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3. Hettie

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Glücklich blinzelte Henriette Schimmelreiter in die Sonne. Im Vergleich zu ihrem letzten Aufenthalt auf Sylt war das Wetter um gefühlte tausend Prozent besser. Mochte daran liegen, dass es Juli war. Sie trug einen weißen Strohhut mit breiter Krempe und ein figurnah geschnittenes Sommerkleid aus blauer Seide mit kleinen cremefarbenen Blüten darauf und ging am Arm ihres Cousins Carl Decimus von Klockheim, seines Zeichens Staatsanwalt in Hamburg, über die Wiese hinter dem Muasem Hüs in Morsum, wo gleich das Ringreiterturnier starten würde. Zuvor hatten sie den Umzug beobachtet, bei dem die Ringreiterinnen auf ihren teils mit Blumen geschmückten Pferden eingeritten waren.

»Wie ich sehe, trägt man hier relativ legere Kleidung zu Pferdesportveranstaltungen«, stellte Hettie lakonisch fest. Sie hielt es lieber mit Oscar Wilde, der sagte: „You can never be overdressed or overeducated.“

»Ja, daran werde ich mich auch nie gewöhnen«, gab Carl Decimus zu. »Wie geht es Tante Philippa?«, wechselte er das Thema.

»Mutter hat beschlossen, Rieding zu renovieren.«

»Das ganze Schloss?«

Hettie nickte. »Raum für Raum, einen nach dem anderen. Mit ein Grund, weshalb ich deiner Einladung begeistert gefolgt bin.« Seit dem spurlosen Verschwinden ihres Mannes vor über zwei Jahren lebte Henriette Schimmelreiter, alleinstehende Mittvierzigerin mit zwei erwachsenen Söhnen, wieder auf dem elterlichen Anwesen im bayerischen Voralpenland, zumeist glücklich und zufrieden. Außer wenn ihre altersagile Mutter in Renovierungswahn verfiel.

»Und ich dachte, du kämst meinetwegen«, meinte ihr Cousin ein wenig enttäuscht. Es war ein offenes Geheimnis, dass er Hettie äußerst anziehend fand, schon seit der gemeinsamen Schulzeit. Das hatte auf Außenstehende eine befremdliche, manchmal sogar abstoßende Wirkung. Obwohl sie ein schönes Paar abgeben würden, das stand außer Frage: Hettie mit ihren wilden rotblonden Locken, den feinen Gesichtszügen und der bisweilen unangepassten Lebenseinstellung und der attraktive, stets gebräunte Carl Decimus, der extrem viel Wert auf sein gepflegtes Erscheinungsbild legte.

»Natürlich habe ich mich auch darauf gefreut, dich wiederzusehen, Dezi. Vor allem unter angenehmeren Umständen als voriges Mal.«

Mit einem unterdrückten Grinsen dachte Hettie an ihren zurückliegenden Sylt-Besuch, bei dem sie zusammen mit einem Privatdetektiv der Polizei beinahe den letzten Nerv geraubt hatte, weil sie sich in Mordermittlungen eingemischt hatten.

»Lass uns nicht davon sprechen. Komm, hier drüben gibt es Erfrischungen. Wie wäre es mit einem kalten Bier? Oder lieber was Prickelndes?«

»Bier, bitte.«

Carl Decimus, ebenfalls Mitte vierzig, mit kurz getrimmtem Bart und vollem Haar, dessen Braunton eine Nuance zu satt war, um die Farbe natürlich wirken zu lassen, stellte sich am Getränkeausschank an und Hettie beobachtete, wie er von einigen Damen interessiert gemustert wurde. Er trug eine rote Hose, dazu Hemd und Jackett und eine extrem aufrechte Körperhaltung. Bestimmt wäre so manche Turnierbesucherin einem Flirt mit Carl Decimus zugetan, doch er hatte nur Augen für Hettie. Zusammen steuerten sie einen der zahlreichen Biertische an und setzten sich.

»Das ist ein reiner Amazonenwettkampf heute«, erklärte er nach einem großen Schluck Bier. »Amazonen heißen die weiblichen Ringreiterinnen. Diese Sportart ist typisch für Sylt. Dabei herrscht strenge Geschlechtertrennung. Es gibt männliche Ringreiter, die sich auch nach Jahrzehnten noch nicht damit abgefunden haben, kein Monopol mehr auf den Sport zu haben.«

»Wie so oft im Leben«, warf Hettie ein.

»Jedenfalls treten heute unterschiedliche Amazonenvereine gegeneinander an. Es geht darum, in vollem Galopp vom Pferd aus mit einer hölzernen Lanze einen Ring aufzuspießen. Der hängt am sogenannten Galgen über der Reitbahn und ist nicht größer als ein Ehering.«

»Also nichts für Kurzsichtige.«

Soeben brachten sich die Teilnehmerinnen des ersten Teams in Stellung. Alle trugen ordenbehangene Blazer und Reithosen in den Farben ihres Clubs, manche auch Schärpen, was Hettie ein wenig an studentische Burschenschaften erinnerte.

Die Turnierbahn lag auf einer Wiese hinter dem Muasem Hüs. Hettie hatte Carl Decimus vorhin schon nach dem für bayerische Zungen schwer auszusprechenden Namen gefragt, und er hatte ihr erklärt, dass es sich dabei quasi um den Morsumer Dorfmittelpunkt handelte. Es war ein mehrflügeliges Haus aus rotem Backstein, Heimat der Morsumer Kulturfreunde und Ort zahlreicher Veranstaltungen. Auf einem Aushang hatte Hettie gelesen, dass es im Herbst sogar einen bayerischen Abend geben würde. Hier im hohen Norden. Wie exotisch.

Das Turnier an sich schien neben den Rahmenattraktionen beinahe zur Nebensache zu werden. Die meisten Besucher amüsierten sich an den Getränkeständen und beachteten die Reiterinnen kaum. Auch Hettie verlor rasch das Interesse an den anreitenden und zustechenden Damen, weil es im Publikum viel Interessanteres zu beobachten gab. Zum Beispiel die Flirtversuche der Dorfjugend. Oder den bedauernswerten Mitarbeiter eines Autohauses, der Werbung für ein ausgestelltes Cabriolet machte, in dem gerade ein völlig betrunkener Herr saß und sich weigerte, wieder auszusteigen. Plötzlich entdeckte Hettie in der Menge ein bekanntes Gesicht: einen Mann, der sich unauffällig in der Menge umsah. Sie sprang von ihrem Platz auf und winkte.

»Thevs! Hallo, Thevs, hier drüben!«

Ihre Bemühungen galten einem großen blonden Friesen, der zuerst stirnrunzelnd in ihre Richtung spähte, bis Erkennen seine Gesichtszüge erhellte und er mit ausgebreiteten Armen auf sie zukam.

»Wilde rote Haare und schicke Klamotten, wenn das mal nicht meine Co-Schnüfflerin aus den Bergen ist.« Er drückte Hettie kräftig an seine gut trainierte Brust und schob sie danach auf Armeslänge von sich. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, um ihn links und rechts auf die Wange zu küssen, dann strahlte sie ihn an.

»Wie geht es Ihnen denn?«, fragte er. »Gut sehen Sie aus.«

»Danke, ich kann nicht klagen. Schau mal, Dezi, wer hier ist, Thevs Behrens, mit dem ich bei meinem letzten Besuch zusammengearbeitet habe. Du erinnerst dich sicher.«

»Selbstredend. Wie könnte ich den Privatdetektiv Herrn Behrens vergessen?« Carl Decimus’ exakt gezupfte Augenbrauen hoben sich ironisch. »Ich nehme an, Sie sind beruflich hier?«

Thevs schüttelte den Kopf. »Nö, rein privat.«

Das nahm Hettie ihm keine Sekunde lang ab. »Klar. Sie stehen einfach auf Frauen in Reiterkluft, die versuchen, mit einem Stock einen Ring auffädeln.«

Er zwinkerte ihr zu. »Machen Sie sich etwa über den Sylter Nationalsport lustig? Das ist 'ne ernste Sache.«

»Gott bewahre, würde ich nie.«

Am Rande bekam Hettie die Lautsprecherdurchsage mit. Zum wiederholten Male rief der Turniersprecher eine Teilnehmerin namens Jette Thienemeyer-Kahlmann auf, die anscheinend in dieser Runde nicht erschienen war. Nun wurde aufgrund ihres Fehlens sogar der Wettkampf unterbrochen.

Thevs wirkte schlagartig nervös. »Ich muss dann. Wenn Sie noch länger auf der Insel sind, gehen wir mal einen Kaffee trinken.

Schon wollte er sich davonmachen, als sie einen Schrei bei den Pferdeanhängern hörten, die wie eine Art Wagenburg in wenigen Metern Entfernung geparkt waren. Alarmiert spurteten Carl Decimus und Thevs gleichzeitig los, Hettie hinterher. Sie rannten zu den geparkten Pferdeanhängern am Rande der Wiese. Eine kreidebleiche Amazone mit ausladenden Hüften stolperte ihnen entgegen und schrie aus vollem Hals. Dabei lag auf ihrem Gesicht ein Ausdruck absoluten Entsetzens. Hettie war sofort klar, dass etwas Schreckliches geschehen sein musste. Die Frau trug einen Reitblazer mit einer blau-weißen Schärpe schräg über die Schulter drapiert sowie knalleng sitzende schwarze Reiterhosen und auf Hochglanz polierte Stiefel. Eindeutig gehörte sie zu den Turnierteilnehmerinnen.

»Was ist passiert?«, fragte Carl Decimus die Frau, während er sie an den Schultern festhielt und zu sich umdrehte, damit sie ihn ansah. Doch sie brüllte hysterisch weiter. Hettie schritt ein und verpasste ihr kurzerhand eine Ohrfeige, um die arme Dame zur Räson zu bringen, was umgehend funktionierte. Bevor sie sich beschweren konnte, sagte Hettie forsch: »Das ist Staatsanwalt von Klockheim, und wir sind seine Kollegen. Erzählen Sie uns, was geschehen ist.«

Mit zitternder Hand wies die Frau auf einen der Pferdeanhänger. »Da hinten. Jette. Tot. Es ist grauenhaft!« Sie begann zu hyperventilieren. In diesem Moment kamen weitere Damen angelaufen, die dasselbe Reitoutfit trugen und ihre Kollegin zu beruhigen versuchten. Eine Blondine mit Kurzhaarschnitt legte ihr beide Hände auf die Schultern und versuchte sich an gemeinsamen Atemübungen. Eine zweite, ältere Frau stand neben den beiden und streichelte der Aufgeregten sanft über den Rücken. Zwischendrin spähten sie fragend umher, mit ratlosen Gesichtern. Schon näherten sich die ersten Schaulustigen.

»Beeilen wir uns, bevor die Meute hier ist«, flüsterte Carl Decimus und trat vor die Dame. »Was ist geschehen?«, fragte er sie mit geduldig samtiger Stimme, erhielt jedoch als Antwort nur wildes Kopfschütteln ohne eine weitere Erklärung.

»Sehen wir selber nach«, schlug Hettie vor. Zusammen mit Thevs und ihrem Cousin marschierte sie hinter den angezeigten Anhänger, wo ihnen ein grausiger Anblick ebenfalls die Sprache verschlug.

Auf dem Boden kauerte eine Frau, auch sie in Reiterkleidung. In ihrer Brust steckte eine der Ringstechlanzen, wie ein Speer. Hettie erinnerte das Szenario an ein Bild ihres Lieblingsmalers Franz von Stuck, das gruseligerweise Sterbende Amazone hieß. Doch während sich die Amazone auf Stucks Gemälde inmitten von Kampfgetümmel kniend auf einen großen roten Schild stützte und mit einer Hand an ihre blutende Brust griff – bei alledem splitterfasernackt –, bot die Tote einen weniger malerischen Anblick.

Ihr Körper wurde durch den Speer am Darniedersinken gehindert, der durch eine weiße Popelinbluse in die Brust eingedrungen war. Sie kniete etwas schief, mit zur Seite gekipptem Kopf, die weit aufgerissenen Augen starrten ins Leere. Auf dem schneeweißen Stoff hatte sich ein Blutfleck um die Eintrittsstelle gebildet, wie eine große dunkelrote Rose, und aus dem Mundwinkel troff ebenfalls Blut.

Thevs prüfte den Puls der Frau und schüttelte den Kopf. Carl Decimus wandte sich würgend ab.

»Sie kotzen aber jetzt nicht den Tatort voll, Herr Staatsanwalt«, rief Thevs ihm zu. »Sonst verpetze ich Sie bei Kommissar Bruns. Gehen Sie ein Stück zur Seite und rufen Sie ihn an. Die sollen sich beeilen und Flatterband zum Absperren mitbringen, ich weiß nicht, wie wir die Gaffer im Zaum halten sollen.«

Mit ausgebreiteten Armen trat Thevs sodann der Menge entgegen. »Kommen Sie nicht näher, bitte, seien Sie vernünftig. Hier gibt es nichts zu sehen.«

Hettie sah, wie ein junger Mann um die Anhänger schlich, sich von hinten heimlich nähern wollte, das Handy gezückt. Er verrenkte sich auf skurrile Weise, um ein Selfie von sich und der Toten zu machen.

»Hey, Sie da«, fuhr sie ihn an. »Was soll denn das? Haben Sie gar keinen Anstand?« Wütend stürmte sie auf ihn zu und stellte sich so vor ihn, dass seine Sicht auf den Tatort blockiert wurde. Thevs eilte ihr zu Hilfe und drängte den jungen Mann ab, dann legte er der zitternden Hettie einen Arm um die Schulter.

»Also manchmal frage ich mich wirklich …«, stieß sie hervor, musste dann aber abbrechen, weil sie sich außer Atem fühlte. Die Zunge klebte ihr am Gaumen und erst jetzt merkte sie, dass sie ebenfalls kurz davor war, zu hyperventilieren.

Carl Decimus kam mit ein paar Abdeckplanen gelaufen, die er gefunden hatte, und Hettie half ihm, sie zwischen den Anhängern zu spannen, um die Ermordete vor weiteren neugierigen Blicken zu schützen. Spuren hin oder her, die Ärmste sollte wenigstens nicht zum Social-Media-Gespenst werden.

»Die Polizei wird gleich hier sein«, zeigte sich Carl Decimus hoffnungsvoll, und wie zur Bestätigung hörte Hettie das Martinshorn. Noch nie hatte sie dieses Geräusch mehr begrüßt.

»Och nö, Sie wieder!« Kommissar Nanne Bruns machte zur Begrüßung ein perplexes Gesicht. Das wollte was heißen, denn normalerweise legte er die Mimik eines Pokerprofis an den Tag. Die Anwesenheit von Hettie, Thevs und Carl Decimus schien ihn stärker zu beunruhigen als der Anblick der dunkelgrünen Plastikplane, unter der die Tote kauerte.

Er kratzte sich am Kopf und seufzte. Sein Kollege, Polizeihauptmeister Schmitz, freute sich sichtlich, Hettie zu sehen, und strahlte sie an. Die konnte nicht anders, als den absolut umwerfend attraktiven jungen Beamten – ein Paradoxon, das sie bei ihrem letzten Fall bereits beschäftigt hatte – ebenfalls anzulächeln.

»Frau Schimmelreiter, sind Sie wieder auf Sylt? Wie lange ist es her, seit …«

»Nicht lange genug«, fiel Bruns dem Kollegen ins Wort. »Aber wenn ich kurz nachdenke, könnte ich Ihnen sogar die genaue Anzahl an Tagen nennen.«

Hettie und Bruns schüttelten Hände. »Soll das heißen, dass Sie mich vermissen, Herr Kommissar, oder dass Sie traumatisiert von unserer Zusammenarbeit sind?«, fragte sie.

»Das können Sie sich aussuchen. Was machen Sie eigentlich hier beim Turnier?«

»Mein Cousin wollte mir den traditionellen Inselsport nahebringen. Dass wir direkt in ein grausiges Ereignis hineinstolpern, damit haben wir natürlich nicht gerechnet. Wir waren die Ersten bei der Leiche. Ein schrecklicher Anblick …«

Nachdem er auch die Herren begrüßt hatte, wandte er sich an Carl Decimus. »Wer ist das Opfer?«

»Eine Jette, so nannte ihre hysterische Clubkollegin sie. Mehr weiß ich nicht.«

»Jette Thienemeyer-Kahlmann«, mischte sich Thevs ein.

»Sie kennen sie?«

»Ja. Nein. Nicht persönlich. Sie war mein Auftrag.«

Hettie rollte mit den Augen. »So viel dazu, Sie wären rein privat hier.«

»In meinem Job spielt Diskretion eine große Rolle, das wissen Sie doch.«

»Schon. Aber dazu gehört nicht, Freunde anzulügen. Obwohl, vielleicht sind wir keine Freunde mehr. Immerhin haben Sie alle meine Einladungen nach Bayern ignoriert.«

»Es passte zeitlich nie. Ich würde sofort …«

»Wenn ich die Herrschaften unterbrechen darf. Klären Sie Ihr Privatzeugs später, ja?« Streng sah der Kommissar zwischen Hettie und Thevs hin und her. Dabei fiel ihr auf, dass er noch übernächtigter und erschöpfter aussah als bei ihrer letzten Begegnung. Damals hatte es an seinem kleinen Sohn gelegen.

»Haben Sie noch immer schlaflose Nächte?«, fragte sie ihn mitfühlend.

Nanne Bruns zeigte erneut eine Regung im Gesicht, kurz zuckten seine Mundwinkel. »Meine Frau hat vor ein paar Wochen unser zweites Kind bekommen. Wieder einen Jungen.«

Das erklärte alles. Hettie war überzeugt davon, dass nicht nur Frauen unter Hormonschwankungen nach einer Geburt litten, sondern auch die Psyche der jungen Väter Achterbahn fuhr.

Sie drückte kurz seinen Arm und er seufzte.

»So. Also, lassen Sie mal sehen.« Bruns deutete auf die Plane und Schmitz hob eine Ecke an. Beide warfen einen Blick auf die Tote.

»Ich glaube, bezüglich der Todesursache müssen wir nicht auf Doktor Petersen warten«, sagte Schmitz in einem Anflug von Sarkasmus. »Wer hat sie gefunden?«

Carl Decimus deutete auf die hüftige Frau, die noch immer von den anderen Reiterinnen getröstet wurde, und Schmitz holte sie heran.

»Wie ist Ihr Name?«

Bevor sie antwortete, schnäuzte sie laut und wischte die verlaufene Wimperntusche weg. Ihre kleinen dunklen Augen waren verquollen. Auch die Kolleginnen im Hintergrund waren mittlerweile blass um die Nasen und wirkten geschockt. Stumm sahen sie zu ihnen herüber. »Maren Krüger. Jette und ich sind Reiterkolleginnen im Amazonencorps 2006.«

»Sie waren also befreundet?«

»Nein, auf keinen Fall.« Sie schüttelte nachdrücklich den Kopf und Schmitz blickte überrascht von seinem Notizblock auf.

»Nicht? Der Herr Staatsanwalt berichtete uns, Sie wären vollkommen außer sich gewesen.«

»Ja klar, ich habe sie schließlich gefunden. Ich stolpere nicht jeden Tag über Leute mit einer Lanze in der Brust. Das sieht absolut schrecklich aus. Aber befreundet waren wir weiß Gott nicht. Ehrlich gesagt kenne ich niemanden, der Jette als Freundin bezeichnen würde.« Maren Krüger begann wieder, schneller zu atmen, und ihre Augen schossen von Schmitz zu Bruns zu Hettie und wieder zurück. Ein neuer Hysterieausbruch stand zu befürchten.

»Gut, Frau Krüger, geben Sie dem Kollegen Ihre Adresse und dann fahren Sie nach Hause und erholen sich erst mal von dem Schock. Wir werden sicher noch Fragen an Sie haben und kommen später damit auf Sie zu.«

Sobald einige Beamte den Tatort großräumig mit Flatterband absteckten und ein Untersuchungszelt über der Toten errichteten, trollten sich die Leute nach und nach. Das Turnier wurde abgebrochen, und Hettie fielen einige Besucher auf, die deswegen schimpften. Diese Reaktion fand sie ebenso unverständlich wie den unverschämten Selfie-Knipser. Was musste passieren, damit die Menschen verständnisvoll reagierten? Hatten die Meckerer nicht mitbekommen, dass ein Mensch ermordet worden war, oder maßen sie dem Ringreiten allen Ernstes eine höhere Priorität bei?

Der Pathologe, Doktor Holger Petersen, ein Hüne von einem Mann, traf ein und schlüpfte geschwind ins Zelt, nachdem er sich in einen weißen Ganzkörperplastikoverall gezwängt hatte, der ihm an Armen und Beinen ein ganzes Stück zu kurz war.

»So, Herr Behrens.« Nun zückte auch Bruns seinen Notizblock und brachte sich vor Thevs in Stellung wie ein Zeitungsreporter, der auf eine gute Story lauert. »Dann lassen Sie mal hören.«

»Ein Herr Achim Kahlmann engagierte mich vor ein paar Tagen, weil er befürchtete, dass seiner Frau Gefahr droht. Ich sollte quasi ihren Bodyguard spielen, hier auf dem Turnier und ohne dass sie davon wusste.«

Bruns zog eine Augenbraue hoch, was tiefe Falten auf seine Stirn warf. Er war erst Mitte dreißig, aber der permanente Schlafmangel hinterließ Zeichen vorzeitiger Hautalterung.

»Na, das haben Sie wohl nicht so gut hingekriegt, was?«

Verlegen schob Thevs die Hände in die Hosentaschen. Er trug eine Chino und ein Poloshirt, was Hettie bei ihm eindeutig für Tarnkleidung hielt, um bei dem Turnier nicht aufzufallen, denn normalerweise war er mit seiner Lederjacke verwachsen. »Ich hatte auf dem Weg hierher eine Autopanne. Musste den Wagen stehen lassen, mir ein Taxi rufen und kam deswegen mit reichlich Verspätung hier an. Dann traf ich Frau Schimmelreiter und Herrn von Klockheim. Frau Thienemeyer-Kahlmann sah ich erst, als sie schon tot war.«

»Warum dachte ihr Mann, dass ihr Gefahr droht?«

»Das müssen Sie ihn selbst fragen.«

»Gut.« Bruns deutete mit dem Kugelschreiber auf Hettie. »Und Sie? Immer zur Stelle, wenn es eine Leiche gibt, nicht wahr?«

»Herr Kommissar«, protestierte Carl Decimus. »Ich muss doch sehr bitten. Meine Cousine ist hier zur Sommerfrische. Auf meine Einladung. Ich wollte ihr die traditionelle Sylter Sportart des Ringreitens nahebringen, wir sind rein zufällig hier.«

»Wenn Sie das sagen. Für den Moment habe ich keine weiteren Fragen, ansonsten melde ich mich.«

Er schien erleichtert zu sein, ihnen den Rücken zukehren zu dürfen, und Carl Decimus murmelte etwas von „Charmebolzen“ in Kommissar Bruns’ Richtung, als dieser davonmarschierte.

»Äh, wohin fahren Sie jetzt?«, fragte Thevs.

»Nach Kampen«, antwortete Carl Decimus knapp.

»Sollen wir Sie mitnehmen?«, bot Hettie an. »Dezi fährt Sie gerne nach Westerland, falls Sie zurück ins Büro wollen. Wir sind ja am anderen Ende der Insel und bis Sie hier ein Taxi auftun, das kann dauern.«

Hocherfreut willigte Thevs ein und erzählte den beiden auf dem Weg zum Auto von seinem Auftraggeber.

»Herr Kahlmann scheint ein ziemlich besorgter Zeitgenosse zu sein. Er meinte, seine Gattin wäre eine extrem erfolgreiche Geschäftsfrau mit vielen Neidern und gerade in letzter Zeit hätte sie die ein oder andere Hass-Mail bekommen.«

Carl Decimus schloss seinen Range Rover auf und Thevs kletterte brav auf den Rücksitz, während Hettie vorne einstieg.

»Und deswegen engagiert er gleich einen Detektiv?«, wunderte sie sich. »Meinen Sie, er hat Ihnen die Wahrheit gesagt, oder vermutete er eher, dass seine Frau eine Affäre hatte und wollte es nicht zugeben? Ich könnte mich ein wenig im Reitstall umhören, ganz unverbindlich natürlich.«

»Nein!« Das kam unisono von beiden Herren.

»Dann nicht. Was war sie denn für eine Art Geschäftsfrau?«

Sie drehte sich zu Thevs um und sah ihn fragend an.

»Frau Thienemeyer-Kahlmann gehörten vier Kosmetiksalons, dazu war sie gerade dabei, ihre eigene Kosmetiklinie auf den Markt zu bringen. Glaubt man ihrem Mann, war sie so was wie die Judith Williams von Sylt.«

Hettie entfuhr ein ungläubiges Schnauben. »Natürlich! Ich könnte mich in den Kosmetiksalons umsehen, die Angestellten aushorchen.«

»Hettie, das werden Sie jetzt nicht hören wollen«, Thevs lehnte sich vor und umfasste mit den Händen die Kopfstützen der Vordersitze, »aber Sie werden bitte schön rein gar nichts machen. Es wird nicht so laufen wie bei Ihrem letzten Besuch. Mein Auftrag mit Herrn Kahlmann ist durch, ich gebe ihm heute meinen Bericht und das war es in der Sache. Wir können gerne zusammen was trinken gehen, doch Sie machen einfach Urlaub und schnüffeln nirgends rum.«

»Da kann ich Herrn Behrens nur zustimmen, Hettie.«

Sie drehte sich wieder nach vorne. »Ist das euer letztes Wort?«

»Hundertprozentig.«

Sylter Drachenstich

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