Читать книгу Sylter Drachenstich - Sophie Oliver - Страница 10
5. Thevs
ОглавлениеDie Frage, die sich Thevs bei seiner zweiten Begegnung mit Achim Kahlmann wieder einmal aufdrängte, war: Wie kam so ein Mann zu so einer Frau?
Alles an Kahlmann schrie nach Mittelmaß. Er war mittelgroß und mittelschwer und hatte mittelbraunes Haar, das sich zu einer Stirnglatze gelichtet hatte. Altersmäßig schätzte Thevs ihn auf Anfang fünfzig. Sein kurz gestutzter Vollbart wies einen überwiegenden Grauanteil auf. Warum ließen sich Männer, die auf dem Kopf noch keine grauen Haare hatten, einen grauen Bart stehen? Auch eine Frage, die Thevs bereits mehrfach gekommen war, der er aber in diesem Moment nicht nachgehen wollte.
Hinter einer randlosen, rechteckigen Brille blickten ihm verweinte Augen entgegen. Am Telefon hatte sich Kahlmann nicht weiter geäußert, was für eine Art von Hilfe er von Thevs erwartete. Hoffentlich kam er zügig zur Sache. Thevs hatte einen Termin oben in List und wollte pünktlich sein. Nur weil Kahlmann ihm leidgetan hatte, war er einverstanden gewesen, rasch vorbeizufahren.
Doch er bat ihn herein und ins Wohnzimmer, dessen komplette Schmalseite von einem Porträt der Verblichenen in Öl dominiert wurde. Im Regal und auf einer Anrichte standen zahlreiche Fotos von Jette, Thevs zählte auf die Schnelle zwölf Stück, die meisten in Schwarz-Weiß und mit Silberrahmen. Das einzige Foto zusammen mit Achim stammte von der Hochzeit der beiden, wobei der Bräutigam darauf nur im angeschnittenen Profil zu sehen war.
»Ich brauche Ihre Hilfe, Herr Behrens.« Achim Kahlmanns Stimme klang belegt. »Sie müssen herausfinden, wer meiner Frau das angetan hat.«
»Dafür ist die Polizei da. Kommissar Bruns wird so lange ermitteln, bis er den Mörder dingfest gemacht hat. Ich bin eigentlich nur gekommen, um Ihnen mein Beileid persönlich auszudrücken.«
»Ich bin mir sicher, der Kommissar ist ein fähiger Mann, aber nicht so gut wie Sie.«
Das schlechte Gewissen stieg in Thevs hoch. Wenn er tatsächlich so gut war, weshalb hatte er Frau Thienemeyer-Kahlmann nicht beschützt?
»Ich bitte Sie, Herr Behrens, das sind Sie mir schuldig. Sie haben sich doch schon über das Leben meiner Frau informiert, recherchiert, wissen, mit wem sie Umgang pflegte. Das ist ein meilenweiter Vorsprung, den die Polizei erst aufholen muss. Nutzen Sie ihn, um den Täter zu finden.«
Während Thevs noch überlegte, was er antworten sollte, setzte sein Gegenüber ein Argument obenauf. »Geld spielt keine Rolle. Alles, was ich will, ist, dass meiner Jette Gerechtigkeit widerfährt. Ich verdopple Ihren Abrechnungssatz.«
Seufzend gab Thevs nach. »Also gut. Die Polizei wird darüber nicht erfreut sein.«
»Das ist unwichtig. Ich danke Ihnen, Herr Behrens. Sie können sich auf meine vollste Unterstützung verlassen, egal, was es kostet. Die arme Jette, sie war so ein lieber Mensch. Ich weiß nicht, wie es ohne sie weitergehen soll, ich hatte doch nur sie.« Mit einem leisen Schluchzen nahm er die Brille ab und presste ein Taschentuch auf die Augen.
Thevs schluckte. Er stand auf und klopfte Herrn Kahlmann ein wenig ungelenk auf die Schulter. »Ihr Verlust tut mir sehr leid, Herr Kahlmann. Ich werde mich bemühen, zügig Resultate zu liefern. Bleiben Sie sitzen, bitte, ich finde allein hinaus.«
Als Thevs den Wagen startete, machte der Motor erneut Probleme. Er brauchte einige Versuche, bis er ansprang, was Thevs nicht zuversichtlich stimmte. Der Mechaniker hatte ihn vorgewarnt, dass nicht mehr allzu viel Hoffnung bestand. Es wurde wohl ein neues Auto fällig. Das wollte verdient werden, also sollte er sich ans Werk machen.
Unterwegs verschob er zunächst seinen Termin in List, der würde warten müssen. Dann rief er Hettie an und verabredete sich mit ihr in der Kupferkanne, ihrem Lieblingscafé auf Sylt. Das wusste er. In dem gemütlichen und unkonventionellen Künstlercafé war Hettie stets gut gelaunt, ein Umstand, den er nutzen wollte.
»Ich habe einen Tisch in der ersten Reihe ergattert«, begrüßte sie ihn begeistert. »Was für ein Ausblick, schauen Sie nur. Sonne, Meer, hach, ist doch schön hier.«
Sie saßen auf der weitläufigen, mit Natursteinen belegten Terrasse zwischen niedrigen grünen Büschen, knorrigen Kiefern und breiten Steinmauern. »Wussten Sie, dass dort drüben ein bronzezeitliches Hünengrab liegt?« Mit dem Zeigefinger wies sie auf einen flachen Hügel.
»Ja. Ich lebe auf Sylt. Jeder hier weiß das. Dafür ist die Kupferkanne bekannt.«
»Seien Sie nicht so abgebrüht. Wo ist Ihre kindliche Begeisterung?«
Er starrte sie verständnislos an. »Ich bin zweiundvierzig Jahre alt, Hettie, und meine Mutter behauptet immer, ich war schon als Fünfjähriger alt.«
»Unsinn«, sie lachte laut auf. »Bestimmt waren Sie ein entzückender Junge, mit Ihren blonden Haaren und den blauen Augen. Sie sind halt ein spröder Typ, trotzdem könnten Sie sich für Schönes begeistern.«
Sollte er ihr sagen, dass er nicht spröde, sondern lediglich normal war? Nicht jeder verfügte über das sonnige Gemüt einer Henriette Schimmelreiter. Mochte sie sich dieses lange Zeit bewahren. Nachdem ihr Hochstapler von einem Mann vor ein paar Jahren seinen spektakulären Abgang höchstwahrscheinlich inszeniert hatte, war es ohnehin bewundernswert, dass sie so gut drauf war und sich nicht in eine frustrierte Sitzengelassene verwandelt hatte. Bei ihrer zurückliegenden gemeinsamen Ermittlung war sie nur zögernd mit der Familiengeschichte herausgerückt – kein Wunder –, und seitdem fand Thevs die Bayerin umso interessanter. Sie war nicht der Typ Frau, auf den er stand, aber der Typ Mensch, den er gern um sich hatte und schätzte. Was den Grund für ihre Begeisterung anging – auf dem Gelände der Kupferkanne lagen fünf Grashügel, unter denen vor weiß Gott wie vielen Jahren jemand verbuddelt worden war. Er nahm sich vor, an seinem Enthusiasmus zu arbeiten.
»Äh, ja, apropos Schönes«, versuchte er eine elegante Überleitung, »aus diesem Grund wollte ich mit Ihnen reden. Hätten Sie nicht Lust auf eine Gesichtsbehandlung?«
Hettie stutzte kurz, dann weiteten sich ihre Augen, und sie grinste. Wie sie so vor ihm saß, mit ihren wilden rotblonden Locken und den Sommersprossen auf der Nase, die einen interessanten Kontrast zum schicken Poloshirt und dem beigen Rock bildeten, musste Thevs ihr zugestehen, dass sie eine Verschönerungsprozedur beileibe nicht nötig hatte. Mit ihren Mitte vierzig sah sie glatt zehn Jahre jünger aus.
»Wenn ich Sie richtig verstehe, sprechen Sie von ganz egal welcher Behandlung, Hauptsache in einem der Doktor-Thienemeyer-Institute?«
»Genau. Vorzugsweise im Haupthaus hier in Kampen.«
»Weshalb der Sinneswandel? Wir können gerne zusammen was trinken gehen, aber Sie machen einfach Urlaub und schnüffeln nirgends rum‹«, äffte sie ihn nach. »Waren das nicht Ihre Worte gestern?«
»Hm«, brummte er. »Gestern eben. Heute sieht die Sache anders aus.«
»Ach was? Haben Sie vielleicht einen neuen Auftrag, für den Sie meine Hilfe brauchen?« Ihr Eifer war unübersehbar. Fast hatte er ein schlechtes Gewissen, immerhin war er Profi und sie Touristin, keine ausgebildete Ermittlerin. Andererseits, wenn sie unbedingt helfen wollte …
»Herr Kahlmann möchte, dass ich den Mörder seiner Frau finde. Er scheint zu glauben, ich schaffe das schneller als die Polizei.«
»Ich bin dabei. Es ist zwar schön, hier Urlaub zu machen, aber ehrlich gesagt wird es mir sowieso langsam langweilig. Dezi muss morgen zurück nach Hamburg und kommt erst am Wochenende wieder. Ach fein, da hab ich was zu tun. Wir sollten nur aufpassen, Kommissar Bruns nicht in die Quere zu kommen.«
Bei ihrem ersten gemeinsamen Fall hatte Staatsanwalt von Klockheim persönlich dafür gesorgt, dass die Polizei mit Thevs und Hettie kooperierte, doch darauf konnten sie dieses Mal nicht bauen. Sie sollten besser den Ball flach halten.
Thevs zog einen Hochglanzprospekt aus der Tasche seiner Lederjacke. »Suchen Sie sich was aus. Ich setze es Herrn Kahlmann auf die Spesenabrechnung, Sie können also in die Vollen gehen.«
Man musste es dem Mordopfer lassen, das Angebot im Institut Doktor Thienemeyer war üppig. Hettie brauchte eine ganze Weile, um sich durch die verschiedenen Behandlungen, Massagen und Verjüngungskuren zu lesen.
»Gut«, befand sie schließlich, »ich vereinbare einen Termin. Was ist mit den Reitdamen? Soll ich da auch mal vorbeischnüffeln? Früher bin ich oft geritten, ich könnte so tun, als wollte ich in meinem Urlaub einen Ausritt buchen.«
Etwas skeptisch überlegte er, ob sich daraus irgendwelche Komplikationen ergeben könnten.
»Es ist ein Amazonencorps, Thevs. Ich wüsste nicht, was Sie für einen Grund erfinden könnten, um sich dort unauffällig umzuhören.«
»Einverstanden. Und ich sehe, was ich aus im Internet über das Opfer herausfinden kann.«
Hettie griff nach dem Kandiszucker und gab ein großes Stück davon in ihre Tasse. »Nachdem wir das geklärt haben, könnten wir uns eigentlich ein Bier bestellen, was meinen Sie? Ich gebe mir wirklich Mühe mit dem Friesentee, aber irgendwie hätte ich jetzt gerne was Substantielleres.«
»Es ist schön, dass Sie wieder hier sind, Hettie, habe ich Ihnen das schon gesagt?«