Читать книгу Die Rose und der Schwan - Sophie Oliver - Страница 6
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ОглавлениеUngeachtet seiner glänzend polierten Lederstiefel stapfte er durch den Schlamm des Dorfplatzes auf sein Gegenüber zu und schlug dem Mann mit der Faust so hart ins Gesicht, dass dieser schreiend zu Boden ging. »Ich habe dich gewarnt!«, brüllte er dabei. »Aber du konntest es nicht lassen!«
Der beschimpfte und deutlich kleinere Mann rappelte sich mühsam wieder hoch und wollte zu einer Erklärung ansetzen, was seinen Angreifer nur noch wütender machte.
Genau in diesem Moment griff Alice ein. Wenn ein großer, gut gekleideter Edelmann auf einen zerlumpten Bauern eindrosch, dann war das eine inakzeptable Ungerechtigkeit. »Sofort aufhören!« Entschlossen sprang sie von ihrem Pferd und stürzte zwischen die beiden Streithähne.
Die umstehende Menschenmenge, die sich trotz Nieselregens innerhalb kürzester Zeit versammelt hatte, um sich das Spektakel nicht entgehen zu lassen, hielt den Atem an. Ein derartiges Verhalten, noch dazu von einer Frau, das schockierte weit mehr als die Schlägerei an sich. Sicher würde hier noch einiges geboten werden!
Dann ging alles ziemlich schnell. Der kleinere Mann wollte das von Alice verursachte Überraschungsmoment nutzen. Seine gestreckte Faust schoss nach vorne, traf jedoch nicht seinen Gegner, sondern versehentlich Alices Wange, woraufhin sie zusammensackte und bewusstlos liegen blieb. Ihr grünes Kleid, das inmitten des Drecks wie ein Fleckchen sauberes Gras wirkte, war bis über die Knie hochgerutscht. Ein unerhörter Anblick.
Nach einem Moment der Stille brach Tumult los. Rasch machte sich der kleine Mann im Chaos aus dem Staub, während der große auf die Knie sank und Alice überraschend behutsam in seine Arme hob. Dabei ruinierte er sich nach den Stiefeln nun auch sein Wams. Er trug sie an den Rand des Dorfplatzes und legte sie auf einen Strohhaufen, der durch das überstehende Dach einer Hütte vor dem Regen geschützt war. Wütend befahl er den Leuten, zu verschwinden. Lediglich sein Begleiter blieb, der nun an seine Seite trat, ebenso wie Alices Entourage, bestehend aus ihrer Zofe und dem Pferdeknecht.
Noch bevor sie richtig zu sich kam, schmeckte Alice Blut. Anscheinend hatte sie sich beim Fallen auf die Zunge gebissen. Das hätte sie von vorneherein machen sollen, dann hätte der Schmerz sie bestimmt davon abgehalten, etwas so völlig Schwachsinniges zu tun, wie sich zwischen zwei kämpfende Männer zu werfen.
Schließlich öffnete sie ihre Augen einen Spaltbreit. Das Gesicht des Mannes war so dicht über dem ihren, dass eine Strähne seines schwarzen Haares sie fast berührte. Schwarz wie eine mondlose Nacht war das Erste, was Alice dachte. Schwärzer noch als schwarz.
Aus seinem Gesicht war jeglicher Zorn gewichen, er blickte auf sie hinunter, ernst und besorgt mit zusammengepressten Lippen. Vorsichtig berührte er mit einem Finger eine Stelle auf Alices Wange.
»Au!«
Ihr Aufschrei ließ ihn zurückzucken, als hätte er sich verbrannt.
»Reicht es nicht, harmlose Männer zu verprügeln, die Euch körperlich unterlegen sind? Müsst Ihr auch noch einer verletzten Dame zusätzlichen Schmerz zufügen?«, schimpfte sie, während sie ihn mit beiden Händen wegschob und sich aufsetzte. Die höllischen Kopfschmerzen ignorierte sie.
Ein Ausdruck des Erkennens machte sich auf dem Gesicht des Mannes breit, wischte die Besorgnis weg und ersetzte sie durch Überraschung.
»Alice?«, fragte er. »Alice Cranley?«
»Lady Alice Cranley«, unterbrach die Stimme der Zofe von der Seite.
Nun fand es wohl auch der Begleiter für nötig, sich einzumischen. »Und Ihr redet mit dem Earl of Blackford, also etwas mehr Respekt, Frau!« Der Earl schüttelte ungläubig den Kopf. »Alice, natürlich! So grüne Augen gibt es kein zweites Mal. Und wie ich feststellen kann, bist du noch genauso störrisch wie früher.«
Um wenigstens ungefähr auf Augenhöhe mit dem Earl zu gelangen, stand Alice auf und schüttelte ihr hellblondes Haar so würdevoll nach hinten, wie es der darin klebende Matsch erlaubte.
»Henry Sheldrake! Rüpelhaft wie eh und je!« Falls er erwartet hatte, sie würde sich von seinem neuen Titel beeindrucken lassen, täuschte er sich. Er war als Kind schon eine Plage gewesen, und nur, weil er offensichtlich die Nachfolge seines Vaters angetreten hatte, machte ihn das in Alices Augen noch lange nicht zu einem Edelmann. Er war noch immer der verwöhnte Sohn, der alle anderen schikanierte. Allerdings hatte sich der schlaksige Junge zu einem muskulösen Mann von beeindruckender Größe entwickelt. Henry musterte Alice mit durchdringendem Blick von oben bis unten.
»Wenn man nicht weiß, worum es geht, sollte man sich nicht einmischen«, sagte er nun dunkel. »Vor allem nicht als Frau. Hat man dir das nicht beigebracht, wo immer du die letzten Jahre warst?«
Der zweite Satz ärgerte Alice noch mehr als der erste. Ihre Antwort fiel entsprechend schnippisch aus. »Ich war in Frankreich, falls es dich interessiert. Und ich mische mich immer ein, wenn ein Unrecht geschieht!«
»Ein Unrecht?« Henry wirkte, als würde er nicht verstehen, was sie meinte.
Waren die Sitten hier in England tatsächlich mittlerweile so verroht, dass Anstand und Ehre abhandengekommen waren und es akzeptabel war, sich an Schwächeren zu vergreifen?
Gerade wollte Alice zu einer weiteren Erwiderung ansetzen, da ritt ihr Vater auf den Dorfplatz, durchnässt und besorgt dreinblickend. »Alice!«, er sprang vom Pferd und drückte sie an sich. »Gottlob, dir ist nichts passiert! Ich machte mir Sorgen. Was hat dich so lange aufgehalten? Wie siehst du aus, mein Kind? Und was ist das in deinem Gesicht? Du hast dich doch nicht geprügelt? In deinem Alter …« Erst jetzt bemerkte er den Earl. Hastig deutete er eine Verbeugung an. »Mylord, Ihr auch hier – und ebenso voller Schlamm? Was ist geschehen?«
Henry warf Alice einen finsteren Blick zu, bevor er ihrem Vater antwortete. »Eure Tochter und ich hatten ein überraschend stürmisches Wiedersehen …«
»Gibt es etwas, für das ich mich im Namen von Alice entschuldigen muss?«
Ein erneuter intensiver Blick traf sie. »Nein, Sir Oswin, ganz und gar nicht. Alice und ich sind in der Lage, die Dinge zwischen uns allein zu klären. Wie wir es auch als Kinder schon taten. Aber Ihr solltet lieber rasch nach Hause reiten. Der Regen wird immer stärker, und es wäre bedauerlich, wenn sich Eure Tochter erkältet, zart, wie sie ist. Gestattet mir, zu helfen.« Er fasste Alice mit beiden Händen um die Taille und hob sie mühelos auf ihr Pferd. Dabei flüsterte er in ihr Ohr, sodass nur sie es hören konnte: »Du solltest dich schämen, deinen Vater so zu grämen. Werde endlich erwachsen.«
Mit knallrotem Kopf riss Alice ihr Pferd herum und ritt davon, ohne sich noch einmal umzudrehen. Sie hätte schreien können vor Wut. Oder weinen. Am besten beides. Dieser arrogante Kerl hatte sich nicht einen Deut geändert, seitdem sie vor zehn Jahren England verlassen hatte. Er mochte jetzt ein Mann sein, aber sie konnte ihn noch genauso wenig leiden wie als Jungen.