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Spazierritt

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(Franz von Stuck, 1903, Öl auf Leinwand, 41x41cm, Sammlung Georg Schäfer, Schweinfurt)

»Meine Herrschaften, wir wissen, dass bei jedweder Art von Verbrechen die Aufklärungsquote exponentiell sinkt, je mehr Zeit verstreicht.« Carl Decimus von Klockheim sah jeden in der Runde an: Frau Schimmelreiter, Behrens, Schmitz und zum Schluss Bruns. Sie saßen in einem der Verhörräume, weil Bruns unmöglich alle in seinem Büro unterbringen konnte. Frau Schimmelreiter hatte den Kaffee abgelehnt, den er ihr angeboten hatte, jedoch einen To-Go-Becher mit italienischem Espresso von Schmitz begeistert angenommen, wie Bruns missbilligend beobachtet hatte.

»Das kann man so nicht sagen.« Schmitz klickte einen Kugelschreiber mehrfach rein und raus. »Bei Mord zum Beispiel besteht grundsätzlich eine extrem hohe Aufklärungsquote, auch noch nach längerer Zeit. Wohingegen Einbruchdiebstahl zu den Delikten gehört, die eine sehr geringe Aufklärungsrate haben, statistisch gesehen.« Er warf Frau Schimmelreiter einen bedauernden Blick zu. »Daher verstehe ich den Sinn dieses Treffens nicht, es ist, als ob man Äpfel mit Birnen vergleichen würde.«

Bruns hätte seinen rehäugigen Polizeihauptmeister am liebsten väterlich geherzt. »Genau«, hakte er ein. »Wir werden den Mörder von Alina Roth auf jeden Fall finden.«

»Und was weiter? Den Dieb meines Gemäldes dann wohl eher nicht, oder wie? Ist das die logische Folgerung aus dem statistischen Wissen von Herrn Schmitz?«

»So meinte ich es nicht.«

»Klang aber danach«, kam Behrens seiner Auftraggeberin zu Hilfe.

»Na, dann kümmern Sie beide sich doch um den Ölschinken und wir uns um die wirklich wichtigen Dinge.«

»Herr Kommissar!« Die Empörung über diese Bemerkung stand von Klockheim ins Gesicht geschrieben. Wahrscheinlich hätte er gern dazu noch bekräftigend auf den Tisch geschlagen. »Das habe ich jetzt nicht gehört. Falls Sie und der Kollege mit Ihrem Arbeitspensum überfordert sind, müssen Sie sich um personelle Unterstützung bemühen. Und gerade wenn dem so wäre, müssten Sie eigentlich dankbar für meinen Vorschlag sein.«

Bruns schloss kurz die Augen. Er mochte den sogenannten Vorschlag nicht hören, zumal von Klockheim niemals etwas nur vorschlug, sondern stets forderte. Was immer gleich aus seinem Mund kommen würde – der gut vernetzte und superwichtige Staatsanwalt würde von ihm verlangen, es zu tun. Und wenn sich Bruns jemals Chancen ausrechnen wollte, aufs Festland versetzt zu werden, durfte er sich von Klockheim nicht zum Feind machen. Daher wünschte er sich, dieses nette Beisammensein würde nicht stattfinden und er könnte sich in Luft auflösen. Aber nein …

»Wir gehen alle davon aus, dass die Ermordung von Alina Roth und der Diebstahl des Gemäldes von Frau Schimmelreiter irgendwie zusammenhängen.«

»Nö. Ich nicht.« Bruns unterbrach von Klockheim trotzig wie ein kleiner Junge. »Dafür gibt es keinerlei Beweise.«

»Aber den gesunden Menschenverstand, der das sagt. Den werden Sie wohl hoffentlich haben. Jedenfalls ist es so, dass Frau Schimmelreiter und Herr Behrens Informationen haben, die sicher hilfreich sind. Und umgekehrt wäre es freundlich, wenn die beiden von Ihnen die ein oder andere Auskunft bekommen würden.«

Schmitz klickte noch mal mit dem Kugelschreiber, dann legte er ihn beiseite. »Verstehe ich Sie richtig, Herr Staatsanwalt: Eine möglicherweise Verdächtige und ein Privatdetektiv haben sachdienliche Hinweise, die sie verpflichtet sind, der Polizei mitzuteilen, möchten das aber nur machen, wenn sie dafür interne Ermittlungsinformationen erhalten?«

»So ungefähr«, sagte von Klockheim ungerührt und starrte Schmitz so lange in die Augen, bis dieser den Blick senkte.

Bruns nahm sich vor, künftig etwas toleranter bei den Marotten seines Mitarbeiters zu sein, denn der Mann war wirklich ein Goldstück.

»Na schön.« Er gab sich geschlagen. »Da das eine Besprechung fernab des Protokolls ist, wie Sie vorher betonten, Herr Staatsanwalt, möchte ich eines sagen: Ich hoffe, Sie vergessen es nicht, falls Polizeihauptmeister Schmitz und ich uns kooperativ zeigen.«

Von Klockheim nickte huldvoll.

»Dann Sie zuerst«, wandte sich Bruns an Frau Schimmelreiter. »Schießen Sie los.«

»Herr Behrens und ich haben Sie gestern im Auto gesehen, wie Sie zu Professor Kollenbosch rausgefahren sind. Wir waren kurz vorher dort.«

»Ich weiß.« Bruns verdrehte genervt die Augen und dachte daran, wie ungnädig Kollenbosch und seine Malerfreunde gewesen waren, weil sie noch weitere Fragen beantworten mussten. Besonders diese Kirsten Wennehoff war eine richtige Zicke. Als könnte sie Gedanken lesen, sagte Hettie Schimmelreiter: »Von Frau Wennehoff haben wir etwas erfahren, das sie Ihnen sicherlich nicht erzählt hat. Alina Roth hatte einen reichen Gönner, einen älteren Liebhaber sozusagen.«

»Ich nehme nicht an, dass sie so freundlich war, Ihnen auch gleich noch dessen Namen mitzuteilen.«

»Doch, klar. Er heißt Carsten Janssen.«

Dieses Mal klickte Schmitz nur einmal mit seinem Stift und notierte alles.

Behrens übernahm. »Dann schreiben Sie mal weiter auf: Janssen ist 68 Jahre alt, verwitwet und ein wohlhabender ehemaliger Unternehmer aus Kiel im Ruhestand. Er hat eine Tochter namens Denise, 22, und ein Haus in Kampen.«

»Ich schätze, Sie haben Herrn Janssen noch nicht vernommen und eine schriftliche Aussage aufgenommen?«, spottete Bruns.

»Nö, ’n bisschen was wollten wir Ihnen auch noch lassen.«

»Besten Dank.«

»Das ist nicht alles«, sagte der Privatdetektiv. »Frau Schimmelreiter und ich haben beobachtet, wie der Vorsitzende der Kunstfreunde, dieser Herr Theissen, sich auf einem Parkplatz in List mit einer jungen Dame getroffen hat. Ich habe über ihr Autokennzeichen herausgefunden, wer sie ist.«

Bruns sah Schmitz an. Der zuckte mit den Schultern. Gut vernetzt war er ja, der Privatdetektiv.

»Sie heißt Petra Kleinert und arbeitet als Escort-Dame und Stripperin unter dem Namen Arielle.«

»Na schön. Ich sehe zwar im Moment keinen direkten Zusammenhang zwischen ihr und einem der beiden Verbrechen, die wir untersuchen, aber wir gehen der Sache mal nach. Vielen Dank.«

»Gerne, Herr Kommissar. Darf ich Sie dann kurz fragen, wie die Alibis der Künstler aussehen?«, wollte Frau Schimmelreiter wissen.

Bruns nickte Schmitz zu, der ein wenig im Notizblock blätterte und vorlas: »Professor Kollenbosch war in der Tatnacht von 18 Uhr bis zum nächsten Morgen mit seinen Schülern zusammen. Wobei Torben Niklas in seinem Zimmer im Bett lag und schlief, weil er Magen-Darm-Probleme hatte, Kirsten Wennehoff und Steffen Wüst die meiste Zeit in der Küche verbrachten, während Kollenbosch mit Jana Bichler im Wohnzimmer saß.«

»Ist ja praktisch. Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus«, sagte Behrens.

»So«, von Klockheim stand auf. »Sehen Sie, man kann auch nett miteinander umgehen. Wenn Sie mich nicht mehr brauchen, ich muss los.« Er zog seine Cousine an sich und drückte ihr zwei sehr innige Küsse auf. »Ruf mich an«, raunte er ihr zu, »dann treffen wir uns wieder in der Kupferkanne. Es war so schön mit dir.«

Hinter dem Rücken der beiden warfen sich Schmitz und Bruns irritierte Blicke zu. Ein derart vertrautes Verhältnis kannte der Kommissar von seinen Verwandten nicht. War der Familienzusammenhalt im Süden der Republik intimer?

»Gibt es schon einen Autopsiebericht?«, fragte Frau Schimmelreiter, nachdem von Klockheim weg war.

Bruns schüttelte den Kopf. »Dauert. Ein paar Laborbefunde stehen noch aus. Hören Sie, können wir uns darauf einigen, dass Sie uns unsere Arbeit im Mordfall ungestört machen lassen und sich auf das Auffinden des Gemäldes konzentrieren?«

»Aber klar.«

Das strahlende Lächeln, mit dem sie ihn bedachte, stimmte Bruns nicht zuversichtlich.

Später ging Kommissar Bruns in die Pathologie, um persönlich nachzufragen, wie weit Doktor Petersen mit der Leichenschau von Alina Roth war.

»Sie wissen ja, wie lange das mit dem Labor immer dauert«, meinte Petersen entschuldigend. Er trug einen weißen Kittel und OP-Hosen und sah aus wie ein weißer Riese, der Körper auf dem Untersuchungstisch wirkte sehr zierlich neben ihm, selbst unter dem Tuch.

»Was haben Sie bisher? Ich bin für alles dankbar.« Bruns massierte sich den Nasenrücken mit Daumen und Zeigefinger und bemühte sich, die Leiche weitgehend zu ignorieren. Es machte ihm nichts aus, Tote am Tatort zu inspizieren, das war sein Job. Aber hier, in den gekühlten und gekachelten Räumen der Pathologie, wo außer dem Surren der Kühlgeräte nicht viel zu hören war, fühlte er immer eine gewisse Beklemmung.

Doktor Petersen schlug das Laken über dem Opfer zurück und wies auf Alina Roths Hals.

»Was die Todesursache angeht: eindeutig Erwürgen, das ist klar. Frau Roth hat einiges chirurgisch an ihrem Aussehen verändern lassen.« Er zog das Tuch weiter nach unten. »Brustimplantate, Fettabsaugung an Bauch, Hüften und Oberschenkeln«, dann deutete er wieder auf das Gesicht, »Nasenkorrektur, Wangenimplantate, Lippenvergrößerung. Und wahrscheinlich auch noch ein Reshaping des Unterkieferknochens, um ein schmaleres Kinn zu bekommen.«

»Okay.« Bruns schluckte. »Und das alles mit 23 Jahren. Abgesehen von der Anzahl der Eingriffe hat das sicher eine Stange Geld gekostet.«

»Was die Privatliquidierung in der kosmetischen Chirurgie betrifft, bin ich nicht auf dem aktuellen Stand.« Petersen zuckte mit den Schultern. Dann nahm er vorsichtig Alina Roths Hand und deutete auf eine Stelle an der Unterseite ihres Unterarms. »Aber ich hätte noch was. Hier: punktuelle Verletzungen mit Blutung, entstanden um den Todeszeitpunkt.«

Bruns neigte den Kopf, näherte sich ein wenig und sah sich die kleinen Wunden genauer an. »Wer oder was hat das verursacht?«

»Ich vermute, die stammen von einer Schlange. Daher habe ich einen Abstrich gemacht und ins Labor geschickt.«

Das musste Bruns erst einmal sacken lassen. Mit einer derartigen Information hatte er nicht gerechnet. »Sonst noch was?«, fragte er.

»Ja. Höchstwahrscheinlich nahm Frau Roth Drogen. Ich habe eine Probe von einer weißen Substanz in ihrer Nase genommen und auch eine Blutprobe deswegen ins Labor geschickt. Spätestens morgen müssten die sich mit den Ergebnissen melden.«

Es fiel Bruns schwer, die Arbeit hinter sich zu lassen, als er sein Haus in Hörnum erreichte. Normalerweise bereitete es ihm keine Schwierigkeiten, abzuschalten. Schon die Autofahrt bis ganz hinunter ans südliche Ende der Insel entspannte ihn für gewöhnlich. Die Monotonie der Heidelandschaft, die Dünen und das Meer wirkten wie Balsam auf seine Augen und spätestens, wenn er das neu gebaute Reihenhaus betrat und als Erstes nach seinem Sohn Finn sah, war der Kommissar Privatmensch. An diesem Tag jedoch spukte das Gespräch mit Doktor Petersen in seinem Kopf herum. Was war nur mit Alina Roth geschehen? Warum veränderte eine junge Frau ihr Aussehen auf dramatische Weise? Wie unwohl musste man sich in seinem Körper fühlen, um sich immer wieder unters Messer zu legen und einem Schönheitsideal hinterherzuhecheln, das einem die Natur nicht mitgegeben hatte?

Er hob Finn aus dem Bettchen und küsste ihn. Dabei atmete er den köstlichen Duft der Babyhaut ein und spürte für einen Moment ein Glücksgefühl, das ein Lächeln auf seine sonst so ernsten Züge zauberte.

»Er ist gerade aufgewacht«, sagte Nele Bruns und legte einen Arm um ihren Mann. Finn schien nach ihr zu kommen: blaue Augen, blondes Haar und ein fröhliches Gemüt, worüber sich Bruns freute. Das mit den nächtlichen Schreikonzerten würde bestimmt auch bald nachlassen.

»Hast du Hunger? Ich habe Spaghetti gemacht, für mehr hatte ich keine Zeit.«

Während Bruns aß, hielt er seinen Sohn im Arm. Es schien, als würde die körperliche Nähe zu seinem Kind die Gedanken an Alina Roth endlich vertreiben. Er würde sich einen gemütlichen Abend mit der Familie machen, vielleicht später noch ein Glas Wein mit Nele auf der Couch trinken. Erst morgen musste er sich wieder mit Mord und Totschlag beschäftigen.

Sylter Sündenfall / Sylter Drachenstich

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