Читать книгу Inner Circle - Wie Eis und Asche - Sophie Oliver - Страница 5
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Оглавление»Das wäre unerhört! Sensationell!« In Jamies Stimme lag eine Begeisterung, die Anne verloren geglaubt hatte. »Wenn wir das realisieren könnten …«
Aufgeregt sprang er von seinem Platz auf und lief zum Fenster. Er sah für einen Moment hinaus in den Garten, als ob er sich sammeln müsste, dann drehte er sich ruckartig um und vervollständigte seinen Satz: »Wenn wir das realisieren könnten, würde es sogar den Inner Circle in den Schatten stellen!«
Wie ein leichter Anflug von Übelkeit meldete sich das schlechte Gewissen in Annes Magen. Seit fünf Jahren machte sie sich Vorwürfe, weil sie Jamie geraten hatte, den Inner Circle zu verkaufen. Sie redete sich ein, es wäre ihre Schuld, dass ihr Mann rastlos nach einer neuen Aufgabe suchte, unzufrieden mit sämtlichen Geschäftsideen, die ihm vorgeschlagen wurden, weil er dem Netzwerk seines ehemaligen Online-Clubs nachhing. Fünf Jahre schon gehörte der Inner Circle Juri Ashkani.
Was Anne selbst betraf, bedauerte sie das nicht, hatte sie ihren Ehemann so doch ganz für sich, ohne ständiges Telefonklingeln und Terminstress. Die vergangenen Jahre waren wie ein Traum gewesen. Sie hatten die Welt bereist, gemeinsam und frei. Wäre es nach Anne gegangen, hätte dieses Nomadenleben ewig andauern können. Es tat ihnen gut. Jamie trug sein schwarzes Haar nun länger, und Annes honigfarbene Wellen waren von unzähligen hellen Strähnen durchzogen. Mit gebräunter Haut und diesem Strahlen in seinen wasserblauen Augen sah Jamie jünger aus als vor fünf Jahren, und Anne hoffte, bei ihr verhielt es sich ebenso.
Jedoch lagen Jamies Wurzeln in Großbritannien. Irgendwann hatte er Heimweh bekommen, nach gemäßigtem Klima und den sozialen Strukturen, in denen er groß geworden war. Sie versuchte das zu verstehen. Wahrscheinlich sehnte sich jeder, der ein Zuhause hatte, über kurz oder lang danach.
Zwar wusste Anne nicht, wie sich so etwas anfühlte, aber sie respektierte es.
Wenigstens war Jamie damit einverstanden gewesen, sich London behutsam wieder anzunähern, anstatt direkt zwei Tickets nach Heathrow zu buchen. Nachdem sie beide, oder vielmehr er, in Singapur beschlossen hatte, es wäre genug mit dem Herumreisen, waren sie zuerst nach Irland geflogen. Ein ausgedehnter Aufenthalt bei Jamies Familie hatte sie auf die Rückkehr nach England eingestimmt. Die Wiederanpassung an das starre Klassensystem der Engländer war Anne schwergefallen. Zu süß hatte die Freiheit geschmeckt. Aber sie war nun nicht mehr allein, sondern Teil einer Familie – etwas, wonach sie sich zeitlebens gesehnt hatte. Deshalb nahm sie gern Rücksicht auf die Wünsche ihres Mannes.
Ohne Jamie hätte ihr das Reisen ohnehin keinen Spaß gemacht. Ihre gemeinsamen Erlebnisse waren wunderschöne Erinnerungen geworden, die Anne hütete wie einen Schatz. Wann immer sie die Augen schloss, konnte sie Meereswellen hören und den Duft von Jamies sonnengebräunter Haut riechen. Im Londoner Regenwetter, besonders im herbstlichen, wärmten diese Gedanken wie kleine Sonnenstrahlen.
Bereits kurz nachdem sie ein hübsches Stadthaus bezogen hatten, war Jamie zufällig in einer Bar seinem alten Studienfreund Philip Carr über den Weg gelaufen. Bei zahlreichen Gläsern Draft-Bier war eine Idee entstanden. Und jetzt saßen sie in Philips Wohnzimmer in Norfolk und bauten Luftschlösser. Gemma, Philips Frau kam herein und stellte ein Tablett mit Tee und Schokoplätzchen auf den Wohnzimmertisch. Bevor sie wieder hinausging, zwinkerte sie Anne zu.
»Können wir es denn realisieren?«, fragte Jamie.
Philip goss Tee ein und verteilte die Tassen. »Was den technischen Ablauf betrifft, wäre es möglich. Der finanzielle Aufwand steht auf einem anderen Blatt. Ja, wir könnten es realisieren, es würde allerdings richtig teuer werden.«
»Lass das Finanzielle meine Sorge sein. Wie ist die rechtliche Situation?«
»Freunde machen wir uns damit nicht, das wissen wir beide. Einige Leute werden bestimmt etwas dagegen haben. Aber falls wir es durchziehen wollen, kann uns niemand hindern.«
»Wie lange wird es dauern?«
Anne wollte wirklich aufmerksam bleiben und Jamie bei seinem neuen Vorhaben unterstützen. Sie hätte sich nur gewünscht, er würde ein anderes Projekt verwirklichen, irgendeines, nicht dieses. Trotzdem würde sie sich aktiv daran beteiligen. Dummerweise setzte Philip gerade jetzt zu einem ausführlichen Monolog über Softwarefragen an. Sie konnte es nicht verhindern, ihre Gedanken schweiften ab. Nun blickte sie hinaus in den Garten. Er war weitläufig, ohne Zaun, und ging in flaches Marschland über, welches schließlich ins Meer mündete. Zuerst hatte Anne sich in Norfolk am Ende der Welt gefühlt. Die Fahrt von London hatte eine Ewigkeit gedauert und alles, was sie seit ihrer Ankunft gesehen hatten, waren weite Ebenen, hohes Gras, Wasser und Vögel. Doch je länger sie hier war, desto ansprechender fand sie es. Die herrliche Luft erinnerte sie an Cornwall, die Landschaft hingegen sah anders aus, weniger spektakulär, zahmer, aber dennoch gefällig.
Philips Haus war auf eine gemütliche Art und Weise alt. Der Unterschied zur vornehmen Patina der Harkdale-Immobilien hätte größer nicht sein können. Obwohl sich auch dieses Anwesen seit Jahrhunderten in Familienbesitz befand, war es nicht Respekt einflößend aristokratisch, sondern ein heimeliges Nest, in dem sich sicherlich schon viele Carr-Generationen wohlgefühlt hatten. Neben der Sitzgruppe stand ein altes Klavier. Anne konnte der Versuchung nur schwer widerstehen, den Deckel hochzuklappen. Was würde sie spielen? Debussy vielleicht? Oder Schuberts Forelle, ein fröhliches Lied, das dem kleinen Arthur Carr gefallen könnte? Nach ihrer Reise um den Globus war dieses Haus auf dem Land wie eine mütterliche Umarmung. Noch angenehmer wäre es, wenn ihr Besuch rein privat gewesen wäre. Aber sie musste sich langsam damit abfinden, dass die zweisame Zeit mit Jamie vorüber war und ein neuer Lebensabschnitt begann. Wie bei allen ihren Karriereschritten hatte Anne auch bei diesem vor, ihr Bestes zu geben, deshalb beendete sie ihren sehnsüchtigen Rundumblick in der heilen Welt und konzentrierte sich wieder auf Philips Ausführungen.
»Wir sollten es so lange wie möglich geheim halten«, meinte Jamie gerade. »Was denkst du, Anne?«
»Auf jeden Fall. Es wäre falsch, bereits vorab Ankündigungen zu schalten und die Werbetrommel zu rühren. Ich würde vorschlagen, dass wir mit einem Paukenschlag online gehen.«