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4. Feenbaums Wunder

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Als er Johanna nach diesem Verhör in ihrer Zelle besucht, scheint sich etwas in ihr gewandelt zu haben. Traurig und mit verzerrtem Mund kauert sie neben ihrem Bett und sieht ihn an. Auch sie wird wohl jemanden zum Reden brauchen, denkt er, oder? Er will schon kehrtmachen und nachdenken, wie er Johannas Herz erobern könnte – noch hat er sie nicht lange genug beobachtet –, doch da geschieht es. Wieder wird sie von einem der Soldaten angegriffen. Johanna schreit. Gerade noch rechtzeitig kann er zu Hilfe kommen, packt den Kerl am Kragen und wirft ihn gegen die Steinwand. In dem Moment erscheint der Earl von Warwick. Wallend seine Erscheinung. Er poltert, redet wütend auf den jungen Krieger ein. Johanna wischt sich mit zitternden Fingern über das Gesicht.

»Ich kann gar nicht die Beinkleider abnehmen«, sagt sie leise, »sie kommen immer zu nahe.«

Der Earl nickt.

»Das wird nicht mehr vorkommen!«, meint er und mahnt den Kerl und die anderen Soldaten, die ihn umringen, sich zu beherrschen.

Dann verlässt er die Räume des Kerkers, gefolgt von der geknickten Schar. Loyseleur ist nun wieder mit Johanna allein.

»Brauchst du denn nie jemanden zum Reden?«, will er da wissen. Er sieht die Jungfrau an, ein knochiges Bündel mit breitem Gesicht und trotzig malmenden Kieferknochen. Seine Ehrlichkeit scheint Johanna zu erreichen.

»Ich rede mit Erzengel Michael«, entgegnet sie leise und in ihrem Gesicht schimmert etwas auf.

»Hat er denn wirklich keine Haare?«, fragt Loyseleur neugierig.

Johanna lächelt.

»Das habe ich nicht gesagt!«

Er kniet sich neben ihr nieder, lüpft ein wenig die Kutte. Kalt ist der Kerkerboden. Wieder reicht er ihr ein Stück Brot. Und diesmal, so geschwächt und verletzlich wie Johanna wohl sein mag, greift sie nach danach. Beißt ab. Beginnt knirschend zu kauen.

»Die Großmutter erzählte mir erstmals vom heiligen Erzengel«, sagt Johanna dann und plötzlich leuchtet etwas in ihren Augen auf, »und dann sah ich ihn, wie sein Gewand wallte!«

Begeisterung scheint da in ihr aufzusteigen.

Domrémy heißt das Dorf, in dem sie aufwuchs, hat man ihm erzählt. Dreihundert Einwohner und ein Grenzort.

»Warum willst du in den Krieg ziehen? Ist das Leben nicht schön, wie es ist?«, fragt er.

Johanna seufzt.

»Ihr habt nicht gesehen, was ich gesehen habe. Als junges Mädchen.«

»Was?«, bohrt er nach, während sie weiter an den Brotresten kaut.

Johanna seufzt.

»Die Übergriffe an den Grenzen. ›Wir halten zu den Armagnacs und nicht zu den Burgundern‹, hat meine Großmutter immer gesagt. ›Warum, Großmutter?‹, habe ich sie gefragt. ›Einmal, da kamen die und haben einen aus dem Dorf schwer verwundet. Ihm den Kopf abgeschlagen‹, hat sie erwidert.«

»Und das hat gereicht?«, will er zweifelnd wissen.

»Ich habe meine Großmutter geliebt«, sagt Johanna.

Er betrachtet sie lang. Zart und knochig ist ihr Leib. Ständig kneift sie die Augen zusammen, sodass sich kleine Fältchen bilden. Manchmal verwandelt sie sich in eine düstere Frau. Risse im Gefäß ihres Gesagten.

Und nein: Sie ist schön, denkt er. Sie hat eine unsichtbare Narbe im Gesicht, die sich Gott nennt. Tag für Tag ruft sie die Namen der Engel. Das Gesicht ist durch die Kerbe Gott zerschnitten. Sie bringt Veränderungen, die man kaum noch sehen kann. Nur die Engel, nur sie wissen davon, sagt er sich.

»Johanna«, sagt die Großmutter, »ich werde bald gehen!«

Ihre Augen sind ein Gebirgstal, durch das ein Schauer streift, vielleicht in Form des Windes.

Ihr Antlitz wird immer fahler, während es draußen grünt und blüht. Das macht Johanna wütend.

»Das will ich nicht!«, sagt Johanna.

»Ich ist ein sinnloses Wort!«, entgegnet die Großmutter.

»Wieso?«

»Du solltest es durch Gott ersetzen.«

Die Großmutter umarmt sie, und sofort ist wieder ein Friede in Johanna.

Friede, das ist die Wärme eines Vogelnestes, denkt Johanna. Dass sie Körper sei, denkt sie. Nichts als Körper, der atmen muss. Aber in dem auch alles zu geschehen hat, was notwendig ist im Moment.

»Sei ruhig!«, sagt die Großmutter und ihre Worte sind Tau. Regen, der auf verdorrtes Gras fällt.

»Bitte behalte mich in deinen Armen!«, flüstert sie. »Und weine nicht. Pflück keine Tränenblumen!«

Seit diesem Zeitpunkt weint Johanna heimlich. Immer, wenn es besonders schön ist, oder wenn es besonders traurig ist. Weil die Seligkeit mit dem Schmerz verwoben ist. Und sie hofft auf einen neuen Sommer. Und dass mit ihm noch einmal die Stimme Gottes zu hören ist, immer wieder. Und die Sonne, so wie jetzt: Sie brennt und brennt und Johanna glaubt, dass die Erde unter ihr bersten will. So niedrig fliegen die Vögel, auch sie haben kaum noch Kraft! Genauso wenig wie Johanna, die erwachsen wird und sich nach der Stimme Gottes sehnt, mehr denn je. Doch sie hat die Suche nicht aufgegeben, will sein wie die Vögel, die im Winter fortfliegen und doch wiederkehren. Sie sammeln woanders Kraft. Und dann hofft Johanna und wird genügsam. Nichts gilt es mehr zu schaffen. Nur Trägheit und Sehnsucht nach Schlaf beherrschen dann ihre Tage. Tiere suchen Schatten, die im Laufe des Tages wachsen und schwinden wie alles. Gegen Abend zieht eine dicke schwere Wolkenwand vom Süden her über den Himmel, Gewicht, Gegengewicht. So vergeht die Zeit. Ihre Augen sind schwer, sind Blei und alle Vögel kriechen in ihre Nester. Dann, abends, meist der Blitz, der Donner, er reißt den Himmel auf.

Es wird nicht Nacht, es erbleicht bloß der Tag, sagt sich Johanna und nur die Spannung der Sonne macht die Zeit lang. Alles dehnt sich. Die Bäume ertragen den Rahmen ihrer Rinde nicht, wollen wachsen, wenn ein Gewitter kommt.

Sie knarzen und ächzen im Wind. Der zerrt an den Zäunen. Auch die fühlen sich gefesselt an ihre Wurzeln. Wenn man nur leicht wäre, denkt Johanna, fortfliegen könnte mit dem Wind! Und hin zu Gott.

Heiligtum aber reicht hinaus über jeglichen Raum, das muss die Jungfrau jetzt lernen.

Und man muss es erwarten können.

»Oh Heiland, reiß den Himmel auf!«, singt Johanna. Wie böse Geister jagen die Winde dahin. Luftpferde, feinstes Getier, denkt Johanna. Und auch in diesen Tagen sucht sie die Zuflucht beim Feenbaum, der in seinen Ästen immer noch die Erinnerung ihrer Kindheit birgt. Sie beschützt. So sitzt Johanna eines Tages wieder bei ihm. Sie ist keine dreizehn. Und da ruft er nach ihr! Endlich! Mit einem Mal spricht Gott wieder. Er tönt, lodert und zerreißt ihr dabei fast die Ohren. Von der rechten Seite kommt die Stimme, aus der Richtung der Kirche. Helligkeit. Ein Heil ist sie, die Stimme. So, als würden Vater und Mutter gemeinsam sprechen! Dreimal ruft sie nach ihr.

»Johanna!«

Johanna steht auf.

»Was ist das?«, ruft sie laut aus. »Bist du es wirklich wieder, lieber Gott?«

Ein loderndes Lachen ertönt.

»Führe dich gut!«, tönt es zur Antwort.

Johanna schüttelt den Kopf.

»Was bedeutet das?«, fragt sie.

»Bewahre deine Unschuld.«

»Und wie?«

»Innerlich!«

»Was heißt das?«

»Sei Jungfrau und Kind!«

Johanna streift rastlos umher, sucht nach einem Gesicht zu der Ferne, die klingt. Mit einem Mal kommt ihr Gott so anders vor. Immer war er so weit weg. Und jetzt ist er viel zu nahe, sie kann ihn kaum erkennen. Das Ferne verändert sich oft in der Nähe, denkt Johanna und es ist, als hätte der Blitz den Apfelbaum ihrer Kindheit gespalten. Wieder spricht das Heilige mit ihr. Johanna möchte zu Boden sinken, sie möchte sterben.

»Hör mich an!«, ruft da der Gott in ihr, und erschöpft lauscht Johanna.

»Ja!«

»Es gibt ein paar wichtige Dinge! Zum Beispiel: Liebe weckt Liebe.«

»Bist du sicher? Gott?«

»Ja! Manchmal muss man sie im Waldschatten suchen, findet sie nur unter dichten Blättern. Es ist anstrengend. Aber es lohnt sich, sie zu finden.«

»Und wieder zu verlieren«, murmelt Johanna, die an den Tod des Vogels denkt und an die sterbende Großmutter.

»Wir wissen nur, was wir hatten, wenn wir es verlieren!«, sagt Gott.

In ihr ringt ein Schmerz um die Übermacht.

»Warum tut das immer so weh?«

Gott schweigt kurz, dann braust ein Orkan auf. Es ist, als lache er schallend.

»Wer geduldig ist, dem geht es immer gut. Aber erst später. Nicht in dieser Welt.«

Johanna nickt. Das weiß sie bereits.

»Aber was soll ich dann tun?«

»Warten!«, sagt Gott. »Warten, bis wir zusammen sein können. Weißt du, Freude und Trauer, die sind ein Ehepaar, das ein Gemach teilt. Schläft die eine, dann ist die andere ruhig. Aber wehe, eine weckt den andere!«

Gott scheint zu lachen.

»Und jetzt?«

Gott schweigt. Johanna möchte fliegen wie die Vögel, lachen und Gott preisen, oder sie möchte ein Baum sein, aber nur im Frühjahr, nicht des grünen Gewandes beraubt. Die silbernen Strahlen des Himmels sollen herunterkommen und ganz nah auf ihrem Haupt landen als Seil, als Verbindung! Johanna will tanzen wie eine Elfe und aus der Vogelperspektive das Moos und die Goldfische betrachten, die weit unter ihr schwimmen, auf dem Grund des Teichs. Und die Schlieren aus Schlamm zählen, die Blätter und Algen. Ja, von nichts bedeckt als von Luft und Gott! Wie schön der Wind die herrlichsten Formationen aus den Wolken formt. Wie sie Bilder darstellen, Umrisse aus Engeln sind, wieder zerrinnen, manchmal auch als dunkle Berge, Schreine und Kapellen hinter der rot glühenden Sonne. So will sie immer sein, an den Himmel gelehnt! Dass sogar zu Beginn des Winters noch die Fichten grünen, mutet Johanna seltsam an, und sieht darin Gottes Macht. Und wenn der Schnee kommt, beugen sie auch ihre Äste nie ganz seiner Kraft! Sie tanzen mit Gottes Kraft.

Mit einem Mal ist es, als habe ihr Übermut Gott wieder verjagt. Sie will sich schon umwenden und heimwärts laufen, da kommt sie noch einmal, die Stimme:

»Du wirst in den Krieg ziehen, Johanna! Also lerne zu kämpfen!«, rauscht es in ihr. Dann Stille.

Kämpfen also, hat Gott gesagt und von jetzt an tanzt sie nicht nur mit den Mädchen, sondern spielt auch mit den Knaben. Tollt mit ihnen in den Nadelbüschen umher. Auf den Fußspitzen gehen die Knaben schon bald, haben Angst vor ihr. Denn Johanna kann wüten. Wieder wird es Frühling und Johanna lernt im Spiel mit den Knaben zu ringen. Oft tollt man umher auf den Dachböden, wo es dämmrig ist. Spinngewebe hängen magisch da. Johanna betrachtet die Gesichtchen der Knaben und fühlt sich stark. Und dann kommt wieder der Sommer. Viel Arbeit wartet dann am Feld, Johannas Körper schmerzt. Die Geranien wachsen im Garten und immer wieder muss Johanna sie schneiden. Doch Johanna will Blumentöpfe zerschmettern und sich mit den Scherben aufritzen, weil sie sieht, dass die Großmutter bald sterben wird.

Die Erwachsenen indes erschrecken über Johannas Schönheit, über die Tiefe, die seit dem Tag am Feenbaum, an dem Gott mit ihr sprach, in ihren Augen wohnt. Gepaart mit einer Art fremden Wildheit, die man kaum kennt. Sie kann sich über die Knaben werfen, ihnen Gesicht und Schläfen versehren, erzählt man sich im Dorf. Ja, Johanna ist eine Kämpferin.

»Rühr mich nicht an!«, sagt eines Tages ein Knabe.

Er ist arm, er hat Knochenarme. Seine Augen sind fremdartig, fast sieht er aus wie eine Pflanze. Was tut Johanna da? Sie schlägt ihn. So erzählt man es sich jedenfalls im Dorf. Und dass sie gesagt hätte, diese Idee käme von Gott! So eine störrische kleine Magd! Und auch die Eltern berichten, dass Johanna hin und wieder tobt. Vor allem, wenn man sie frisieren will. Denn abends ist Johannas Haar widerspenstig. Sie hat zu viel gerauft. In einem Knoten muss es schließlich gefesselt werden. Das mag das Kind nicht.

Doch damit nicht genug. Johanna kann auch sehr rechthaberisch sein.

»Das Abendgebet!«, ruft Johanna eines Abends aus, als sie dem Priester des Dorfes auf der Straße begegnet.

»Ja?«, meint der und sieht das Mädchen fragend an.

»Sie haben die Glocke nicht geläutet!«, sagt das Mädchen stramm.

»Ehrlich?«

»Ja! Sonst kehre ich nämlich immerzu um, Herr Pfarrer, und lauf zu ihnen.«

Der Pfarrer lächelt. Nun muss er sich sogar von einem Kind ausschelten lassen! Seltsam, denkt er und betrachtet die kleine Johanna.

»Ich schenke Euch Wolle, wenn Ihr in Zukunft Eurer Pflicht besser nachkommen wollt!«, verspricht Johanna. Erstaunt betrachtet er die junge Frau. In der Kirche liegt sie manchmal mit dem Gesicht zum Boden gewandt da, seltsam verdreht. Die Augen auf das Bild des heiligen Christus gerichtet.

In dieser Zeit entdeckt Johanna ihre Magie. Sie hat mit der Großmutter zu tun und mit dem Feenbaum und Gottes Stimme. Doch sie ist ein Geheimnis. Eines, das es vor den Freunden und der Familie zu verbergen gilt. Johanna wallfahrtet zur Kathedrale, gemeinsam mit ihrer Schwester Catherine. Kerzen nehmen sie mit, entzünden sie unter dem Gnadenbild. Das liebt Johanna, sie liebt es ganz besonders. Doch sie muss ihre Stimme schützen und auch die Heiligen, von denen die Großmutter ihr immer erzählt hat. So berichtet sie niemandem davon. Gott kann immer nur heimlich sein, weiß Johanna inzwischen Bescheid. Und auch die Heiligen. Drei besuchen sie jetzt mit ihrer Stimmen: Barbara, Katharina und Margaretha. Von ihnen hat schon die Großmutter erzählt und sie sind Johanna inzwischen sehr lieb. Aber auch über ihre Stimmen wird geschwiegen. Süß ist der Duft, der Johanna entgegenstrebt, wenn sie an diesen besonderen Tagen beim Feenbaum sitzt und nachdenkt. Sie riecht schon die Engel, die jetzt noch Vorhänge sind. Später werden sie realer und realer sein. Irgendwann wird Johanna sagen: »Ich sah sie mit den Augen meines Körpers, so deutlich, wie ich euch sehe!« Das wird sie denen sagen, die sie anklagen. Jetzt aber wartet Johanna, denn die Stimmen sind noch weit weg und offenbaren sich nur langsam. Zu unklar und unreif ist alles noch, zu unfrei die kleine Johanna. Sie muss erst erwachsen werden, muss kämpfen lernen und reden in der Sprache der Menschen. Johanna aber ist ungeduldig, wenn sie auf die Stimme Gottes wartet.

Im darauffolgenden Winter stirbt die Großmutter, in Johanna lebt sie weiter. Und Johanna tut es dem Wind und dem Winter gleich, lernt von ihm, wie sie von Gott lernt: Wind, Sturm, Schneeweiß sind jetzt ihre heimlichen Namen. Und Winterstille liegt da, wo der Wind steht, es ist ein Raum in Johanna. Da geht die Jungfrau jetzt hin, betet und singt. Das Gebet des Winters ist der nächste Weg zum Licht, denkt Johanna.

»Alles wird wieder heil, lieber Gott, oder?«

Und manchmal kommt eine Antwort:

»Ja!«

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