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Sylt im Sommer 1. Inken
ОглавлениеKosmetikunternehmerin Jette Thienemeyer-Kahlmann nahm den 60-ml-Braunglastiegel in die eine und einen 60-ml-Tiegel aus opakem, weißem Glas die andere Hand und sah zwischen beiden hin und her.
»Inakzeptabel, alle zwei«, lautete ihr fachmännisches Urteil. »Für Doktor Thienemeyers Sylter Naturkosmetik gehen die gar nicht. Was ist mit diesen neuen Dingern mit dem Beutel drin und der Pumpe? Die zylinderförmigen. Warum nehmen wir nicht so was? Das sieht hochwertiger aus.«
Die Frage galt Inken Berger, Jettes persönlicher Assistentin, die daraufhin hektisch in einem Katalog blätterte, der vor ihr auf dem Tisch lag. Ungeduldig trommelte Jette mit einem Kugelschreiber auf ihrem Notizblock herum, bis Inken gefunden hatte, wonach sie suchte.
»Sie meinen die Vakuum-Pumpspender für Cremes?«, las sie vor. »Das günstigste Modell davon ist doppelt so teuer wie die Glastiegel.«
»Na und? Wen interessiert das? Ist doch nur ein Durchlaufposten, den wir auf den Endpreis aufschlagen.« Jette griff über den Tisch und schnappte sich den Katalog. »Wir nehmen die besten, die doppelwandigen Airless-Spender mit 50 Milliliter, füllen 40 Milliliter Creme rein und verkaufen das Ganze dann für zweihundert Euro das Stück. Für den Kosmetiklaunch erwarte ich eine vorbildlich organisierte Pressekampagne, Frau Berger, dass mir da nichts schiefläuft.«
Inken notierte eifrig mit.
»Und sagen Sie Herrn Dornsten, es bleibt dabei, dass ich nur die Hälfte des vereinbarten Preises zahle für … ach, er weiß schon wofür.«
Damit erhob sich Jette, warf mit einer eleganten Handbewegung ihr langes Haar über eine Schulter zurück, dass die frisch geföhnten Extensions in allen Blond- und Brauntönen schimmerten. Bronde nannte man dieses teintschmeichelnde Farbspiel verschiedener Nuancen, für das sich Jette Thienemeyer-Kahlmann stundenlangen Frisörsitzungen unterzog, die Inken regelmäßig für sie buchen musste.
Inken selbst kam sich dagegen mit ihren naturblonden Wellen, die heute mal wieder besonders frizzy waren, reichlich schäbig vor. Als würde sie das spüren, meinte Jette lakonisch: »Wirklich, Frau Berger, ich hatte Ihnen bereits mehrfach nahegelegt, endlich eine Keratinbehandlung machen zu lassen. Das würde wesentlich gepflegter aussehen als –«, mit einer resignierten Geste wies sie auf Inkens Frisur und vollendete den Satz nicht, als gäbe es kein Wort, das abfällig genug wäre. »Den Salon John Kaiser kann ich wärmstens empfehlen.«
Das mochte schon sein, jedoch lag der Frisörsalon von Herrn Kaiser nicht in Inkens Preisklasse.
»In unserer Branche legen wir Wert auf ein kultiviertes Aussehen, das schließt Sie mit ein, Frau Berger. Wir können nicht Schönheit predigen und Nachlässigkeit leben, verstehen Sie?«
Damit verließ Jette Thienemeyer-Kahlmann das Büro. Zurück blieb eine den Tränen nahe Inken Berger. Erstens hieß es Wasser predigen und Wein trinken und zweitens war es wohl eine Frechheit, ihr Aussehen als nachlässig zu bezeichnen.
Das Telefon am Empfang klingelte und Inken putzte sich rasch die Nase, um nicht schniefig zu klingen.
»Institut Doktor Thienemeyer«, meldete sie sich. Doktor Thienemeyer war Jettes Vater gewesen. Jedes Mal, wenn sie dessen Namen aussprach, fragte sich Inken, wie ihre Chefin es geschafft hatte, den akademischen Titel des Vaters als Marke für ihre Kosmetiksalons zweckentfremden zu dürfen. Diese Frau kannte keine Grenzen und so benahm sie sich auch.
Das Flaggschiff von Jette Thienemeyer-Kahlmanns Kosmetikimperium lag im schicken Kampen direkt an der Whiskymeile. Hinter dem Empfangstisch, an dem Inken sich aufhielt, hing eine überdimensionale Schwarz-Weiß-Fotografie der Eigentümerin, davor, auf der weißen Marmoroberfläche des Tresens, stand ein kleines, silbergerahmtes Bild von Herrn Doktor Thienemeyer, für jeden Kunden gut sichtbar, und daneben ein üppiges Arrangement aus schneeweißen Hortensien und Eukalyptus.
Es war ein repräsentativer Eingangsbereich, mit einer zwei Quadratmeter großen Schmutzfangmatte mit dem Logo des Instituts darauf und einer Sitzecke, Espressomaschine und Zeitschriftenständer.
Bei all ihrer Garstigkeit musste Inken der Chefin doch attestieren, dass sie die geborene Geschäftsfrau war. Mit der Devise Nicht kleckern, sondern klotzen war sie auf Sylt mittlerweile die Nummer eins unter den Kosmetiksalonbetreibern. Die Konkurrenz hasste Jette Thienemeyer-Kahlmann, erschauerte aber gleichzeitig vor Ehrfurcht.
Inken sah Klarissa, die Rezeptionistin, vom Parkplatz herüberrennen. Sie war spät dran.
»Tut mir leid, dass du auf mich warten musstest«, entschuldigte sie sich auch prompt. »Und vielen Dank. Ich musste Tim noch in den Kindergarten bringen, das hat ein wenig gedauert.«
»Kein Problem. Es kam nur ein Anruf rein. Wenn du jetzt hier bist, gehe ich nach oben in mein Büro. Die Therapeutinnen stehen alle in den Startlöchern und hier kommt der Zehn-Uhr-Termin«, raunte sie Klarissa zu, als eine Dame fortgeschrittenen Alters mit sichtbar getunten Wangen das Institut betrat.
»Frau Hoppe, schön, Sie zu sehen. Silke wird Sie gleich abholen, nehmen Sie doch einen Augenblick Platz, bitte.« Klarissa wies auf die Designer-Sitzmöbel aus weißem Leder, bevor sie zum Hörer griff und der Kollegin Bescheid sagte.
Dann hielt sie Inken sanft fest, um sie am Weggehen zu hindern. »Ich weiß nicht, wie ich es dir sagen soll.« Sichtlich verlegen rang die Rezeptionistin um Worte. »Die Chefin hat mir eine WhatsApp geschickt, eben als ich aus dem Auto stieg. Ich soll dir mitteilen, sie hat um zwölf einen Termin bei John für dich vereinbart und erwartet, dass du nachmittags mit«, sie druckste herum, »gemachten Haaren zur Arbeit kommst.«
»Und was hat sie tatsächlich geschrieben?«
»Dass du nachmittags nicht mehr mit deinem Vogelnest auf dem Kopf hier auftauchen sollst, sonst kannst du dir einen neuen Job suchen.«
»Diese Ziege.«
Klarissa nickte mitleidig. »Ich weiß. Sie ist ein Miststück. Letzte Woche hat sie gedroht mich rauszuwerfen, wenn ich nicht bis nächsten Monat mindestens fünf Kilo abgespeckt habe.«
»Das darf sie nicht!«
»Wir wissen beide, dass sie das herzlich wenig interessiert. Genauso wenig, wie du den Besuch bei Sylts Promifrisör bezahlst.«
Darüber machte Inken sich tatsächlich Sorgen.
Klarissa griff kurzerhand nach der weißen Spardose, die als Trinkgeldkasse auf dem Tresen stand und öffnete sie.
»Hier«, sie zog ein Bündel Scheine heraus, »das dürfte mindestens die Hälfte ausmachen.«
»Aber ich kann euch nicht euer Trinkgeld nehmen«, protestierte Inken.
»Klar, wenn du es nicht nimmst, räumt es die Chefin aus. Und so kommt es wenigstens einem guten Zweck zu.«
»Danke dir.«
»Alles gut. Erzähl mir hinterher, wie es war. Einen Besuch bei John Kaiser werde ich mir in hundert Jahren nicht leisten können, also genieß es.«