeckt. Wenn man es nicht weiß, bemerkt man ihn kaum. Allerdings bezweifle ich, dass es irgendjemanden in diesem Raum gibt, der nicht von Eurem beherzten Eingreifen gehört hat. Lady Sheldrake hat sich lautstark darüber echauffiert, man hörte sie durch die Frauengemächer bis hinunter in die Waffenkammer brüllen. Und Neuigkeiten verbreiten sich schnell, wie Ihr wisst …«
Alice spürte, wie sie rot wurde, und hielt den Blick gesenkt.
Der Mann fuhr ungerührt fort: »Ich für meinen Teil fand die Sache äußerst amüsant. Endlich passiert mal etwas hier auf dem Land.«
»Amüsant?« Mit einem Anflug von Gereiztheit sah Alice ihn an. Dabei bemerkte sie ein schelmisches Zucken um seine Mundwinkel.
Sie mussten beide lachen – was ihnen einen eisigen Blick von Lady Mildred einbrachte.
»Verzeiht«, sagte er schließlich, »ich fürchte, ich habe Eure Lage bei Henrys Mutter nicht gerade verbessert. Zumal sie auch mir nicht besonders gewogen ist. Mein Name ist Edward Styles.« Er deutete im Sitzen eine Verbeugung an, die ihm ziemlich misslang und Alice wiederum zum Lachen brachte.
»Styles?«, fragte sie ihn. »Seid Ihr verwandt mit Guy Styles, dem Baron Henshawe?«
»Erwischt. Der ist mein Vater. Und ich bin sein vierter, jüngster und spät geborener Sohn, was meine Position zu Hause nicht gerade stärkt.«
Alice nickte verstehend. »Daher haltet Ihr Euch lieber auf Morannis Castle auf.«
»Henry ist mein bester Freund. Nur so ist es zu erklären, dass er meine dauernde Anwesenheit in seinem Haus toleriert.« Er beugte sich ein wenig näher zu Alice und flüsterte verschwörerisch. »Einer meiner Vorteile ist, ich kenne alle, die hier sind. Wenn Ihr also Fragen habt …«
»Die habe ich in der Tat. Wer ist zum Beispiel diese hübsche junge Dame dort vorn?« Möglichst unauffällig wies Alice auf eine blasse Schönheit mit prächtigem, zu einer kunstvollen Frisur gestecktem, rotem Haar. Sie trug ein Geschmeide um den Hals, das einer Königin würdig war, und ihr Kleid schimmerte in sattem Dunkelgrün.
»Ein Schuss, ein Treffer, Mylady. Da habt Ihr Euch zielsicher die reichste Person im Raum ausgesucht – wenn man von ihrem Vater absieht, der neben ihr sitzt. Das ist Lady Catherine Wexcombe.«
»Und ihr Vater ist Alexander Wexcombe, der Earl of Claimond?«
»Korrekt. Ich sehe Ihr kennt Euch aus im englischen Hochadel.«
»Deswegen sitzt der Earl neben Lady Mildred«, sagte sie.
Aber Edward stimmte ihr nur teilweise zu. »Weil es standesgemäß ist – und weil seine Tochter Lady Mildreds bevorzugte Kandidatin für Henry ist. Man munkelt, wenn sie ihren Willen bekommt – und das tut sie immer – und man sich bezüglich der Mitgift einig wird, könnte die Hochzeit vor Jahresende stattfinden.«
»Hat Henry ihr denn bereits einen Antrag gemacht?«
Edward warf Alice einen neugierigen Blick von der Seite zu. »Nein, das noch nicht. Warum? Wollt Ihr Lady Catherine etwa den Bräutigam streitig machen?«
»Sir Edward, auf diese absurde Frage erwartet Ihr wohl kaum eine Antwort.«
»Dann ist Euer Herz noch frei?« Mit einer selbstverständlichen Dreistigkeit, die Alice überrumpelte, legte er seine Hand auf die ihre und sah ihr tief in die Augen. In Edward Styles’ Blick lag zwar ein wenig Belustigung, aber Alice glaubte, auch Nervosität zu erkennen. So souverän, wie er tat, war er nicht. Daher antwortete sie nicht gleich, sondern musterte ihn ihrerseits prüfend.
Die blauen Augen unter seinen blonden Brauen lagen ein wenig tief, er hatte eine zierliche, gerade Nase und einen Mund, der seinem Gesicht etwas Besonderes verlieh. Edwards Lippen waren eher breit als voll, mit einer markant geschwungenen Oberlippe, die charmant aussah, wenn er lächelte. Alice war sich jedoch sicher, dass sie auch hart wirken könnte, falls er wütend wurde.
»Nein«, antwortete sie ihm, »mein Herz ist nicht frei. Es gehört mir allein, und ich gedenke nicht, es in naher Zukunft zu verschenken.«
Nun hob sich einer von Edwards Mundwinkeln. Er lächelte schief, sagte aber nichts dazu, sondern nickte nur galant.
Sodann wandten sich die beiden dem eben aufgetragenen Essen zu. Es gab Hase mit Lauch, und Alice benahm sich so vorbildlich, wie sie es in Frankreich gelernt hatte.
Edward war freundlich, unterhaltsam sogar – wahrscheinlich hatte Henry ihm angetragen, sich um die unberechenbare Lady Alice zu kümmern. Bestimmt hegte er kein wirkliches Interesse an ihr.
Nachdem der dritte Gang, Fasan mit glasierten Zwiebeln, abserviert worden war, und sie keine weiteren Katastrophen verursacht hatte, entspannte sich Alice etwas. Sie riskierte sogar den ein oder anderen Blick hinüber zu Henry.
Der trank wenig, bemühte sich um Konversation mit seiner Mutter und beobachtete die an der Tafel versammelte Runde. Alice war erneut fasziniert von seinem nachtschwarzen Haar, das beinahe bis auf seine Schultern reichte. Er trug es aus dem Gesicht gekämmt, was seinen ernsten Ausdruck betonte. Wenn es ihm wild in die Stirn fiel, so wie gestern, gefiel es ihr besser. Zusammen mit den geraden Augenbrauen und dem nachdenklichen Zug um die Lippen wirkte er sehr erwachsen. Von dem Jungen, den Alice einst zu kennen glaubte, war nichts mehr übrig.
Wann immer sie zu ihm hinsah, trafen sich ihre Blicke und hielten einander fest. Alice war machtlos dagegen. Diese aufkeimende Faszination ärgerte sie. Um nichts auf der Welt wollte sie Henry Sheldrake anziehend finden.
Deshalb täuschte sie nach dem Essen Kopfschmerzen vor und teilte ihrem Vater mit, sie würde nach Hause reiten. Der Bedienstete, der sie hierherbegleitet hatte, wartete ohnehin am Haupttor und könnte sie eskortieren, so Alices Argumentation. Sir Oswin müsse sich um ihre Sicherheit keine Sorgen machen.
Um ein zweites Aufeinandertreffen mit Mildred zu vermeiden, zog Alice es vor, sich nicht bei den Sheldrakes zu verabschieden, und verschwand hoffentlich unbemerkt aus dem Saal.
Sie hatte es schon bis in den Brunnenhof geschafft – nur ein Tor noch und sie wäre an der Zugbrücke –, als sie eine Stimme hinter sich hörte.
»Einfach so abhauen? Das gehört sich aber nicht!« Henry schritt die Treppe an einer Seitentür hinunter und kam auf sie zu. Schlendernd beinahe. Der Schein der Fackeln warf ein Spiel aus Licht und Schatten auf sein Gesicht und verlieh ihm die Ausstrahlung eines geheimnisvollen Nachtgeschöpfes.
Alice war verwirrt, ein Gefühl, das sie nicht schätzte. Doch er hatte natürlich vollkommen recht. Wo blieben ihre Manieren? »Das tut mir sehr leid«, sagte sie, nachdem er unmittelbar vor ihr stehen geblieben war. »Ich hätte mich bedanken und verabschieden müssen. Es war nicht richtig von mir, einfach zu gehen.« Sie neigte leicht den Kopf, eine angedeutete Verbeugung, eine elegante Geste der Höflichkeit.
Ein Lächeln stahl sich in Henrys Gesicht. Dabei sah er vollkommen verwandelt aus, weil es nicht nur um seinen Mund spielte, sondern auch seine Augen erreichte und so ansteckend und äußerst anziehend war. Für einen Moment vergaß Alice alles um sich herum und verlor sich in Henrys Anblick. Sie waren allein, niemand sonst hielt sich im Burghof auf.
Später konnte sie nicht mehr sagen, ob sie ihr Gesicht zu ihm emporgehoben hatte, oder ob er sich zu ihr heruntergebeugt hatte. Sie erinnerte sich nur daran, dass zum zweiten Mal nach dem Vorfall im Dorf eine seiner Haarsträhnen ihr Gesicht fast berührte und dass sie ihn erneut von sich stieß. Weil sie plötzlich unsicher wurde und er das nicht bemerken sollte.
Im selben Augenblick, in dem Henrys Lächeln von seinem Gesicht verschwand, öffnete sich die Tür am oberen Ende der Treppe, ein Lichtschein erhellte den Hof und Edward trat heraus. »Henry!«, rief er. »Deine Mutter verlangt nach dir.«
Ohne auf Henrys Reaktion zu warten, lief Alice durch das Tor in die Vorburg und zu den Stallungen, wo ihr Diener mit dem Pferd wartete. Sie ließ sich in den Sattel helfen und ritt so undamenhaft schnell nach Hause, dass der arme Kerl seine Mühe hatte, Schritt zu halten. Sowohl er als auch sein Pferd waren nämlich etwas in die Jahre gekommen.
In Halcyon Hall drückte sie dem Stallburschen die Zügel in die Hand und zog sich sofort in ihre Gemächer zurück. Sie schloss die Vorhänge, verriegelte die Tür und warf sich auf ihr Bett. Schlaf konnte sie bis zum Morgengrauen nicht finden, so sehr spukte Henry Sheldrake in ihrem Kopf herum und beherrschte ihr Denken. Alice wünschte, sie hätte einmal in ihrem Leben wie eine besonnene Lady gehandelt und wäre einfach an der Rauferei vorbeigeritten. Dann wäre alles wie immer. Sie wäre noch die alte Alice, hätte unbeschwerte Gedanken – und nun war alles anders. Der Entschluss, der ihr letztendlich Schlaf brachte, war der, dass sich Henry zwar in ihren Kopf geschlichen hatte, sie ihn aber auf keinen Fall in ihr Herz lassen würde.