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1. Kindheit

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Man hat sie angeklagt. Der Ketzerei beschuldigt. So wird es ihm erzählt. Sofort ist er Feuer und Flamme für den Fall. Wer mag sie sein, diese Johanna? Dieses Mädchen mit der trotzigen Schönheit, das sich als Heilige ausgibt, als wäre so etwas selbstverständlich? »Könnt Ihr euch vorstellen, euch als einer ihrer Verbündeten auszugeben?«, fragt der Bischof und sein Unterkinn labbert dabei. Loyseleur verachtet ihn insgeheim. Der Bischof widert ihn an wie all die Gelehrten, die so tun, als läge ihnen etwas an der Religion, und die doch in Wahrheit nur ihre Machtspiele spielen. Doch er nickt. Nimmt das Angebot an. Er will das Geheimnis dieser Frau herausfinden, die kaum älter ist als ein Kind. Und ja: Die Kindheit scheint dieser Johanna wichtig zu sein. Von einem Feenbaum ist bei dem Verhör die Rede und von einem Heiratsversprechen, das sie Gott gegeben haben mag, dort, am Fuße des Baumes. Man dringt also in Johanna in den ersten Verhandlungen. Fragt sie aus.

Das Mädchen hält sich wacker. Bietet den Gelehrten die Stirn in ihren flammenden Reden, die von Engeln beflügelt zu sein scheinen. Dann verfrachtet man Johanna in ihr Gefängnis. Der Bischof wirft Loyseleur einen verstohlenen Blick zu. Es ist sein Signal, und er versteht. Er folgt der Magd, lautlos wie ein Schatten. Folgt ihr in den Turm, in dem man sie gefangen halten wird. Eng ist dieser und sie würde darin bestimmt zum Nachdenken kommen, oder? Das Verlies hat einen Durchmesser von in etwa neun Meter sechzig. Ähnelt einer Bleibe, die sie laut Faktenlage einmal in der Burg Chinon, dem Turm von Coudray, gehabt haben mag, damals, beim Thronanwärter. Dennoch: Hier wird es anders sein für Johanna, das weiß er. Hier schläft die Angst überall in den Räumen. Das einzige Möbelstück. Er folgt dem Mädchen unauffällig und betrachtet die Szenerie. Johanna, deren Blick spröde um sich stößt, wird in den Raum gebracht, brutal. Da: ihr Bett. In Fußeisen wird sie nun auch an einen Holzbalken gekettet, gleich neben ihrer Liegestatt. Dennoch: Weniger streng als eigentlich vorgesehen gestaltet man die Haft, weiß er Bescheid. Denn zu Beginn hatte der Bischof einen Schmied für einen eisernen Käfig bestellt. Was mag in ihn gefahren sein, dass er es sich doch anders überlegt hat? Loyseleur weiß es nicht. Betrachtet das widerspenstige Mädchen, an dem er mehr und mehr Gefallen gewinnt. Es würde nicht leicht werden, ihr Herz zu gewinnen.

Still, stumm und schön liegt es da, das Tal der Maas. Als würde es schlafen. Johanna liebt es, das Tal ihrer Kindheit. Denn hier ist ihr Beginnen. Und sie liebt auch den Feenbaum. Wie sie singen und tanzen zu dessen Füßen, die Kinder aus dem Dorf! So beginnt Johannas Freude, so beginnt sie früh.

Die Kinder breiten ihre Tücher aus, um unter dem Baum ihr Mahl im Freien einzunehmen. Die Welt ist erfüllt von Sonnenschein. Blumenkränze darf Johanna flechten. Das ist eine ihrer frühesten Erinnerungen. Und dann, freilich: Das Zusammensein mit der Großmutter. Johanna singt mit den Kindern. Sie singt öfter als sie tanzt. Aber sie tanzt auch. Das Leben ist schön. Denn es gibt die Großmutter. Die Großmutter – und wie sie mit dem Brot umgeht. Ins Feuer werden die Krümel geworfen, die übrig bleiben.

»Damit die Hauskobolde sie essen und zufrieden sind, oder?«, sagt die Großmutter.

Sie sagt: »Was der Herrgott einem gibt, muss man schätzen!«

Sie lacht und ihr Gesicht ist das weiße Gewand eines Engels. Die Großmutter ist magisch, findet Johanna. Ihr Leben hat sie in einem Glasschrank verstaut, in dem sich allerlei Krimskrams entdecken lässt. Damit klimpert sie ein wenig, betrachtet ihre Ketten. Das klingt kitzelig und hell und beruhigt sie und die Kinder um sie herum. So finden sie zu sich und auch Großmutter tut das. Und dieses Erklingen hilft, denn das Leben schlägt immer wieder zu. Eines Tages findet Johanna einen Vogel reglos auf dem Boden liegen. Sein Gefieder ist überzogen von Reif. Sie bringt ihn der Großmutter.

»Er ist tot«, sagt diese, »die Kälte hat ihn tot gemacht, Johanna!«

Erbost blickt das Kind sie an. Nichts kehrt wieder, begreift es da. Groß ist der Schmerz. Kahle Baumkronen wie knochige Finger im Dunkel der Äste. Das Gemurmel der Welt wird mit einem Mal laut in Johanna.

»Darf man denn töten?«, fragt sie.

Die Großmutter nickt.

»Wenn’s dem Menschen nützt, ja!«

Johanna überlegt. Die Kühe fallen ihr ein, die sie alle lieben und die dennoch vom Vater geschlachtet werden.

»Wenn man es isst – dann?«, will sie wissen.

»Ja«, kommt es zur Antwort.

»Und sonst?«

»Gewiss nicht.«

Johanna betrachtet die Großmutter und beschließt, fortan von ihr zu lernen. Klug scheint sie zu sein. Ja: Die Großmutter ist ihre eigene Heilerin, sie braucht keinen Arzt. Im Wald pflückt sie die Kräutlein, die Freunde für sie sind. Manchmal erzählte die Großmutter ein Märchen:

»Da in der Senke des Moos- oder Wolfsgraben zur Zeit der Schneeschmelze, aber auch bei Regen, einige Gerinnsel zusammentreffen, vermutete man lange Zeit, dass es auch eine kleine Ansiedlung von Elfen und Kobolden in dieser Region gegeben haben musste. Auf jeden Fall kann man heute noch seltsame Pflanzen und Kräuter an diesem Standort nachweisen. Die Schwarze Nieswurz, auch Schneerose genannt, blüht dort jeden Sommer und im Frühjahr ist das ganze Gebiet mit Bärlauch übersät. In früheren Zeiten soll hier einmal eine pflanzenkundige Frau heilkräftige Kräuter gesammelt haben. Sorgfältig, so geht die Sage, pflückte sie Kraut um Kraut und legte dieses behutsam in ihren Korb, nicht ohne jedoch immer wieder kurz Rast zu machen und dabei zu schluchzen und zu klagen. Dieses Weinen und Klagen rührte einige der anwesenden Elfen so sehr, dass sie sich dem Weiblein zu erkennen gaben. Da erzählte die Frau von ihrem Leid: Ihre Enkeltochter, so berichtete sie, sei sterbenskrank, und nur das sogenannte ›Königskraut‹ könne ihr helfen. Sofort steckten die kleinen Elfen ihre blond gelockten Köpfchen zusammen und begannen zu tuscheln. Und mit einem Mal hatte die Elfenkönigin eine Idee: Man würde einfach die Kobolde, die in der nächstgelegenen Siedlung lebten, um Hilfe bitten! Diese erwiesen sich auch gleich als kooperativ und pflückten das Königskraut. Bereits kurz darauf trank das Mädchen einen Tee mit dem besagten magischen Kraut – und schwupp! – war es geheilt!«

So lautet eine der Geschichten der Großmutter. Johanna liebt diese Geschichten. Und am liebsten hat sie es, wenn die Großmutter sie am Fluss erzählt. So sitzt man gern am Ufer, lauscht dem Plätschern. So stürzen Wellen über Klippen, schäumen auf, zerstoßen sich an Klüften und wirbeln dann wieder glücklich ineinander. Alles hat Augen: der Äther, die Ähren. Alles singt. Die Grillen sind tönende Glocken am Morgen, Johanna öffnet ihr Ohr und schickt stumm Stoßgebete, denn sie hat keinen Mund vor Staunen. Wird im Gehen Wurzeln und Erz. Auftreten, das ist Leben! Das ist ihr Land! Warum würgen und kauen am eigenen Kram der Gedanken? Dachlos sein unterm Feenbaum! Und sich zur Erde ducken, sich mit den Wurzeln unterhalten, sich dann entleiben lassen wie Gras, wenn Wind kommt. So wie die Großmutter es tut, oder? Stänglein spielt Johanna, spielt Gras, und sie gesteht sich die Schwachheit zu. Gott ist ihre Fackel. Man wechselt nicht Sonne! Es gibt bloß einen für den Umgang! Johanna hat Augenbrennen und Angst, wenn sie an ihn denkt, aber sie liebt ihn, denn die Großmutter erzählt immer so schön von Gott, wenn sie wie jetzt am Wasser sitzen. Traulich ist es. Johanna nimmt Gott als Haarsträhne zwischen die Lippen und sagt sich: »Alles ist gut!«

Die Brotkrümchen werden ins Wasser geworfen, sodass sie die Oberfläche spicken. Für die Wassernixen, weiß Johanna Bescheid. Und freilich auch ein bisschen für die anderen Wesen, die im Wasser hausen. Da schießen auch gleich sämtliche Fische empor, so schau doch! Sie alle hasten und nesteln dabei, suchen, schnappen nach den Krumen und sind zufrieden. Johanna ist begeistert. Silbrig glitzern die Weißfische, sind fremde Kristalle im All des Wassers, in dessen All-Einheit.

»Lass mich Same sein!«, sagt Johanna dann heimlich zu Gott und lauscht der Einweihung des Wassers. Nagende Sehnsucht. Geburtsvorgang in ihr: Verdunkelung.

»Du musst immer mit mir reden, dich mit mir teilen. Mitteilen heißt, wir teilen das Leid entzwei!«, sagt die Großmutter, während sie das Brot in Krumen bricht und Johanna dann auch welche reicht.

»Danke, Großmutter!«, nickt Johanna, »ja.«

Manchmal nimmt sie in den Armen der Großmutter dann auch der Schlaf mit. In ihr macht es »Ach«, denn es ist schön und traurig zugleich. Wie das Leben. Das weiß Johanna schon jetzt. Denn Christus hat für sie geblutet, so erzählt der Dorfpfarrer. Und Blut ist kein Wasser, auch wenn es fließt wie der Fluss. Der Dorfpfarrer begeistert Johanna schon früh. Sie liebt die Umzüge. Das Regnen der Blüten, der Veilchen- und Rosenblätter, und die Honoratioren der Priester, das Schimmern ihrer kostbaren Ornate. Und wie sich dabei das gemeine Landvolk freut, lächelt. Da sind die kecken Bäuerinnen mit ihren golden und silbern bestickten Hauben, sie plaudern, plappern, leiern.

Und abends, nach der Predigt, scheint es, als funkelten die Sterne immer besonders hell.

»Sag, Großmutter, sieht jeder die Sterne?«, fragt Johanna.

»Ja. Die bleiben immer gleich!«

»Ehrlich?«

Die Großmutter nickt. Weich fallen die Falten an der Stirn der Großmutter. Wie Bettlaken vor dem Schlafengehen zurechtgestreichelt, weiß Johanna Bescheid.

»Überall hat’s denselben Mond, dieselben Sterne!«, fährt diese da fort.

»Ja?«

»Ja. Und das immer.«

Joanna denkt weiter nach.

»Nur wir werden und vergehen?«

»Ja, Kind. Nur wir!«

Für einen Moment ist es still.

»Aber auch das ist nicht schlimm!«, fügt die Großmutter hinzu und zieht sie zärtlich an sich. Johanna seufzt. Die Großmutter ist einfach gelassen. In ihr schläft die Zufriedenheit. Die Großmutter hilft ihr durch den Tag, der magisch ist, denn Johanna ist noch klein. So sind Johannas Tage getaktet. Hinterm Haus gibt es Zelte aus Stroh, die haben keine Türen. Sind Hütten ohne Eingang. Johanna spielt darin. Oder sie streift zum Fluss, starrt auf die Wasseroberfläche, fixiert die Schilfinsel am Ende des Sees, ohne sie wirklich zu sehen, oft stundenlang. Irgendwann änderte sich das Licht, Wolken ziehen vorbei. Das Schauen ist eine Vertrautheit. Im Licht können sogar Steine rosig aufblühen wie Blumen, denkt sie. So wächst Johanna heran.

Wer bin ich, fragt sie sich manchmal. Alles verschwimmt dann vor ihren Augen, wird riesig. Es gibt keine Vertrautheiten mehr, zu schnell verändert sich alles, das Leben rast und sie ist unfähig, es anzuhalten. Wie ein Mantel scheint etwas über der Welt der Dinge zu liegen und sie weiß selbst nicht recht, wie sie damit umgehen soll. Eine Art Rinde. Auch sie selbst bildet eine Kruste aus, seit sie vom Tod gelernt hat, aber das gefällt ihr nicht. Zuflucht birgt der Seelenbaum, Zuflucht bergen allein die Falten der Großmutter. Diese Kerben, die Gebirgsschluchten sind. Wie faltig die Großmutter ist!

»Immer wieder kommt ein Frühling«, sagt die Großmutter, und das macht Johanna hoffen. Und sie hat recht: Gott ist dann buttergelbes Sonnenlicht. Man kann gar nicht traurig sein, denkt Johanna, überall lauert das Glück. Nicht wahr. Pfirsichfarben die Wolken, ein Zittern am Himmel, ein Frieden.

Frühling und alles so, dicht als sähe die Welt sich zum ersten Mal im Spiegel. Die Knospen an den Bäumen springen stets erneut auf! Wenn der Baum blüht, erinnerte er an rosarot gefärbte Wolken, findet Johanna. Der Puls hinter der Stirn ist dann wie ein Hammer, durchzuckt sie, scheint sie zu zersprengen vor Freude, während sie sich innerlich zurückbiegen muss. In allem spürt Johanna das Beginnen, schon als Kind. Und in ihm den Tod. Sie spürt auch, wie sie alt wird. Noch glänzen die Umrisse des Sees im frühen Licht. Es ist der See ihrer Kindheit. Aber dass das nicht so bleiben wird, weiß Johanna schon.

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